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LATEINAMERIKA/1081: Alberto Acosta - "Der Klassenkampf ist eine Realität" (Südwind)


Südwind Nr. 12 - Dezember 2009
Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung

"Der Klassenkampf ist eine Realität"

Der Ökonom Alberto Acosta gilt als geistiger Ziehvater von Rafael Correa, dem Präsidenten Ecuadors. Er war Energie- und Bergbauminister sowie Vorsitzender der Verfassunggebenden Versammlung. Mit ihm sprach für Südwind Luisa Dietrich in Wien.


SÜDWIND: Bis auf wenige Ausnahmen wie Mexiko, Kolumbien und Peru sind heute in Lateinamerika Links- oder Mitte-Links-Regierungen an der Macht. Was ist die Ursache für diesen Trend?

ALBERTO ACOSTA: Meiner Meinung nach ist diese Entwicklung ganz einfach zu verstehen. In den letzten Jahren hat Lateinamerika auf Grund der Auswirkungen der Politiken des so genannten Konsensus von Washington - oder was gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird - schwierige Zeiten erlebt. Die Regierungen wurden dazu angehalten, sich einer ideologischen Vision anzuschließen, die auf neoliberalen Marktprinzipen basiert und nicht nur in wirtschaftliche, sondern auch in soziale und politische Aspekte des menschlichen Lebens eingreift. Der Merkantilismus durchzog die sozialen Beziehungen, Wahlen reduzierten sich auf politisches Marketing. Die Auswirkungen sind bekannt: Die Wirtschaft hat sich gegen alle Voraussagen nicht erholt, das Wirtschaftswachstum blieb aus oder fand nur auf der makroökonomischen Ebene statt, begleitet von einem konzertierten Abbau des Staates. Das Hauptaugenmerk lag darauf, dass die so genannten Basics stimmen. Der Rest würde dann von selbst kommen, war die gängige Meinung. Doch dieser Tag kam nie. Die progressiven Länder der Region hingegen arbeiteten auf eine weit reichende Vernetzung hin, um die lange neoliberale Nacht zu überwinden und ein regionales Fundament zu schaffen, das es erlaubt, effektivere Antworten auf die gemeinsamen Probleme zu finden.

SÜDWIND: Was sollen die Ziele eines vereinten lateinamerikanischen Kontinentes sein, und von welchem zeitlichen Rahmen kann man dabei ausgehen?

ALBERTO ACOSTA: Eines ist offensichtlich: In Lateinamerika sind Tendenzen auszumachen, die einen gemeinsamen Weg anstreben, um politische Antworten auf regionale Herausforderungen zu finden. Die UNASUR ist eine politische Antwort der Region, um die ausschließlich auf Handel ausgerichtete Andengemeinschaft und den Mercosur zu überwinden und auf einen gemeinsamen wirtschaftlichen, kulturellen, sozialen und vor allem politischen Block hinzuarbeiten. Die Vertretung aller Länder, so auch der konservativen Regierungen von Kolumbien und Peru, ist ein positiver Aspekt der UNASUR. Einschränkungen ergeben sich dadurch aber hinsichtlich des langsameren Voranschreitens in der gemeinsamen Wirtschaftspolitik. In diesem Zusammenhang ist die ALBA(1)) zu nennen, die nicht im Gegensatz zur UNASUR steht, sondern durch die ideologische Affinität mehr Möglichkeiten zur Vernetzung bietet und gleichzeitig erlaubt, die Karibik und Zentralamerika der UNASUR anzunähern.

Ein weiterer Aspekt dieser voranschreitenden politischen Integration ist die sukzessive Schaffung eines regionalen Finanzsystems, dessen Anfänge vor der aktuellen globalen Krise zu datieren sind. Beispiele hierfür sind die Bank des Südens, der regionale Stabilisierungsfonds sowie die Gründung einer gemeinsamen virtuellen Währung, dem Sucre(2), des Schiedsgerichts für ausländische Investitionen und für Staatsschulden (TIADS)(3). Wenn Lateinamerika in der Lage ist, ein gemeinsames Finanzsystem zu konsolidieren, so ist ein großer Schritt in Richtung Integration geschehen.

Alberto Acosta war 2007/08 Präsident der Verfassunggebenden Versammlung von Ecuador und zuvor Minister für Energie und Bergbau. Er ist Mitglied von Alianza PAÍS, der Partei Rafael Correas, und hat am Programm dieser Partei mitgearbeitet.

Acosta studierte von 1971 bis 1974 Betriebswirtschaftslehre an der Fachhochschule und anschließend Volkswirtschaftslehre an der Universität Köln, zunächst Wirtschaftsgeographie, dann mit Schwerpunkt Energiewirtschaft. In dieser Zeit arbeitete er auch mit der NGO Informationsstelle Lateinamerika (ila) zusammen. Er gilt als einer der namhaftesten politischen Denker Lateinamerikas.

SÜDWIND: Wie würde der historische Simón Bolívar zu einer Lateinamerikanischen Union stehen? Hätte er neben der Idee der regionalen Integration auch andere Zielsetzungen mitzugeben?

ALBERTO ACOSTA: Es geht darum, sich auf die Form einer lateinamerikanischen Union zu einigen, nicht um eine Integration der Integration willen voranzutreiben. Es gibt verschiedene Integrationsprozesse auf dem Kontinent, aber es fehlt ihnen eine politische Entscheidungsebene. In den letzten Jahren hat es wichtige Vernetzungen auf dem Energiesektor gegeben. Ich spreche von den Gaspipelines zwischen Bolivien, Brasilien, Argentinien und Chile und von einer weit reichenden Energieversorgung, die vom Mercosur bis in die Andenstaaten und bis Zentralamerika reicht. Bis jetzt ging es darum, Pipelines und Kabel zu vernetzen, aber eine gemeinsame Energiepolitik steht noch aus. Dieses Vorhaben würde auch die Lösung territorialer Probleme erleichtern, wie zum Beispiel, Boliviens Zugang zum Meer mit Peru und Chile zu verhandeln. Im Denken Simón Bolívars heißt das konkret: Wie können wir uns politisch zusammenschließen, um eine Gemeinschaft der Nationen zu schaffen? Und das ist die UNASUR - nicht eine Nation, sondern eine Gemeinschaft von verschiedenen Nationen.

SÜDWIND: Unterscheiden sich Bolívars Ideen stark vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts eines Hugo Chávez oder eines Rafael Correa?

ALBERTO ACOSTA: Was ist der Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Ich unterstütze alle Prozesse, die auf Einheit, Transformation, Demokratisierung und Gleichstellung hinarbeiten. Aber warum des 21. Jahrhunderts? Wenn doch die Prinzipien des Sozialismus die gleichen sind wie zu Beginn? Präsident Correa meint, dass es im Sozialismus des 21. Jahrhunderts keinen Klassenkampf gibt. Ich sehe das nicht so: Der Klassenkampf ist eine Realität. Nicht nur von den unterdrückten Segmenten der Gesellschaft gegen die Machthaber, sondern auch von jenen, die den Fortschritt verhindern und gegen Gleichheit, Gleichstellung, Freiheit und Partizipation auftreten. Was ist der Sozialismus? Ganz einfach: die Demokratisierung aller Aspekte des menschlichen Lebens, auf politischer, sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und zwischenmenschlicher Ebene. Es geht um Gleichheiten und Gleichstellungen zwischen Geschlechtern, Ethnien, Generationen und Regionen.


Luisa Dietrich macht derzeit das Doktoratsstudium am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.


Anmerkungen:
(1) Alternativa Bolivariana para los Pueblos de Nuestra América
(2) SUCRE steht für Sistema Único de Compensación Regional de Pagos
(3) TIADS - Tribunal Internacional de Arbitraje de deudas soberanas


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Quelle:
Südwind - Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung
30. Jahrgang, Nr. 12/2009 - Dezember 2009, Seite 14-15
Herausgeber: Südwind-Entwicklungspolitik (ehem. ÖIE)
Verlegerin: Südwind Agentur GmbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2010