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LATEINAMERIKA/1360: Südamerika - Mercosur tritt in neue geopolitische Phase ein (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. August 2012

Südamerika: Mercosur tritt in neue geopolitische Phase ein

von Fabiana Frayssinet



Rio den Janeiro, 1. August (IPS) - Die Aufnahme Venezuelas in die südamerikanische Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur markiert den Beginn einer neuen geopolitischen Phase. Experten sprechen von einer Dimension, die weit über das hinausgeht, was die Beitrittsbefürworter als Erfolg und die -gegner als demokratischen Rückschritt bezeichnen.

Uruguays Staatspräsident José Mujica würdigte die am 31. Juli vollzogene Vollmitgliedschaft Venezuelas im Gemeinsamen Markt des Südens (Mercosur) als Beginn der "Geschichte der Zukunft", in der sich Unternehmen mit denjenigen zusammentun müssten, "die Hemden und Sandalen tragen". Gemeint sind offenbar die Arbeiter.

Seine argentinische Amtskollegin Cristina Fernández bediente sich einer literarischen Metapher aus dem Werk des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez '100 Jahre Einsamkeit'. In ihrer Ansprache auf dem Treffen des 1991 von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründeten Blocks bezog Fernández diese '100-jährige Einsamkeit' auf die düsteren Jahre der südamerikanischen Militärdiktaturen und der neoliberalen Wirtschaftspolitik, "die Millionen Menschen ausgegrenzt hat".

"Heute stehen wir für die soziale Kraft unserer Völker, die sich zusammengetan haben, um zu zeigen, dass die Einsamkeit ein Ende hat", sagte die argentinische Staatschefin und betonte, dass die im Mercosur zusammengeschlossenen Staaten Teil eines Kollektivprojekts seien.

"Gehen wir davon aus, dass die USA, China, Deutschland und Japan die vier reichsten Länder sind, haben wir die Welt mit unserem gemeinsamen Mercosur um eine weitere fünfte Wirtschaft reicher gemacht", betonte ihrerseits die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff auf dem Gipfel in Brasilia, an dem auch Hugo Chávez als Präsident des brandneuen fünften MERCOSUR-Vollmitglieds Venezuela teilnahm.


Riesiger Absatzmarkt

Mit Venezuela an Bord wächst der Mercosur-Verbrauchermarkt auf 270 Millionen Menschen an. Das entspricht einem Anteil von 70 Prozent an der südamerikanischen Bevölkerung. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei 3,3 Milliarden Dollar und wird zu 83,2 Prozent vom Mercosur-Subkontinent erwirtschaftet.

Venezuela gelang der Eintritt in den Mercosur quasi durch die Hintertür. Die Mitgliedschaft Paraguays, eines erklärten Gegners des venezolanischen Beitritts, wurde wegen der umstrittenen Amtsenthebung des ehemaligen Präsidenten Fernando Lugo auf Beschluss der übrigen Mercosur-Mitglieder ausgesetzt.

Wie Williams Gonçalves, Experte für internationale Beziehungen an der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro, betonte, konnte der Staatenblock seine internationale Verhandlungsmasse durch die Aufnahme des erdölreichen Venezuelas deutlich erhöhen.

Dem Wirtschaftswissenschaftler Adhemar Mineiro zufolge geht es nun darum, Projekte wie eine Gasleitung von Venezuela bis nach Patagonien voranzubringen. Außerdem soll sich der Mercosur mit der Hilfe Venezuelas auch weiteren Energieproduzenten der Region annähern. Als Beispiel nannte er die erdgas- und erdölreichen Andenstaaten Bolivien und Ecuador.

Den besonderen Wert der Wirtschaftsgemeinschaft in ihrer jetzigen Zusammensetzung sieht der Wissenschaftler darin, dass sie quasi den gesamten südamerikanischen Kontinent mit Zugang zum Atlantik zu einem großen Block zusammenschließt. Das habe strategische, militärische, infrastrukturelle und viele andere Vorteile, sagte er.

Ausgeschlossen aus dem Mercosur sind bisher auch Kolumbien, das im Norden an die Karibik anstößt, und die kleinen Länder Guayana und Suriname am Atlantik sowie Französisch-Guayana.

Je nachdem, wie sich die Beziehungen zwischen Mercosur und den afrikanischen Ländern am Atlantik entwickeln würden, könnte der neue geopolitische Block die Gesamtsituation am Südatlantik verändern, so Mineiro. Das größte Problem besteht seiner Meinung nach darin, "dass die konservativen Eliten Argentiniens, Brasiliens, und Uruguays den Prozess als eine Integration von Nationalstaaten und weniger von Regierungen begreifen".


Weitere Öffnung möglich

Fest steht, dass der Beitritt Venezuelas die Region energieunabhängig machen wird. Marcelo Carreiro, Historiker an der Föderalen Universität Rio de Janeiro, hält dennoch eine weitere Öffnung des Blocks für die Länder Zentralamerikas und der Karibik für geboten. Caracas könne in einem solchen Fall als Vermittler auftreten, meinte er. "Eine breitere globale Partizipation verleiht dem Block eine größere Dynamik."

Uneinig sind sich die Experten über die politischen Auswirkungen der venezolanischen Mercosur-Vollmitgliedschaft. Gonçalves ist der Meinung, dass Venezuela dem Mercosur eine größere ideologische Konsistenz verleihen und sozialen Aspekten besondere Bedeutung beimessen werde.

Wenngleich Venezuela ein in wirtschaftlicher Hinsicht wünschenswerter Partner sei, politisch gebe es in dem Land noch erhebliche Defizite, so Marcos Azambuja vom Brasilianischen Zentrum für internationale Beziehungen. Das Land müsse das Problem seiner "unperfekten Demokratie" lösen, die nicht zuletzt daran erkennbar sei, dass es zu keinem Parteiwechsel an der Regierungsspitze komme. "Der Mercosur wünscht sich Beziehungen zur Welt. Wie sollen wir uns Verhandlungen des Mercosur mit Venezuela im Schlepptau mit Europa vorstellen?"

Ähnliche Bedenken hat Clóvis Brigagão, Leiter des Zentrums für amerikanische Studie der Candido-Mendes-Fakultät. Was ihn beunruhige, sei der Beginn einer graduellen 'Bolivarisierung' des Mercosur, einer von Venezuela betriebenen Aufnahme von Ecuador, Bolivien und Nicaragua in den Staatenbund. Der Begriff, der sich aus dem Namen des lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar herleitet, meint den Aufbau eines gemeinsamen, von Europa und USA unabhängigen Südamerikas.

"Um es deutlich zu sagen: Aus geopolitischer Sicht wird der Mercosur vom Beitritt Venezuelas mit seinen Erdölfeldern profitieren. Doch politisch ist die Aufnahme des Landes ein Rückschritt", erklärte er gegenüber IPS.

"Die Verschmelzung von wirtschaftlichen und ideologischen Konzepten ist eine neue Entwicklung", bezog João Pedro Stédile, Leiter der brasilianischen Landlosenbewegung und internationalen Bauernorganisation 'La Vía Campesina', Stellung. "Mit Venezuela als Türöffner wird der Mercosur auch Ecuador und Bolivien und zu einem späteren Zeitpunkt Kolumbien, Peru und Chile einlassen. Auf diese Weise verwandelt sich der Mercosur in einen gemeinsamen Markt und die Unasur (Union Südamerikanischer Staaten) fungiert als dessen politischer Arm." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2012