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LATEINAMERIKA/1441: Fortschritte, Widersprüche, Stolpersteine - 30 Jahre Demokratie in Argentinien (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Fortschritte, Widersprüche, Stolpersteine
30 Jahre Demokratie in Argentinien

von Achim Wachendorfer und Svenja Blanke
November 2013



• Argentinien heute: Die Demokratie ist, trotz institutioneller Schwäche und wirtschaftlicher Megakrisen, in den vergangenen 30 Jahren gewachsen, scheint gesichert und findet große Zustimmung im Lande. Jedoch ist die Qualität vieler Institutionen sehr niedrig. Zwischen Gesetz und Realität herrscht oft eine beachtliche Kluft.

• Der Bruch mit demokratisch gewählten Regierungen und die Flucht in autoritäre Regime oder Militärdiktaturen waren vor 1983 die Norm. Die heutige weitgehende Verbannung der Militärs aus der Politik ist daher ein bedeutendes Novum.

• Politisch dominiert wurden die 30 Jahre Demokratie vom Peronismus. Pragmatisch und ideologisch beliebig, gleichzeitig jedoch mit einem ausgeprägten Machtinstinkt ausgestattet, passte sich der Peronismus flexibel an die jeweiligen Umstände an.

• Nach den Kongresswahlen vom 27. Oktober 2013 ist noch einmal deutlich geworden: Sowohl der Peronismus als auch die Tendenz zu personalisierter Politik mit viel Rhetorik und wenig Programm werden weiterhin für lange Zeit die bestimmenden Varianten der argentinischen Politik sein.

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Eine junge Demokratie ... mit viel Zustimmung

Die argentinische Demokratie ist nicht älter als 30 Jahre. Rechnet man die Regierungsjahre im demokratischen Gewand vor 1976 (also vor dem Beginn der letzten Militärdiktatur) zusammen, kommt man auf nur knapp 13 Jahre formale Demokratie mit freien Wahlen und allgemeinem Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger (1952-1955; 1958-1962; 1963-66; 1973-76) Nicht viel für eine Republik, die 2010 ihr bereits 200-jähriges Bestehen feiern konnte. Der Bruch mit demokratisch gewählten Regierungen und die Flucht in autoritäre Regime oder Militärdiktaturen waren vor 1983 die Norm. Von daher ist die weitgehende Verbannung der Militärs aus der Politik ein bedeutendes Novum. Durch die wirtschaftlich katastrophale Bilanz der letzten Militärdiktatur, das Desaster des Malvinas-/Falklandkrieges und die Erkenntnis der massiven Menschenrechtsverbrechen hatten die Militärs in den Augen der Bevölkerung abgewirtschaftet. Doch es blieb nicht nur bei der Entfernung der Militärs aus der Politik. In den 30 Jahren Demokratie erfolgte eine, wenn auch immer wieder von Problemen und Rückschlägen geprägte, beispielhafte Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur, die vor allem seit 2003 unter der Regierung der Kirchners in die rechtskräftige Verurteilung der verantwortlichen Militärs und ihrer Helfershelfer mündete. Symbol für die Bewältigung der traumatischen Vergangenheit wurden dabei die Madres y Abuelas de Plaza de Mayo, die für die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und entführten Kinder kämpften.

Trotz Verfahrensmängel und Schwäche der repräsentativen Organe und trotz wirtschaftlicher Megakrisen ist die argentinische Demokratie in den vergangenen 30 Jahren gereift. Bürgerinnen und Bürger wurden mit mehr Rechten ausgestattet, sowohl in Bezug auf ihre Freiheit als auch auf ihre Gleichheit. Das aktuelle Latinobarómetro bestätigt eine gewisse Zufriedenheit der Bevölkerung mit dem politischen System. Für eine Mehrheit von Argentiniern ist die Demokratie das bevorzugte Regierungssystem, unabhängig von wirtschaftlichen Krisen und trotz der schwachen Institutionen. 1995 wie 2013 unterstützten über 70 Prozent die Demokratie, selbst im Krisenjahr 2002 sprachen sich 65 Prozent für das demokratische System aus. Im Vergleich zu anderen Gesellschaften Lateinamerikas ist die Unterstützung Argentiniens für die Demokratie wesentlich kontinuierlicher und ausgeprägter. (www.latinobarometro.org)



»Leben mit der Krise«

Die junge Demokratie wurde in den letzten 30 Jahren zweimal von enormen Wirtschaftskrisen erfasst, die das politische System und die Gesellschaft herausforderten. Während die Krise von 1989 eher Ausdruck der wirtschaftlichen Probleme und Instabilität sowie äußerst negativer globaler Rahmenbedingungen war, ist die Staatspleite von 2001/2002 auf ernste Probleme des politischen sowie wirtschaftlichen Systems zurückzuführen. Dennoch, und das ist das Bemerkenswerte an der Demokratieentwicklung Argentiniens, konnte das Land ohne Bruch mit dem System diese tiefen Einschnitte, die v.der Bevölkerung sozial viel abverlangten, überwinden. Ein Grund hierfür ist in der Gesellschaft zu suchen. Gerade die Erweiterung von Rechten in den vergangenen 30 Jahren und die Akzeptanz der Demokratie als Regierungsform, die auch auf die traumatische Erinnerung an die Militärdiktatur zurückzuführen ist, halfen und helfen das System zu stabilisieren. Ein weiterer Grund ist natürlich auch die Wirtschaftsperfomance im Nachklang zu den Krisen. Während durch eine radikale Marktöffnung und Privatisierungen versucht wurde, das Land in den 1990er Jahren auf Stabilitätskurs zu bekommen, ist der imposante Aufschwung seit 2003 auf die starke Nachfrage aus China und Indien nach argentinischen Ressourcen zurückzuführen.

1989 wurde die Schwelle zur Hyperinflation überschritten, die Regierung von Raúl Alfonsín geriet in Zahlungsnotstand und Argentinien stand in einer bisher ungeahnten Wirtschaftskrise, die die Armutsrate in kürzester Zeit auf 47 Prozent ansteigen ließ. Ab 1999 gab es ein Negativwachstum; die Staatsschulden wurden durch die Aufwertung des argentinischen Pesos zu einer enormen Herausforderung. Eine sich bei der Bevölkerung breitmachende Panik um die Abwertung des Pesos führte zu einer Kapitalfluchtwelle. Gegen Ende des Jahres 2001 kam es zur Staatspleite; Bankkonten wurden eingefroren. Doch schon kurz danach schaffte eine sich vom Druck der internationalen Finanzinstitutionen lösende Wirtschafts- und Finanzpolitik neue Spielräume. Schon 2003 wuchs die Wirtschaft wieder um rund neun Prozent.

Auch wenn der Volksmund sagt, dass Argentinien alle zehn bis 15 Jahre eine extreme Wirtschaftskrise erfasst, ist derzeit eine wirtschaftliche Talfahrt nicht wirklich in Sicht. Es ist aber nicht zu verleugnen, dass es schwerwiegende ökonomische Probleme gibt: die hohe Inflation, die von der Regierung systematisch negiert wird; Subventionen, die den Staatshaushalt belasten und eine erratische Wirtschaftspolitik (z. B. Preisfestlegungen im Lebensmittelbereich; Importrestriktionen; zusätzliche Steuern für internationale Reisen), die auch bei Handelspartnern für Irritationen und Verärgerung sorgt.



Peronismus und Co.

Politisch dominiert wurden die 30 Jahre Demokratie vom Peronismus, jener schwer verständlichen Bewegung, die ihren Ursprung in der Regierungszeit des Generals Juan Domingo Perón (1946 bis 1955) hatte. Entscheidend für Fortbestand und Überlebensfähigkeit dieser Bewegung war Evita, die junge Lebensgefährtin Perons. Die von ihr initiierten Sozialprogramme, ihr politisches Engagement sowie ihr früher und tragischer Tod bildeten den Stoff für Mythen und Legenden. Aus diesen Gründerjahren leitet der Peronismus seinen Anspruch als soziales Gewissen der Nation, als Interpret des Volkswillens und Träger eines wie auch immer gearteten nationalen Projektes ab. Pragmatisch und ideologisch beliebig, gleichzeitig jedoch mit einem ausgeprägten Machtinstinkt ausgestattet, passte sich der Peronismus flexibel an die jeweiligen Umstände an. Charakteristisch ist der hierarchische Aufbau, mit einem »líder« an der Spitze, dessen Autorität nicht angetastet wird, solange Privilegien und Machtausübung garantiert werden.

Entgegen vieler Erwartungen verlor der Peronismus die ersten Wahlen 1983 nach Ende der Militärdiktatur, verfügte jedoch über genügend Instrumente, um der Regierung von Raúl Alfonsín (Unión Cívica Radical) das Leben schwer zu machen. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Bedingungen und der politischen Ereignisse musste Alfonsín vorzeitig die Regierungsgeschäfte an seinen bereits gewählten Nachfolger, den Peronisten Carlos Saúl Menem übergeben.

Der menemismo steht für ein Jahrzehnt des radikalen Wirtschaftsliberalismus; Argentinien mutierte zum Musterschüler des Weltwährungsfonds. Die neoliberale Variante des Peronismus schuf die Voraussetzungen für die schwere ökonomische und politische Krise von 2001/2002. Das klägliche Scheitern der zweiten radikalen Regierung (1999-2001) unter Fernando de la Rúa läutete auch das Ende des alternierenden Zweiparteiensystems ein, das sich in der Nachkriegszeit gebildet hatte: Die UCR, welche 1930-55 die wichtigste Oppositionspartei gewesen war sowie zwischen 1983 und 1999 zweimal die Wahl gewonnen hatte, verabschiedete sich als Alternative und ließ bei vielen die Überzeugung wachsen, dass nur die Peronisten in der Lage seien, das Land zu regieren. Heute scheint es als Machtoption nur noch die Peronistische Partei (Partido Justicialista mit ihren unterschiedlichen Varianten zu geben, die - anders als in Europa - auch alle in verschiedenen Wahllisten parallel um die Macht buhlen. Die relativ zahlreichen Oppositionsparteien links und rechts vom Peronismus müssen Wahlkoalitionen schmieden, um überhaupt Regierungsoption werden zu können. Es handelt sich daher aktuell um einen sehr asymmetrischen demokratischen Wettstreit um die politische Macht.

Auf zehn Jahre menemismo folgten - nach einer Interimsperiode - zehn Jahre Regierung der Kirchners, der kirchnerismo. Trotz eines schwachen Wahlergebnisses bei den Präsidentschaftswahlen von 2003 konnte der bis dato weitgehend unbekannte Peronist Néstor Kirchner mit kühnen politischen Schachzügen seine Position konsolidieren. Die Prozesse gegen die Militärs wurden wieder aufgenommen, das Primat der Politik über die Wirtschaft etabliert und Staatsinterventionen stark ausgeweitet. Auf Néstor Kirchner (bis 2007) folgte seine Ehefrau Cristina Fernández de Kirchner als Präsidentin. Der überraschende Tod des Ex-Präsidenten im Jahre 2010 hatte zur Folge, dass sie sich ein zweites Mal zur Präsidentin wählen ließ.

Trotz ihrer fast gegensätzlichen ideologischen Ausrichtung sind sowohl menemismo als auch kirchnerismo unterschiedliche Spielarten des Peronismus. Die Art der Herrschaftsausübung und der charismatisch personalisierte Führungsstil weisen sehr ähnliche Züge auf. Viele peronistische Abgeordnete und Senatoren, die unter Menem für die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und der Sozialversicherung gestimmt hatten, votierten eine Dekade später unter den Kirchners für eine erneute Verstaatlichung. Die wichtigen peronistischen Gewerkschaften unterstützten sowohl Menem als auch die Kirchners.

Der Peronismus ist ohne Gewerkschaften, die von der ersten Regierung Perón geformt und mit viel Macht ausgestattet worden waren, nicht denkbar. Der Dachverband Confederación General del Trabajo (CGT) und vor allem die mächtigen, hierarchisch und autoritär strukturierten Industrie- und Dienstleistungsgewerkschaften, die sich als »Rückgrat« des Peronismus verstanden, spielten und spielen eine wichtige Rolle. Auch die Gewerkschaften sahen sich genötigt, sich an die demokratischen Bedingungen anzupassen, obwohl traditionelle Strukturen fortbestehen. Die Regierung Alfonsín wurde bekämpft, die Regierungen von Menem und den Kirchners weitgehend unterstützt. Nur ein kleinerer Teil der Gewerkschaften stellte sich gegen den Marktradikalismus der Regierung Menem. Daraus entwickelte sich der alternative Dachverband Central de Trabajadores de la Argentina (CTA), der sich als progressive Alternative verstand. Doch in den letzten Jahren spalteten sich sowohl CGT und CTA, wobei die Positionierung gegenüber dem kirchnerismo eine zentrale Rolle spielte. Von der Regierung wird jedoch, und dies ist demokratiepolitisch sicher bedenklich, nur der ihr nahestehende Dachverband CGT anerkannt.


Die institutionelle Demokratie ... mit Qualitätsdefiziten

Die Demokratie scheint gesichert und findet hohe Zustimmung im Lande. Jedoch ist die Qualität vieler Institutionen sehr niedrig. Zwischen Gesetz und Realität herrscht oft eine beachtliche Kluft. Dieser offensichtliche Widerspruch findet seine Erklärung in einer politischen Kultur, die weiterhin von einem hohen Maß an Klientelismus, Vetternwirtschaft, Geringschätzung von Recht und Gesetz sowie Korruption geprägt ist. Öffentliche Institutionen werden für eigene Zwecke genutzt; die hohe Machtkonzentration in der Exekutive und die steuerlich-finanzielle Abhängigkeit der Provinzregierungen von der Bundesregierung fördern diese Tendenzen. Die beiden schweren Wirtschaftskrisen und diverse politische Turbulenzen belasteten die Fortentwicklung eines effizienten und transparenten Staatsapparates. Dies macht sich in vielen Bereichen bemerkbar: in einem ineffizienten, von Korruption geprägten Polizeiapparat, einer schlecht funktionierenden Verwaltung und defizitären Staatsbetrieben. Klientelorientierte Strukturen verhindern bei der Umsetzung der Sozialpolitik häufig eine transparente Verwaltung. Wichtige Posten im öffentlichen Bereich werden nicht nach Qualifikation, sondern auf der Basis verwandtschaftlicher Beziehungen vergeben. Das Justizsystem ist marode und bedarf einer umfassenden Reform, um zu gewährleisten, dass die Bürger_innen gleiche Rechte und gleichen Zugang zu diesen Rechten genießen. Ein aktueller Versuch der Regierung, die Justiz zu reformieren, zielte weniger darauf ab, diese Defizite zu überwinden, als die politische Kontrolle über die Justiz zu erlangen. (siehe: http://library.fes.de/pdf-files/iez/10144.pdf)


Ausbau von Bürgerrechten ... mehr Freiheit und Gleichheit

Ein bemerkenswerter Fortschritt der argentinischen Demokratie ist der Ausbau von Bürgerrechten. Ein erster Schritt begann bereits in den 1980er Jahren, als die Regierung Alfonsín die Einführung des Rechts auf Ehescheidung durchsetzte. Gleichzeitig triumphierte die Politik über die Macht der katholischen Kirche (die eng mit der Militärdiktatur kooperierte) in dieser ersten Phase der Post-Diktaturzeit. Nur einige Jahre später führte Argentinien die Frauenquote bei Nominierungen von Kandidat_innen für politische Ämter bei nationalen Wahlen ein. Argentinien gilt damit als weltweiter Pionier dieser Art von affirmative-action-Politik und der Erweiterung der Repräsentation von Frauen im öffentlichen Raum. Gemäß dem nationalen Wahlgesetz müssen 30 Prozent der Wahllisten der Parteien (auf nationaler Ebene) von Frauen besetzt werden. Die Resultate geben der Quote Recht: Lag der Anteil der weiblichen Senatoren und Abgeordneten 1983-85 bei nur drei bis sechs Prozent, ist er heute auf 35-40 Prozent hochgeklettert.

Die nächsten großen Schritte in Sachen Bürgerrechte folgten dann in den drei Amtsperioden der Kirchners. Jenseits der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur und Wiederaufnahme von Prozessen gegen Täter des Regimes, tat sich Argentinien aufgrund seiner sehr fortschrittlichen Gesetzgebung zum Schutz der Freiheit von Minderheiten hervor. Andere Lebensmodelle wie die gleichgeschlechtliche Ehe sind heute den heterosexuellen rechtlich gleichgestellt. Auch ermöglichte Argentinien als erstes Land weltweit Transsexuellen, Transvestiten und Transgendern offiziell ihr selbstgewähltes Geschlecht anerkennen zu lassen - ohne Gutachten oder vorangegangene Operationen, je nach eigenem Empfinden und Willen. Während in diesen Bereichen beachtliche Fortschritte gemacht wurden, dürfen Frauen dennoch immer nicht selbst über ihren Körper bestimmen. Abtreibung ist gesetzlich verboten und die Rechtslage für Minderjährige unsicher, was dazu führen kann, dass 11-jährige vergewaltigte Mädchen gezwungen werden, ein Kind auszutragen.

Auch im Bereich Medien und Kommunikation hat sich aus Sicht vieler Bürger_innen einiges getan. Ein 2009 verabschiedetes Mediengesetz ist der Versuch von staatlicher Seite, mächtige mediale Privatmonopole aufzubrechen. Doch der Umgang mit den Medien bleibt eine permanente Baustelle. Das Informationsrecht der Bürger_innen scheint im Kampf des Staats gegen mächtige Privatmonopole auf der einen Seite und staatlich gelenkten Kommunikationskanälen auf der anderen Seite unterzugehen.

Soziale Rechte wurden ebenfalls erweitert. Ähnlich wie in anderen Ländern Südamerikas wurde auch in Argentinien im letzten Jahrzehnt die Rolle des Staates neu bewertet. Die Belange der marginalisierten Bevölkerungsgruppen sind dabei ein Schwerpunktbereich. Seit 2003 sind ca. eine Mio. formelle Arbeitsplätze geschaffen worden, die Situation der Rentner_innen wurde erheblich verbessert. Im Jahr 2010 wurde von der Regierung von Cristina Fernández de Kirchner ein von dem Dachverband CTA seit langem gefordertes, universelles Kindergeldprogramm für Familien aus den ärmsten Schichten umgesetzt. Bedingung für die Transferleistungen ist, dass sich minderjährige Kinder im Haushalt befinden, deren Schulbesuch und staatlich vorgeschriebene Impfungen nachgewiesen werden können.

Die Demokratie der letzten drei Jahrzehnte ist auch gekennzeichnet durch Demonstrationen, spontane Straßenblockaden, selbstverwaltete Aktionen und lokale Bewegungen. Diese können als Zeichen für eine aktive Bürgergesellschaft positiv interpretiert werden, andererseits sind sie natürlich auch ein Hinweis auf Missstände im Sozialen und Politischen. Der Protest hatte sich aufgrund der liberalen und privatisierenden Marktstrategie und den damit verbundenen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur (Rückzug des Staates, Dezentralisierung der Bildungs- und Gesundheitsangebote) gerade in den 1990er Jahren von der Fabrik und den Büros in den öffentlichen Raum verlegt. In stets häufiger explodierenden Protesten zeigte sich auch das Versagen der institutionellen Repräsentanz (auch und insbesonders der Gewerkschaften). Die extreme Polarisierung der argentinischen Gesellschaft konnte daher nicht nur in den Wahlergebnissen der letzten Präsidentschafts- oder Kongresswahlen abgelesen werden. Sowohl Unmut als auch Unterstützung der aktuellen Regierung werden sehr sichtbar in Massenprotesten bzw. -feierlichkeiten auf der Straße ausgetragen. Und nicht jede partizipative Variante von Demokratie ist von unten organisiert. Bei zahlreichen Demonstrationen handelt es sich um gelenkte Bewegungen, die die politische Unmündigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen schamlos ausnutzen.

Mit der Krise von 2001 war auch der Charakter der argentinischen Demokratie ins Visier geraten. Mit dem die Staatskrise definierenden Spruch »que se vayan todos« (alle sollen abdanken), der in allen Demonstrationen den Ton angab, kam die Fundamentalkritik an der »politischen Klasse« zum Ausdruck. Was zunächst als Neubeginn erschien, entpuppte sich schnell als Strohfeuer. Die Suche nach Rückkehr zu stabilisierenden Kräften war groß. Nach der Wahl von Néstor Kirchner im Jahr 2003 sowie seiner Frau Cristina Fernández de Kirchner 2007 (und 2011) ist wieder der gesellschaftliche Reflex, personalisierten Führungsrollen zu vertrauen, zum Tragen gekommen.



Bilanz

Die Post-Militärdiktatur-Generation kennt als politisches System nur die Demokratie, die grundsätzlich nicht infrage gestellt wird. Das argentinische Militär ist politisch kontrolliert. Trotz der tiefen politischen Spaltung der argentinischen Gesellschaft lässt sich konstatieren, dass sich die Wirtschaft, trotz einiger Besorgnis erregender Schwachpunkte, seit 2003 stabilisiert hat und die sozialen Konflikte abgenommen haben. Es bleiben dennoch viele offene Baustellen: die Diskrepanz zwischen Demokratie und geringer Qualität der Institutionen oder zwischen Demokratie und charismatisch- personalisierter Herrschaftsausübung oder auch im Falle der Gesetzgebung zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Die argentinische Gesellschaft befindet sich trotz populistischer Führungsstile in einem sehr bewussten Prozess der (gewaltlosen) Auseinandersetzung über ihr Gemeinwesen. Mit dem Ergebnis der Kongresswahlen am 27. Oktober 2013 scheint sich der kirchnerismo in seiner jetzigen Ausprägung dem Ende zu nähern. Eine Wiederwahl der Präsidentin, die nur durch eine Verfassungsänderung möglich wäre, ist in weite Ferne gerückt. Ein/e Nachfolger_in aus dem inneren Kern des kirchnerismo ist nicht in Sicht und es dürfte schwierig werden, jemanden in der kurzen Zeit bis zu den Präsidentschaftswahlen 2015 aufzubauen. Doch populäre peronistische Optionen für eine Präsidentschaft gibt es sowohl außerhalb als auch innerhalb des Regierungslagers: z. B. der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Daniel Scioli, und der in diesem Jahr plötzlich aufstrebende Sergio Massa (2008/9 Kabinettschef von Cristina Kirchner), die sich als traditionellere Alternativen zum kirchnerismo präsentieren. Sowohl der Peronismus als auch die Tendenz zu personalisierter Politik mit viel Rhetorik und wenig Programm werden weiterhin die bestimmenden Varianten der argentinischen Politik sein.



Über die Autoren

Svenja Blanke ist Direktorin der Zeitschrift Nueva Sociedad der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Buenos Aires, Argentinien.
Achim Wachendorfer ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Argentinien und Paraguay mit Sitz in Buenos Aires.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. November 2013