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LATEINAMERIKA/1114: Haitianischer Alltag nach dem Beben (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 112, 2/10

Haitianischer Alltag nach dem Beben
Ungenügende Zeltstädte, Regen, fehlende Sicherheit und überforderte Menschen

Von Yvonne Schaffler


Nachdem nun auch in Chile und China die Erde bebte, verstummten Stimmen, die hinter der Katastrophe in Haiti einen Teufelspakt vermutet haben. Haitis VoodoopriesterInnen wagen es wieder, ihre Zeremonien abzuhalten, und das ist gut so, denn der Bedarf der Bevölkerung an seelischer Unterstützung ist unendlich groß.

Die Situation in Port au Prince und der vom Erdbeben betroffenen Umgebung ist nach wie vor höchst prekär. Die Verletzungen der Opfer sind zwar größtenteils verheilt, allerdings besteht weiterhin medizinischer Bedarf, so z. B. an Physiotherapien. Das akuteste Problem der Bevölkerung ist aber die Wohnsituation. Nach Angaben des Roten Kreuzes hat zu Beginn des Monats März 2010 erst die Hälfte der rund 1,3 Mb. Obdachlosen eine Notunterkunft gefunden. Viele der Gebäude sind so weit zerstört, dass sich die Frage eines erneuten Bezugs nach dem Erdbeben gar nicht stellt. Die Überreste sind Bauschutt mit herausragenden Eisenstangen.


Mit den Kräften am Ende

Zelte sind in Haiti Mangelware, wie vieles andere auch. Viele der Betroffenen haben sich Überdachungen aus Leintüchern gebaut, die vor herabstürzenden Wassermassen nur wenig Schutz bieten. An zahlreichen Orten haben sich Zeltstädte gebildet. Nur einige davon werden von internationalen Organisationen betreut. Diese stehen unter anderem vor dem Problem, dass sie einerseits die BewohnerInnen vor Übergriffen schützen, aber auch die vorherrschende soziale Ordnung respektieren müssen. Je länger der Ausnahmezustand andauert, desto gewalttätiger wird das Klima in den Camps. Raub und Nötigung, sexuelle Übergriffe auf Frauen und Kinder, Prostitution und das Verlangen nach Betäubung, z. B. durch Alkohol, nehmen zu. Da sich zahlreiche Familien bzw. alleinerziehende Mütter mit der Situation überfordert und am Ende ihrer Kräfte sehen, nimmt auch die Zahl der zurückgelassenen Alten und Kinder zu.

In vielen Zeltstädten fehlt es an sanitären Einrichtungen, weshalb ihre BewohnerInnen gezwungen sind, ihre Notdurft innerhalb derselben zu verrichten. Der Abtransport von Müll und die Zufuhr von Wasser ist nicht immer gewährleistet, was die hygienischen Bedingungen noch weiter verschlechtert und Durchfällen, Hautkrankheiten, parasitären Erkrankungen sowie sonstigen Krankheiten der Armut Vorschub leistet. Die zunehmenden heftigen Regenfälle verwandeln die erodierten und von der Trockenzeit ausgedörrten Böden in reißende Sturzbäche. Diese gerinnen nach Ende des Regens zu Matsch, den die Sonne innerhalb kurzer Zeit wieder in staubige Erde verwandelt. Der aus dem Boden aufsteigende Dampf verleiht dem Klima eine dumpfe Schwüle, die jeden Handgriff erschwert.


Fehlende Sicherheit und astronomische Preise

Da die stechende Sonne die Zelte für die meiste Zeit des Tages unbewohnbar macht, findet der Alltag hauptsächlich im Freien statt, was unter anderem dazu führt, dass Mütter ihre schlafenden Kinder ständig bei sich tragen müssen. Es mangelt an Rückzugsmöglichkeiten und vor allem an Sicherheit. Viele Gegenden werden von marodierenden Banden kontrolliert, gegen die auch die zahlreichen von den USA stationierten Soldaten nichts ausrichten können. Man fragt sich daher nach dem Zweck der massiven Militärpräsenz, wo das primäre Problem doch eine humanitäre Katastrophe ist und nicht Krieg. Man vermutet, dass dahinter vor allem politische Interessen stehen, dass die Soldaten gekommen sind, um zu bleiben.

Das derzeitige haitianische Preisniveau kennt niemand. Tatsache ist allerdings, dass es weit über jenem der Nachbarnation Dominikanische Republik liegt. Sonia Pierre, Leiterin der in der Dominikanischen Republik ansässigen Frauenbasisorganisation MUDHA (Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas), zieht es daher vor, den Großteil der für den Katastropheneinsatz benötigten Nahrungsmittel in der Dominikanischen Republik einzukaufen und diese wöchentlich in einer bis zu zehnstündigen Reise über die Grenze nach Haiti zu transportieren. MUDHA leistete in den vergangenen Monaten humanitäre Hilfe in stark betroffenen Orten wie Léogâne, Tigueve, Petit Guave, Gran Goave und Martissan. In Kooperation mit zahlreichen VolontärInnen aus Europa und der Dominikanischen Republik verteilt MUDHA Nahrungsmittel, Wasser, Hygiene-Kits, Zelte und Matratzen, und stellt medizinische und psychosoziale Betreuung der Opfer zur Verfügung.


Die Aktivitäten von MUDHA

In Léogâne, dem am stärksten betroffenen Gebiet, betreut MUDHA mit Hilfe von VolontärInnen seit 16. Jänner des Jahres ein Camp, das Kinder und Jugendliche eines eingestürzten Waisenhauses beherbergt. Viele davon sind nicht Waisen im eigentlichen Sinn, sondern wurden von ihren Eltern aufgrund des ökonomischen Drucks zurückgelassen. Das wenige Personal, das seit dem Erdbeben noch zur Verfügung steht, schafft es nicht, sich um die Basisbedürfnisse der Kinder zu kümmern. MUDHA versorgt das Camp mit Zelten, Matratzen und Nahrungsmitteln. Des Weiteren kümmert sich die Organisation um das psychosoziale Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen, indem sie Aktivitäten wie Malen, Singen und Tanzen, Fußballspielen, Domino- und Kartenspiele veranstaltet. Die Kinder und Jugendlichen erhalten regelmäßig Spanischunterricht und sollen sich an tägliche Hygiene sowie an das Tragen von Schuhen und sauberer Kleidung gewöhnen, um später bessere Chancen auf Arbeit zu haben. An eine Wiederaufnahme des Schulunterrichts ist einstweilen nicht zu denken. Bei ihrer Arbeit scheint es den Volontärinnen manchmal so, als würden sie jeweils zwei Schritte nach vor und einen zurück machen. Schuhe, die den Kindern vom Vormittag angezogen wurden, sind am Nachmittag oft verkauft - und zwar von den Bediensteten des Waisenhauses. Man versucht sowohl hierfür eine Lösung zu finden, als auch hinsichtlich des Umgangs mit Jugendlichen, die sich als gewalttätig erwiesen haben.


Ein Waisencamp für die ganze NachbarInnenschaft

Im Camp wird eine Politik der offenen Tür betrieben. So werden Jugendliche und Frauen aus der Umgebung eingeladen, an Workshops über sexuelle Aufklärung, Hygiene, Verhalten in der Schwangerschaft oder für die Produktion von Reinigungsmitteln, Seife, Shampoo etc. teilzunehmen. Sie sollen später Zugang zu Mikrokrediten erhalten. Das Verteilen von Präservativen soll sexuell übertragbaren Krankheiten vorbeugen und Familienplanung ermöglichen. Der gute Kontakt zu den NachbarInnen gewährleistet im Camp überdies ein höheres Maß an Sicherheit, denn Schutz vor Einbrüchen bieten die dünnen Häute der Zelte nicht.

Was die Überlebenden - abgesehen von den geschilderten Umständen - besonders belastet, ist die Tatsache, dass während des Erdbebens Friedhöfe zerstört und somit die AhnInnen aus ihren Gräbern gerissen wurden. Auch die über 300.000 vom Erdbeben Getöteten konnten nur in wenigen Fällen ordnungsgemäß bestattet werden und fanden ihr Ende in anonymen Massengräbern. Die Erdbebenkatastrophe bildet nach Sklaverei, Revolutionen, Diktaturen und Hurrikans das vorläufige Ende einer Kette von traumatisierenden Ereignissen. An einen raschen Wiederaufbau ist schon allein wegen der mangelhaften Infrastruktur nicht zu denken. Haiti bleibt somit abhängig von Hilfe aus dem Ausland, auch wenn die meisten der akuten physischen Verletzungen der Überlebenden inzwischen verheilt sind.


Zur Autorin:
Yvonne Schaffler ist Sozialanthropologin und Vizepräsidentin des Ethnomedizinischen Lateinamerika-Arbeitskreises (www.emlaak.org). Sie lebt in Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 112, 2/2010, S. 32-33
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Sensengasse 3, 1090 Wien,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2010