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LATEINAMERIKA/1146: Weltwirtschaftskrise treibt NGOs an den Rand der Existenz (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. September 2010

Lateinamerika: Weltwirtschaftskrise treibt NGOs an den Rand der Existenz

Von Mario Osava


Rio de Janeiro, 20. September (IPS) - Die Mehrheit der lateinamerikanischen Länder hat die Auswirkungen der weltweiten Rezession bewältigt, auch indem sie die neoliberale Politik in ihrer fundamentalistischsten Ausprägung hinter sich ließen. Für die Nichtregierungsorganisationen der Region ist die Krise noch längst nicht zu Ende.

"Viele der Verbände verschwinden, da es ihnen nicht gelingt, sich den neuen Realitäten anzupassen", meint dazu der brasilianische Sozialwissenschaftler und Leiter des 'Instituto Brasileiro de Análises Sociais e Econômicas (Ibase) in Rio de Janeiro, Cándido Grzybowski. Während in den ersten Jahren des demokratischen Wiederaufbaus in Lateinamerika nach blutigen und autoritären Regimen umfangreiche finanzielle Zuwendungen an Nichtregierungsorganisationen geflossen seien, blieben die großen Gelder nach der Finanzkrise aus.

In Mexiko gibt es schätzungsweise etwa 30.000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die meisten von ihnen mit religiösem Charakter. Viele stehen vor enormen finanziellen Problemen, die durch die geographische Nähe zu den USA sowie der intensive Handel zwischen beiden Ländern weiter verschärft wurde. Die Wirtschaftskrise, die in den USA ihren Anfang nahm, trifft Regierung, Unternehmen - und am Ende auch die Zivilgesellschaft.


Hilfen für Afrika

Martín Pascual, Vorsitzender des chilenischen NGO-Dachverbandes 'Acción', verweist auf eine fehlende stabile öffentliche Finanzierung, während gleichzeitig Tag für Tag die internationale Zusammenarbeit schwinde. Das hat auch damit zu tun, dass europäische Hilfsorganisationen ihren Schwerpunkt auf Afrika verlegt haben, was in den letzten Jahren zulasten von Lateinamerika ging - nach drei Jahrzehnten konstant zunehmender Unterstützung.

Für Brasilien zum Beispiel dürften einer Schätzung zufolge 2010 die internationalen Hilfen um 49,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zurückgehen. Nicht übersehen werden sollte allerdings auch das hohe Entwicklungsstadium Brasiliens, das bei Geldgebern zu einem Prioritätenwechsel führt. Der Chilene Martín Pascual gibt jedoch zu bedenken, "dass das Hauptproblem in Lateinamerika vielleicht gar nicht die Armut ist, sondern die Ungleichheit". Dies sei auch insofern gefährlich, als sich Rückschläge für die Demokratie ergeben könnten.

Die Krise der NGOs wird noch durch die Aufwertung der lateinamerikanischen Währungen - vor allem des brasilianischen Real - gegenüber dem Dollar verstärkt. Für die brasilianischen Nichtregierungsorganisationen bedeutete dies in den vergangenen 30 Jahren einen geschätzten Verlust von 30 Prozent. Der Aufstieg Brasiliens zur Wirtschaftsmacht führte auf der anderen Seite nicht dazu, dass der Staat oder die Gesellschaft Mechanismen zur Finanzierung der NGOs schufen und fehlende Gelder aus dem Ausland somit hätten ausgeglichen werden können.


Mangelnde Transparenz

Grundsätzlich wären klare Regulierungen und Transparenz darüber notwendig, was mit Geldern geschieht, aber auch steuerliche Anreize für Spender. In Brasilien hatten in der Vergangenheit zahlreiche finanzielle Unregelmäßigkeiten, die teilweise zu parlamentarischen Untersuchungen führten, die Nichtregierungsorganisationen als solche in Misskredit gebracht. Daher ertönt der Ruf nach Rechtssicherheit - sowohl für die Regierung als auch für die NGOs. Und diese machen nur einen Teil der schätzungsweise rund 330.000 Nonprofit-Organisationen aus, die es in Brasilien gibt.

In Chile wird derzeit an einem Gesetz gearbeitet, das die Finanzierung sozialer Organisationen regelt. Zuwendungen der Regierung der sozialistischen Präsidentin Michelle Bachelet, die von 2006 bis 2010 im Amt war, an Menschenrechts- und andere gemeinnützige Organisationen hatten verbreitet zu Kritik und zu einer parlamentarischen Untersuchung geführt.

Im Fall Kolumbien sind es die Verbände der Familienangehörigen von Verhafteten und Verschwundenen, die unter rückläufigen Zuwendungen leiden. Lilia Solano, Geschäftsführerin des christlichen 'Proyecto Justicia y Vida', nennt als Betroffene außerdem die Bewegungen, die sich für Menschen einsetzen, die infolge des Bürgerkriegs vertrieben wurden, sowie Organisationen für die Belange der Indigenen und der afrikanischstämmigen Kolumbianer. Spender zögen eine unpolitische Verwendung ihrer Gelder vor. (Ende/IPS/bs/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2010