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LATEINAMERIKA/1016: Sandinos Ideen leben fort (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 12 vom 20. März 2009
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Sandinos Ideen leben fort
Vor 80 Jahren veröffentlichte Sandino den
"Plan zur Verwirklichung des größten Traums von Bolívar"

Von Günter Pohl und Wolfgang Herrmann


Am 20. März 1929 schlug General Augusto C. Sandino die Durchführung einer Konferenz der Regierungen Amerikas in Buenos Aires vor. Sie sollte "die Präsentation eines eigenständigen Projekts unseres Heeres zum Ziel haben, das, wenn es realisiert wäre, die Souveränität und Unabhängigkeit unserer einundzwanzig indo-spanischen Republiken und die Freundschaft unseres Amerikas der Rassen mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika garantieren würde, und zwar auf der Grundlage der Gleichheit". Das Projekt, das Sandino selbst als "Plan der Verwirklichung des größten Traums von Bolívar" bezeichnete, bezog sich auf die Notwendigkeit den lateinamerikanischen Anteil beim Bau des interozeanischen Kanals durch Nicaragua zu gewährleisten; dabei nutzte er diese Gegebenheit um feierlich ein Bündnis zur Schaffung einer lateinamerikanischen Nationalität aus der Taufe zu heben. (Auszug aus einem Text von Aldo Díaz in: "Die Revolution ist ein Buch und ein freier Mensch", Köln 2007)

Sandinos Plan hatte 44 Grundlagen, in denen für die 21 lateinamerikanischen Staaten (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Kuba, Chile, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Haiti, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Puerto Rico, Dominikanische Republik, Uruguay und Venezuela) die Monroe-Doktrin für abgeschafft, sowie das Recht auf ein Bündnis und eine lateinamerikanische Nationalität erklärt wird. Ein Oberstes Lateinamerikanisches Gericht hatte besondere Wichtigkeit in der Idee Sandinos. Es sollte den Sitz in Nicaragua haben und die konstitutionelle Grundlage für ein gemeinsames Heer von 5.250 Soldaten aus jeweils 250 Soldaten pro Land sein, das unter dem Oberbefehl des Gerichtspräsidenten stehen sollte, der für jeweils sechs Jahre in der obigen alphabetischen Reihenfolge von der Bürgerschaft des jeweiligen Staates gewählt würde. Zu den Soldaten dieser "See- und Landstreitkräfte der Lateinamerikanischen Allianz" sollten neben Studierenden immer auch Rechts- und Sozialwissenschaftsprofessoren gehören. Diese dürften keiner politischen Partei angehören.

Viel Wert wird auf die Durchführung eines eigenständigen Kanalprojekts durch Nicaragua gelegt (der Panamakanal war ja unter US-Hoheit). Die Konstituierung eines lateinamerikanischen Bankenkomitees zur Finanzierung von Bauprojekten mit eigenen Fonds wird angeregt - achtzig Jahre danach ist die "Bank des Südens" noch in ihren Kinderschuhen. Auch einheitliche Zölle, ein Austausch von Studierenden, die Förderung des innner-lateinamerikanischen Tourismus, eine gemeinsame Flagge und ein gemeinsames Motto werden von Sandino vorgeschlagen.

Garantiert wurde in Sandinos Vorschlag die absolute Souveränität der 21 Staaten der Allianz. Wird ein Land von "einer äußeren Macht" angegriffen, würde zu Wirtschaftsboykott und Konfiszierung der Werte dieser Macht in allen Mitgliedstaaten gegriffen. Im Falle eines Bürgerkrieges in einem Mitgliedsland sollten beide kriegführenden Seiten das Recht auf Beanspruchung von Kontingenten dieses Allianzheeres haben. Wer heute die vor wenigen Tagen in Santiago de Chile erfolgte Gründung des Südamerikanischen Verteidigungsrates (CDS) einseitig als Schritt zur Souveränität der zwölf südamerikanischen Mitglieder der Gemeinschaft Südamerikanischer Nationen feiert (der es objektiv auch ist), vergisst andererseits leider, dass das Konzept des CDS eindeutig genau diesen Vorschlag Sandinos negiert: im heutigen Verteidigungsbündnis werden - um Kolumbien ins CDS-Boot zu bekommen - die konstitutionellen Streitkräfte anerkannt und "irreguläre Gruppen" abgelehnt.

Günter Pohl


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Als vor zwei Jahren Daniel Ortega die Präsidentschaft übernahm, feierten vor allem die armen Schichten des mittelamerikanischen Landes die Rückkehr der FSLN an die Regierung. Nach 16 Jahren neoliberaler Qualen schöpften sie neue Hoffnung. Bei der Regierungsübergabe 1990 an die Allianz von Frau Violeta Chamorro hatte Daniel Ortega gesagt: "Wir (die FSLN) regieren jetzt das Land von unten." Diesen Satz wiederholte er bei der Regierungsübernahme im Januar 2007.

Sofort nach der Amtsübernahme legte die neue Regierung die Programme "Null Hunger" und "Null Wucher" auf, übergab an die bäuerlichen Familien produktive Gutscheine und gerechte Kredite zur Ankurbelung der kleinen und mittleren Bauernwirtschaften, um zunächst die eigene Versorgung und dann die Belieferung des Binnenmarktes zu fördern. Die Maßnahmen tragen erste Früchte. Nicaragua beginnt, den mittelamerikanischen Markt und Venezuela mit Grundkörnern und Rindfleisch zu versorgen.

Mit kubanischer und venezolanischer Hilfe nahm das Land eine neue Alphabetisierungskampagne in Angriff und setzte ein Programm der Gesundheitsversorgung in Gang. Kinder erhalten wieder Schulspeise, die medizinische Grundversorgung ist erneut kostenlos. Die neue Regierung unternimmt große Anstrengungen, um die Auswirkungen der Energiekrise vom Land abzuwehren. Mit venezolanischer Hilfe wurden neue Kraftwerke installiert und die Treibstofflage stabilisiert. Sie nutzt Außenhilfe, um die Infrastruktur auszubauen.

Mit den Räten der Bürgermacht auf allen Ebenen scheint die Regierung eine Form der direkten Demokratie gefunden zu haben. Die Menschen entscheiden vor Ort über die Verwendung der Ressourcen und kontrollieren die Durchführung der von der Exekutive beschlossenen Maßnahmen. Kein Wunder, dass die FSLN und ihre Verbündeten von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt werden. Bei den Munizipalwahlen im vergangenen November legten die FSLN und ihre Freunde gegenüber den Präsidentschaftswahlen von 2006 zu.

Der Plan, die Sandinistische Revolution unter neuen Bedingungen fortzusetzen, erfährt neben dem Zuspruch großer Teile der Bevölkerung aber auch den Widerspruch der Oppositionellen, der "Strohpuppen der Yankees", wie sie Sandino zu seiner Zeit nannte. Die von der internationalen Finanzkrise stark betroffene Binnenwirtschaft liefert noch nicht die notwendigen Ressourcen, um die sozialen Rückstände im gewünschten Tempo aufzuholen. Das nutzt die äußerer und innerer Reaktion für Störmanöver.

Willige Unterstützung erhält die Reaktion von einer Abspaltung der FSLN, der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS). Zu ihr gehören der frühere Vizepräsident Sergio Ramírez und die ehemaligen Mitglieder der Nationalleitung Henri Ruiz und Víctor Tirado. Diese Abspaltung geht auf Richtungskämpfe in der FSLN zurück, die auf dem I. Ordentlichen Kongress 1991 begannen. Die einen wollten der neoliberalen Politik eine revolutionäre Antwort geben. Die anderen wollten auf dem Wege von Reformen die Gesellschaft freundlicher machen. Die erste Linie, die von Daniel Ortega und seinen Anhängern, setzte sich durch. Die Niederlage im Richtungsstreit haben die Reformer nie überwunden. Die FSLN jedoch hielt an ihrem Kurs fest, das Land von unten zu regieren, und baute ihre Positionen in den Kommunen von Wahl zu Wahl aus. Es gelang ihr, Verbündete (YATAMA) in den Autonomen Atlantikregionen zu gewinnen und dort Einfluss zu gewinnen.

Der Einfluss der MRS im Land ist relativ gering. Vor den Munizipalwahlen 2008 erhielt sie kaum 1 Prozent in den Umfragen. Nach Aussagen von Insidern soll das auch der Grund gewesen sein, weshalb sie den Formalienstreit mit dem Obersten Wahlrat (CSE) inszenierte, der schließlich zu ihrem Ausschluss von den Wahlen führte. Im Mai 2006 schloss die MRS während eines Treffens in Miami (!) einen Deal: Im Falle eines zweiten Wahlgangs - mit dem man seitens der US-Administration und der Noch-Regierung Nicaraguas rechnete - wollte sie den gemeinsamen Kandidaten der konservativliberalen Allianz, den Bankier Eduardo Montealegre, unterstützen. 2008 schloss sich die MRS der Allianz "Alle für Eduardo" an.

Nach den Munizipalwahlen kam es in Nicaragua zu Unruhen. Das konservativ-liberale Lager wollte sich mit der Niederlage, vor allem in der Hauptstadt Managua, nicht abfinden. Schnell machte das Gerücht vom Wahlbetrug die Runde. Die Wahlräte zählten mehrere Male aus. Das Ergebnis blieb das gleiche: Die FSLN blieb vorn. Prügelnd und brandschatzend zogen Anhänger des Blocks "Alle für Eduardo" durch die Hauptstadt. Als Freiwillige die Polizei dabei unterstützten, die Ruhe wieder herzustellen, brachte die Reaktion samt MRS das Gerücht in Umlauf, die FSLN unterhalte paramilitärische Einheiten, um die Macht zu sichern. Die üblen Angriffe auf Daniel Ortega und die FSLN, die früher von Konservativen und Liberalen betrieben wurden, haben heute die MRS-Leute übernommen. Sie unterstützen Eduardo Montealegre, den Mann, der für die Verteilung von 600 Millionen Dollar aus der Staatskasse an seine Freunde verantwortlich ist, werfen aber der FSLN Machtmissbrauch und Korruption vor. Sie paktieren mit allen und jeden gegen die FSLN und Daniel Ortega, strapazieren jedoch den sogenannten Pakt Alemán-Ortega. Dieser ist bereits zu den Akten gelegt. Sie setzten zusammen mit den konservativen und liberalen Oppositionsparteien im Parlament ein Amnestiegesetz, von dem auch Alemán Nutzen hat, mit der Drohung der Haushaltsblockade durch, werfen aber Daniel Ortega vor, Alemán die Delikte vergeben zu haben.

Nichtregierungsorganisationen aus den USA und Westeuropa unterstützen die Angriffe der MRS auf die FSLN und Daniel Ortega. Die Partei "die Linke" entdeckte in ihr vor drei Jahren die sandinistische Alternative zur FSLN. Vor kurzem empfing sie Héctor Mairena, Vorstandsmitglied der MRS. Ein Besuch Dora María Téllez bei der "Linken" ist geplant. Die neue Regierung Nicaraguas hat gute Freunde in Lateinamerika. Nicaragua wurde Mitglied von ALBA, der Bolivarianischen Alternative, und PETRO-CARIBE, der Erdölgemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Länder. Das Land spielt eine konstruktive Rolle in der Rio-Gruppe. Die FSLN gehört zum Forum von Sao Paulo. Nicaragua ist Mitglied des zentralamerikanischen Integrationssystems (SICA). Alles unter aktiver Teilnahme der FSLN und Daniel Ortegas. Er und Hugo Chávez verstehen sich gut. So sind sie eben, die Erben Sandinos und Bolívars.

Wolfgang Herrmann


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Sandino im Bolivarianismus, der die Region entflammt

Von Aldo Díaz Lacayo


Zu Beginn des Jahres 1929 war Augusto C. Sandino schon ein erfahrener bolivarianischer Comandante. Zwei Jahre nationaler Befreiungskrieg gegen die nordamerikanischen Interventionsruppen in Nicaragua, mit den herausragenden lateinamerikanischen Revolutionären der Epoche in seinem "Heer zur Verteidigung der nationalen Souveränität", genügten ihm, um die Regionalisierung seines Freiheitskampfes anzukündigen.

Vor genau achtzig Jahren, am 20. März 1929, schrieb er seinen "Plan zur Realisierung des größten Traum Bolívars". Er drehte sich um den Bau eines interozeanischen Kanals durch Nicaragua, denn "die Yankees wollen", so seine eigenen Worte, "wegen eines Restes an Scham, sich hinter dem Projekt eines interozeanischen Kanals durch nicaraguanisches Territorium verstecken, der als Ergebnis die Isolierung der indohispanischen Republiken hätte." Ein Aufruf an die Regierenden Amerikas, in dem offen und aktualisiert das Denken des Befreiers im Hinblick auf die geopolitische Einheit der Region angeführt wurde.

Die zentrale Idee Bolívars ist in der Tat die Konsolidierung des amerikanischen Vaterlands. "Mein Vaterland ist Amerika", pflegte er zu sagen; die Nation von Republiken, wie er sie einmal nannte, oder Konföderation, wie er sie endgültig nannte. Und um die geopolitische Einheit der Region und ihre historische Dauerhaftigkeit zu garantieren, schlug der Libertador im Rahmen des "Kongresses von Panama" (ausführlich in UZ vom 23. Juni 2006) die Schaffung eines regionalen Heeres vor, so wie es auch in die Übereinkunft über Kontingente am 15. Juli 1826 einging. Aber Bolívar verdeutlichte nie die regionale Nationalität.

Die Grundlage des Plans von Sandino ist die Schaffung einer lateinamerikanischen Nationalität, die er mindestens einmal in jedem der vierundvierzig Unterpunkte des Plans erwähnt und die ebenfalls von dem Regionalheer garantiert werden würde. "Denn", wieder in seinen eigene Worten, "glauben die lateinamerikanischen Regierungen vielleicht, dass die Yankees sich mit der Eroberung Nicaraguas begnügen würden? Sie wüssten, dass danach Mexiko, Kolumbien, Venezuela an der Reihe wären, wenn Zentralamerika erst einmal von den blonden Piraten beherrscht wäre."

Sowohl Bolívar wie auch Sandino handelten in einem international kritischen Kontext. Der Libertador befand sich inmitten der Restaurierung des alten monarchischen Systems in Europa, das den Rest der Welt bedrohte; und Sandino agierte während der großen Wirtschaftsdepression der Vereinigten Staaten, begonnen mit der Börsenkrise 1928, die das Imperium zwang sich mit einer universellen Zerstörung selbst neu zu behaupten. Beide historische Situationen waren von großem Risiko für die Region, die die beiden Vorkämpfer beschlossen mit allen Mitteln zu bekämpfen, auch militärischen. Zweihundert Jahre nach der Unabhängigkeit Amerikas, angeführt durch Bolívar, und fünfundsiebzig Jahre nach der Ermordung Augusto C. Sandinos, dem Führer des regionalen Antiiperialismus, befindet sich die Welt wieder inmitten einer globalen Wirtschaftskrise von unvorhersehbaren Folgen, mit der Möglichkeit die Befreiungsbewegungen des Südens zu überrollen, sie zu zerschlagen und nach Möglichkeit zu vernichten.

Aber wieder übernehmen die Söhne und Töchter Bolívars und Sandinos, aber dieses Mal vereint in der Zeit und Hand in Hand mit anderen lateinamerikanischen und karibischen Führern, die Verantwortung die Integrität und historische Permanenz der Region zu verteidigen als ein Vaterland und bewusst mit dem politisch-ideologischen Rüstzeug beider amerikanischen Helden. Die Kinder Bolívars, indem sie dessen Erfolge in Südamerika wiederholen, und die Sandinos, die das gleiche in Zentralamerika machen. Ein Ziel, das während der Unabhängigkeit nicht erreicht werden konnte.

Bolívar und Sandino reiten wieder und tragen die Flamme ihrer Kämpfe und das Licht ihrer Ideen zu den neuen Generationen Lateinamerikas und der Karibik. Subversiv und absichtsvoll wie früher, wie damals radikal aber auch programmatisch, und ebenso wie ehedem mit einer klaren historischen Vision und gleichzeitig mit Blick für die Aktualität. Das ist genau die Basis für den Kampf um die zweite Unabhängkeit, die die Nachfahren beider und aller regionalen Helden anführen.

(...)

Sandino ist wieder präsent inmitten des Bolivarianismus, der Lateinamerika und die Karibik entflammt, angesichts dieser neuen Realität der globalen Wirtschaftskrise, angesichts dieses neuen Krieges der imperialen Selbstversicherung und an der geistigen Seite der anderen früheren und heutigen amerikanischen Vorkämpfer.


Aldo Díaz ist nicaraguanischer Historiker und lebt in Managua

Leicht gekürzte Übers.: Günter Pohl


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 41. Jahrgang, Nr. 12,
20. März 2009, Seite 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2009