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LATEINAMERIKA/1511: Kolumbien - Friedensgespräche auf dem Tiefpunkt? (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2015

Kolumbien: Friedensgespräche auf dem Tiefpunkt?

von Constanza Vieira


Bild: © Kolumbianisches Präsidialamt/Omar Nieto

Der Journalist Juan Gossaín (links) und der Chefunterhändler der Regierung, Humberto de la Calle
Bild: © Kolumbianisches Präsidialamt/Omar Nieto

BOGOTÁ (IPS) - In Kolumbien ist der Eindruck entstanden, dass sich der Friedensprozess zwischen der Regierung und den linken FARC-Rebellen dem Ende zuneigt. Als Erfolg oder Misserfolg, wie der Chefunterhändler der Regierung, Humberto de la Calle, bekannt gab.

Der eher medienscheue de la Calle, ein ehemaliger kolumbianischer Vizepräsident (1994-1996), hatte einem alten Bekannten, dem Journalisten Juan Gossaín, ein Interview gegeben. Beide kennen sich aus der Zeit, als sie für den Radiosender RCN gearbeitet hatten, den Gossaín bis 2010 26 Jahre lang geleitet hatte.

De la Calle räumte gegenüber Gossaín die Möglichkeit ein, dass die Regierung den Verhandlungstisch verlassen könnte. "Ich weise die FARC mit aller Deutlichkeit darauf hin: Das könnte ein Ende haben. Der Tag wird kommen, an dem sie uns nicht mehr am Verhandlungstisch in Havanna antreffen."

"Den Kolumbianern geht langsam die Geduld aus. Das ist eine reale Gefahr", betonte er. Gleichwohl fügte er hinzu, dass es immer noch möglich sei, den Prozess zum Abschluss zu bringen. Ein Abkommen sei nach wie vor realisierbar, "weil wir uns, was die Verhandlung der wichtigsten Themen angeht, auf der Zielgeraden befinden."

Der Chefunterhändler wies ferner darauf hin, dass der Friedensprozess mehr Unterstützung außerhalb als innerhalb des Landes erfahren habe. Staatspräsident Juan Manuel Santos hatte die Friedensgespräche gleich nach seinem Amtsantritt im August 2010 heimlich begonnen und vorangetrieben.

Zwei Jahre später, 2012, wurden die offiziellen Friedensgespräche in Oslo gestartet. Kuba und Norwegen fungieren seither als Garanten, Chile und Venezuela als Faszilitatoren. Alle bisherigen Verhandlungsrunden, derzeit läuft die 38., fanden in der kubanischen Hauptstadt Havanna statt.


Erst die Hälfte der wichtigsten Verhandlungspunkte geklärt

Nach dem Motto 'Nichts ist vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist', konnte in 32 Monaten der Gespräche in drei von sechs Kernpunkten der Friedensagenda eine vorläufige Übereinstimmung erzielt werden. Dabei handelt es sich um Forderungen nach einer integralen landwirtschaftlichen Entwicklung, nach einer demokratischen Öffnung und der Umstellung des Drogenanbaus auf alternative Agrarerzeugnisse.

Ungeklärt sind Fragen über den Umgang mit dem Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigungen sowie im Zusammenhang mit der Demobilisierung der Kämpfer und den Mechanismen zur Umsetzung eines entsprechenden Friedensabkommens.

Trotz des laufenden Friedensprozesses geht der seit Jahrzehnten währende Bürgerkrieg weiter, und es scheint, als ob der Vorsatz in Vergessenheit geraten ist, der besagt, dass nichts, was auf dem Schlachtfeld passiert, Einfluss auf die Gespräche nehmen darf.

Die Kämpfe intensivierten sich sogar. Abgesehen davon, dass sie Menschenleben fordern und schwere Umweltschäden verursachen, scheint die militärische Maxime wieder an Boden zu gewinnen. In den letzten 15 Jahren hatten sich die Bürger Kolumbiens mehrheitlich für eine friedliche Lösung des Bürgerkriegs ausgesprochen.

Auf die Frage des Gallup-Instituts im vergangen Juni 'Was glauben Sie, ist die beste Option zur Lösung des Guerilla Problems in Kolumbien?' antwortete jedoch nur noch die Hälfte der interviewten Kolumbianer, dass solange verhandelt werden sollte, bis ein Friedensabkommen erreicht sei.

Ähnliche Abstimmungspatts hatte es bereits im Juli 2003, im März 2004, im Oktober 2010 und im Juni 2011 gegeben. Doch bei allen anderen Gelegenheiten mit Ausnahme des Zeitraums Dezember 2001 bis Juli 2003, als Umfrageteilnehmer mehrheitlich erklärten, dass die Rebellen niemals in der Lage sein würden, die Macht in Kolumbien zu ergreifen, hatte sich die Bevölkerung mehrheitlich für eine politische Lösung stark gemacht.

Somit ist die Äußerung von de la Calle, wonach der Skeptizismus der Menschen, was die Möglichkeiten der Friedensgespräche angeht, nie größer gewesen sei als heute, mit Vorsicht zu genießen. Die angebliche "Hoffnungslosigkeit" der Bevölkerung, von der der Chefunterhändler spricht, ist wie schon so oft lediglich eine Episode.

"Wir müssen die Ehrlichkeit besitzen, den Kolumbianern zu sagen, dass sich der Friedensprozess seit Beginn der Verhandlungen an seinem tiefsten Punkt befindet", so de la Calle. Und warum? Es geht um Gerechtigkeit. "Das ist der schwierigste Teil der Verhandlungen. Die FARC muss die Verantwortung für ihre Taten übernehmen. Der Staat natürlich auch."


Widersprüche

Dem Politiker zufolge wird die kolumbianische Regierung nur dann einer Feuerpause zustimmen, wenn sich die höchsten FARC-Kommandanten dazu bereit erklären, die Verantwortung für die von ihnen begangenen Menschenrechtsverbrechen zu übernehmen und eine Zeitlang ins Gefängnis zu gehen. Er sicherte ihnen moderate Haftbedingungen zu. So würden die Rebellenführer weder hinter Gittern gehalten noch müssten sie Sträflingskleidung tragen. De la Calle räumte allerdings ein, dass sich die FARC bereit erklärt habe, solchen Auflagen im Sinne der Gerechtigkeit zuzustimmen.

Stellt sich die Frage nach dem eigentlichen Problem. Im Februar hatte der Generalstaatsanwalt bekannt gegeben, die Ermittlungen gegen 14.000 Geschäftsleute, Viehzüchter, Politiker und Mitglieder der Sicherheitskräfte aufzunehmen. Diesen wird unter anderem vorgeworfen, sich der teilweise demobilisierten ultrarechten Paramilitärs bedient zu haben, um sich illegal Land anzueignen, und Morde und Vertreibungen billigend in Kauf genommen zu haben.

Fast zeitgleich schlug der ehemalige Präsident César Gaviria (1990-1994) vor, diese Nicht-Kämpfer im Gegenzug zu der Bereitschaft, ihre Verbrechen einzugestehen, sich zu entschuldigen und die Opfer zu entschädigen, zu begnadigen. Teile der Geschäftswelt und einige Politiker begrüßten den Vorschlag oder erklärten ihre Bereitschaft, darüber zu diskutieren. Andere wiederum wiesen ihn als inakzeptabel zurück.

Nicht lange danach gaben die Unterhändler in Havanna bekannt, sich auf die Einrichtung einer Wahrheitskommission ohne Strafverfolgungsmandat geeinigt zu haben.

Laut de la Calle stellt die Forderung der FARC nach einer bilateralen Feuerpause derzeit das größte Problem der Verhandlungen dar. Außerdem müssten die Rebellen damit aufhören, sich durch kriminelle Handlungen wie Erpressung und Drogenhandel zu finanzieren, sagte er.


Umgang mit den anderen irregulären Gruppen bleibt Problem

Die kleinere und nach wie vor ebenso aktive Rebellengruppe Nationales Befreiungsheer (ELN) scheint derzeit die Ergebnisse der Friedensgespräche mit der FARC abzuwarten, bevor sie ihre eigenen Verhandlungen aufnimmt.

Dann gibt es noch die ultrarechten Paramilitärs, die sich dem Demobilisierungsprozess von 2003 bis 2006 verweigert oder sich zu kriminellen Banden neu gruppiert haben, die von der Regierung als 'Bacrim' ('kriminelle Gangs') bezeichnet werden.

"Wir können den regulären Sicherheitskräften nicht sagen, dass sie sich still verhalten sollen", meinte de la Calle. Wenn die FARC eine Feuerpause wünschten, sei die Regierung bereit, eine solche vorzubereiten, allerdings unter der Voraussetzung, dass es 'Konzentrationszonen' gebe. In solchen 'ländlichen Konzentrationszonen', wie zuerst von Álvaro Uribe während seiner Präsidentschaft (2002-2010) gefordert, sollen verurteilte Rebellen für eine Weile festgehalten werden, "ohne dass man ihnen abverlangt, ihre Waffen abzugeben", erläuterte er.

Versuche von IPS, eine Stellungnahme vom FARC-Verhandlungschef Iván Márquez zu den verschiedenen Äußerungen de la Calles zu erhalten, sind bisher fehlgeschlagen. (Ende/IPS/kb/08.07.2015)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2015/07/el-proceso-de-paz-colombiano-en-el-peor-momento/
http://www.ipsnews.net/2015/07/is-colombias-peace-process-really-at-its-lowest-ebb/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2015

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