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LATEINAMERIKA/1327: CELAC - eine historische Notwendigkeit (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 1 vom 6. Januar 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

CELAC - eine historische Notwendigkeit
Das Ende der Nichtvereinigten Staaten von Amerika?

von Günter Pohl


Puerto Rico fehlte. Aber nicht nur diese US-Kolonie, sondern auch die französisch und niederländisch kolonisierten Gebiete in Amerika sind gezwungenermaßen nicht Teil der CELAC (span.: Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños), der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, die am 2. und 3. Dezember in Caracas offiziell aus der Taufe gehoben wurde.

Etwa 590 Millionen Menschen auf über 20 Millionen Quadratkilometern gehören der CELAC an, von etwa 940 Millionen Einwohnern auf dem ganzen Kontinent. Dieses Amerika ohne "Amerika" und Kanada ist der vorläufige Gipfelpunkt eines Prozesses, der vor 185 Jahren mit dem Kongress von Panama begonnen wurde. Damals hatte zuvorderst Simón Bolívar auf die Einheit der in jenen Jahren um ihre Unabhängigkeit von Europas Kolonialmächten kämpfenden jungen Republiken gesetzt, war aber gescheitert. In der Folge gab es in der Region, die aufgrund ähnlicher Kultur und Sprache weltweit die besten Bedingungen für eine politische Integration hat, zahlreiche, immer wieder unterbrochene Versuche der Zusammenarbeit.

Denn so wie einige Bedingungen für eine Integration sprachen, so gab es andere, die dagegen wirkten und heute noch eine wichtige Rolle spielen: die immens unterschiedliche Größe und Wirtschaftskraft der Staaten einerseits und die unterschiedlichen politischen Ausrichtungen, also die Anlehnung mancher Mitgliedstaaten an Großbritannien im 19. Jahrhundert und die imperialistischen USA im 20. Jahrhundert andererseits (heute u. a. durch Kolumbien, Mexiko und Chile). Entweder scheiterten die Bemühungen demnach an inneren Widersprüchen oder an solchen, die von außen hereingetragen wurden. Integrationshindernis Nummer 1 wurde dann ab 1948 allerdings ausgerechnet eine dem Namen nach verbindende Einheit, die US-Interessen dienende Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).


Heute hat der Komplex Lateinamerika/Karibik gute Chancen aus der Rolle der "Nichtvereinigten Staaten Amerikas" herauszukommen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte lange Zeit einzig Kuba, das "die Integration der Länder Lateinamerikas und der Karibik, befreit von externer Beherrschung und interner Unterdrückung, in einer großen Gemeinschaft von durch die historische Tradition und den gemeinsamen Kampf gegen den Kolonialismus, Neokolonialismus und Imperialismus verbrüderten Völkern (...)" in seiner Verfassung stehen hat, für ein vereintes Lateinamerika/Karibik als Ersatz für die OAS geworben. Mit der Neugründung Venezuelas ab 1999 kam ein wichtiger Mitstreiter hinzu, dem sich andere - Ecuador, Bolivien, Nicaragua und die anderen ALBA-Mitglieder - anschlossen. So war der Austragungsort Caracas auch kein Zufall. Hugo Chávez kann sich in der Tat zu Gute halten, dass diese Einigung ohne seine Politik in der letzten Dekade wohl kaum zustande gekommen wäre. Den Unterbau für die aktuellen Beschlüsse von Caracas stellte, mitsamt ihren Vorläufern wie der Freihandelsassoziation ALALC, seit 1980 die Lateinamerikanische Integrationsgemeinschaft (ALADI) dar; mehr oder weniger erfolgreich waren subregionale, vorwiegend Wirtschaftsinteressen dienende Modelle wie die CARICOM (1973), MCCA (Zentralamerikanischer Gemeinsamer Markt, 1960) und MerCoSur (1991). Eine politische Integration war allenfalls bei der Karibikgemeinschaft erkennbar, während der MerCoSur (aus Brasilien, Paraguay, Argentinien und Uruguay) erst mit einem souveräneren Auftreten in den letzten knapp zehn Jahren mehr als das Ziel des Freihandels in den Vordergrund stellte. Das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA, 1991) war nach den Bürgerkriegen geschaffen worden und leidet bis heute unter politischen Spannungen. Die Rio-Gruppe (1986) als Konzertierungsinstrument von inzwischen 23 Regierungen, die CARICOM, die international schon länger als geschlossene Gruppe auftritt, und die noch junge UNASUR (2008 aus zwölf Staaten Südamerikas gebildet) wurden dagegen zu erheblich effektiveren Vorarbeitern für die jetzige CELAC als die vorherigen Versuche, über Wirtschaftsfragen zu einer Einheit zu kommen. Nicht nur die politische Herkunft unterscheidet die CELAC von der Europäischen Union, die ja als Montanunion begann, sondern selbstverständlich erst recht ihre Phase der Kapital- und Produktivkraftentwicklung, nach der sie sich weit hinter der imperialistischen EU befindet. In der CELAC können allenfalls Argentinien, Mexiko, Chile und Brasilien mit Staaten wie Portugal, Griechenland, Ungarn oder Polen mithalten.


Der nun erfolgten Gründung der CELAC gingen entsprechende Beschlüsse voraus: der wichtigste Schritt war dabei die im Dezember 2008 angegangene Zusammenlegung der Rio-Gruppe mit dem CALC (Gipfel der Staaten Lateinamerikas und der Karibik für Integration und Entwicklung). Damals nahmen im brasilianischen Costa do Sauípe bereits die 33 Staaten teil, die nun die CELAC bilden. Im Februar 2010 tagten der 21. Gipfel der Rio-Gruppe und der 2. Gipfel des CALC nahe Cancún (Mexiko) abermals zusammen; dort sprach man dann offiziell von der CELAC-Gründung für spätestens 2012. Rio-Gruppe und CALC gehen nun in die CELAC über.

Die Ergebnisse des Gipfels, die in der "Erklärung von Caracas" nachzulesen sind, zeigen soziale wie ökonomische Aspekte. Es geht bei Anerkennung der UN-Charta über das Internationale Recht neben einer "abgestimmten Stimme Lateinamerikas und der Karibik" gegenüber anderen Blöcken um gesellschaftliche Partizipation und ein nachhaltiges, gerechtes Wachstum genauso wie um Kapitalfluss und Ressourcenverkauf. Dabei soll "die CELAC im Prozess der politischen, wirtschaftlichen gesellschaftlichen und kulturellen Integration vorwärtsgehen, indem sie ein weises Gleichgewicht zwischen der Einheit und der Vielfalt unserer Völker herstellt". Im Gegensatz zur OAS, aus der Kuba 1962 eben deshalb ausgegrenzt wurde, soll jede Nation das Recht auf ein eigenes politisches und wirtschaftliches System haben - zur Erinnerung: die EU hat im Lissabonner Vertrag den Kapitalismus festgeschrieben. Weitere Punkte wie das Verbot der Gewaltanwendung, Achtung von Souveränität und Integrität des Territoriums, Nichteinmischung oder Förderung von Menschenrechten und Demokratie und Freiheit von Kolonialismus und militärischer Okkupation lesen sich wie ein Auszug aus den Grundsätzen der Vereinten Nationen. Eine Erwähnung der Vorreiterrolle Kubas für die Integration (regionale Gesundheits- und Bildungsprojekte) fiel notwendigen Kompromissen zum Opfer; immerhin wurde Haitis historischer Beitrag als erstes unabhängiges Territorium benannt. Die Gründungsversammlung beschloss auch einen Aktionsplan für 2012 und achtzehn Absichtserklärungen. Unter diesen war nichts, was nicht auch schon in Gremien wie der UNASUR, den UN oder teils selbst der OAS vorgebracht worden wäre: Kuba-Blockade, Malwinen-Konflikt, Meereszugang für Bolivien, Migrant/inn/enrechte.


Für deren Umsetzung versprechen sich die linksgerichteten Regierungen Unterstützung durch die CELAC-Gründung. Sie scheiterten aber vorerst in ihrem Bemühen, die Gemeinschaft zu einer effektiven Institution zu machen. Der argentinische Gesellschaftswissenschaftler Atilio Borón sieht die CELAC im Augenblick mehr als Projekt denn als Organisation - derzeit wird die CELAC weder einen Sitz noch eine Personalstruktur oder einen Streitschlichtungsmechanismus haben; stattdessen wird jeweils ein Land für ein Jahr den Vorsitz innehaben. Das ist zunächst das stramm rechts orientierte Chile, wo auch 2012 der nächste Gipfel stattfindet. Danach ist Kuba an der Reihe, und erst ab da sind Impulse für eine Erhöhung der Entscheidungsfähigkeit der CELAC zu erhoffen. Denn eines der größten Probleme des jungen Tigers ist seine Zahnlosigkeit, solange Kolumbien, Chile oder auch Mexiko das jetzt geltende Konsensprinzip beibehalten können. Es wird wichtige Entscheidungen blockieren und war daher Bedingung für die Teilnahme einiger Staaten an der Gründung - im Sinne der Vermeidung eines Fehlstarts musste darauf eingegangen werden. Kubas Staatschef Raúl Castro begrüßte die CELAC-Gründung in seiner Rede vor der Nationalversammlung am 23. Dezember mit den Worten: "Unser Amerika steuert auf die Integration und die regionale Souveränität zu, was die Gründung der CELAC in Caracas zeigte. Es ist in der Hemisphäre der wichtigste institutionelle Fakt in den zwei Jahrhunderten seit der Unabhängigkeit." Mit der Vergabe des übernächsten CELAC-Gipfels 2013 nach Kuba hätten die Völker den heldenhaften Kampf der Kubaner unabänderlich geehrt. Die kolumbianische Guerilla FARC, als Vorreiter für ein anderes Kolumbien sicherlich eines der Symbole für die ungelösten Widersprüche innerhalb der neuen Gemeinschaft, drückte ihren Wunsch aus, dass es sich um einen Ausgangspunkt für eine Einheit im Sinne der Konzeption Bolívars handele, mit dem Ziel "einer neuen Welt, die der alte Kontinent und das nordamerikanische Imperium immer behindert" hätten. Die FARC erneuerten in dem Brief ihre Offenheit für Verhandlungen für einen gerechten und dauerhaften Frieden.


Auch die Rechte setzt partiell auf Integration, unter anderem wegen der Weltwirtschaftskrise. Vor allem Mexiko hat sich in den Jahren seiner Rio-Präsidentschaft für die CELAC stark gemacht. Und aus den USA war keine Kritik zu vernehmen, obwohl ja die OAS zumindest einen Imageschaden erlitt. Denn auch der ist derzeit begrenzt: weder das regelmäßig dem fortschrittlichen Block zugerechnete Argentinien noch das perspektivreiche Brasilien sehen die Notwendigkeit einer Konkurrenz zur OAS, wohl auch, weil ein gesamtamerikanisches Gremium ihren Wirtschaftsinteressen in den USA dient. Während Ecuadors Präsident Rafael Correa und andere die OAS gern abgeschafft sähen, will Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos eine Integration, die weder gegen die OAS noch gegen die jährlichen Iberoamerikagipfel (Amerika plus Spanien, Portugal und Andorra) gerichtet ist. Gemeinplatz war unter den Staatschefs, dass die Krise von einer gemeinsam agierenden Region besser angegangen würde. Dazu würde allerdings ehrlicherweise gehören, dass endlich die Bank des Südens startet oder Venezuela Teil des MerCoSur würde, was noch immer von Paraguay blockiert wird. Das umso mehr, weil der innerregionale Handel erhöht werden muss: derzeit werden noch 92 Prozent der Waren in andere Kontinente exportiert. "Die Integration darf nicht gegen jemand sein", so die argentinische Staatschefin Cristina Fernández, "sondern für uns."


Und sie hat Recht, wenn der einzige Zweck der CELAC eine "OAS ohne USA" sein sollte. Darum kann es nicht gehen, auch wenn es praktisch das einzige ist, was bürgerliche und nichtmarxistische Journaille in Europa als Quintessenz herausarbeiteten. Erstens, weil die OAS als Instrument des Kalten Krieges eine rein geopolitische Rolle spielte. Und zweitens, weil eine nur durch Abgrenzung definierte Integration erst nach Sichtung ihrer Inhalte als fortschrittlich gewertet werden könnte. Es wäre falsch, einen Zusammenschluss von durch Kolonisierung und ihre Folgen unter- oder halbentwickelten Ländern automatisch als linke Politik zu verkaufen - er ist im marxistischen Verständnis des Fortlaufs der Geschichte nicht mehr und nicht weniger als eine historische Notwendigkeit. Die CELAC ist nach der damit verbundenen Auflösung der Rio-Gruppe jetzt Ansprechpartnerin der EU, deren Blick auf das Ereignis pragmatisch ist: eine selbstbewusstere Region, wo immense Rohstoffmengen, Biodiversität und die Hälfte des Süßwassers der Welt lagern, ist das eine - ein eventuell rückläufiger Zugriff darauf durch den imperialistischen Konkurrenten USA das andere. Zu erwarten ist, dass die Präferenzabkommen mit Mexiko, Chile oder Brasilien in den nächsten Jahren einer Art Blockhandel weichen werden. Die Rolle der USA, die nicht wenige Mittel zur Destabilisierung an der Hand haben und in den letzten zweieinhalb Jahren auf dem Weg des rechten Rollbacks eine Reihe Wahl- und sonstige Erfolge erzielen konnten, wird für die Fortentwicklung der CELAC nach wie vor eine feste Größe sein.

Über Puerto Rico, Curaçao oder Martinique entscheidet dann wie immer die Geschichte.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, 1 vom 6. Januar 2012, Seite 9
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012