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FRAGEN/003: Lateinamerika - Angst vor Unsicherheit wächst mit dem Wohlstand (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. Juli 2013

Lateinamerika: 'Angst vor der Unsicherheit wächst mit dem Wohlstand' - Latinobarometer-Chefin Marta Lagos im Interview

von Marianela Jarroud


Bild: © mit freundlicher Genehmigung des Latinobarometers

Marta Lagos
Bild: © mit freundlicher Genehmigung des Latinobarometers

Santiago, 1. Juli (IPS) - Obwohl der Drogenhandel für Lateinamerika eine ernst zu nehmende Gefahr darstellt, "gehen die Eliten dem Thema aus dem Weg, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen", warnt die chilenische Soziologin Marta Lagos. Der Leiterin des regionalen Meinungsforschungsinstituts 'Latinobarometer' zufolge ist die Angst vor der Unsicherheit weniger armuts- als wohlstandsbedingt.

Wie aus dem 2012 veröffentlichten Bericht des Latinobarometers hervorgeht, ist Sicherheit ein Thema, dass den Bürgern in elf von 18 untersuchten Ländern besonders am Herzen liegt. In Peru haben sich in diesem Sinne 20 Prozent und in Venezuela 61 Prozent der Umfrageteilnehmer geäußert. Der regionale Durchschnitt liegt bei 28 Prozent.

Der Latinobarometer ist ein internationales Meinungsforschungsinstitut, das Umfragen in 18 lateinamerikanischen Ländern erstellt und verbreitet. Der nächste Bericht wird spätestens im September vorliegen.

Wie Lagos im IPS-Gespräch erläutert, hat die Rückkehr der Demokratie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre in vielen lateinamerikanischen Ländern den Zugang zu Information erleichtert und die Bevölkerung zunehmend für Probleme wie Straßengewalt und Kriminalität sensibilisiert. Es folgen Auszüge aus dem Interview.

IPS: Wie hat sich die öffentliche Sicherheit in Lateinamerika in den letzten Jahren entwickelt?

Marta Lagos: Es gilt zwei Dinge zu berücksichtigen: Zum einen liegen uns konkrete Zahlen über das Ausmaß der Kriminalität vor, die von der Bevölkerung nicht zur Kenntnis genommen werden. Zum anderen haben wir das öffentliche Bewusstsein, dass es Verbrechen gibt. Beide Dinge sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Es gibt Länder, in denen viele Jahre lang Armut, Unterdrückung, Autoritarismus und Diktaturen dafür gesorgt haben, dass der Kriminalität weniger Bedeutung beigemessen wurde.

In dem Ausmaß, in dem das Problem der Armut abgenommen hat und die Länder zur Demokratie zurückgekehrt sind, ist die Bevölkerung durch einen verbesserten Informationszugang über das, was vor sich geht, besser im Bilde. Obwohl die Kriminalitätsraten kaum variieren, werden Kriminalität und die Gewalt auf den Straßen viel stärker wahrgenommen. Das führt dazu, dass der Grad der gefühlten Unsicherheit in Lateinamerika besonders hoch ist. Das gilt sogar für Länder wie Chile und Uruguay, wo das Problem der Kriminalität deutlich geringer ist.

IPS: Das würde auch erklären, dass Länder wie Argentinien und Uruguay trotz niedrigerer Kriminalitätsraten die höchsten Indikatoren der gefühlten Unsicherheit aufweisen (...)

Lagos: Genau. Es gibt aber noch ein weiteres Phänomen: den Anstieg von Kriminalität und Gewalt. Das trifft auf Honduras, Venezuela und Argentinien zu, in denen dem Thema Kriminalität und öffentliche Sicherheit eine doppelt so hohe Bedeutung beigemessen wird.

IPS: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Unsicherheit und dem Ausmaß der Armut?

Lagos: Im Prinzip nicht, denn die lateinamerikanischen Länder sind historisch gesehen stets arm gewesen. Die gefühlte Unsicherheit hat mehr mit Wohlstand zu tun. Sie entsteht durch Eigentum.

Die Politikwissenschaft ist da ziemlich eindeutig. Zu Revolutionen kommt es nicht in Augenblicken des Niedergangs oder wirtschaftlicher Krisen. Die Sorgen und Probleme bilden sich in den Momenten heraus, in denen Eigentum akkumuliert wird.

In den wirtschaftlich guten Jahren zwischen 2003 und 2008, in denen sich in Lateinamerika große Wachstumssprünge vollzogen, nahm die Stabilität innerhalb der Region zu. Doch in der Art und Weise, wie sich die Krise entwickelte, legte auch die Kriminalität zu. Schließlich gab es etwas zu stehlen.

IPS: Besteht ein Bezug zwischen Sicherheit und Bildung?

Lagos: Es gibt eine Verbindung, die aber von Tag zu Tag schwächer wird, weil seit fünf bis sechs Jahren das organisierte Verbrechen die Straßen erobert. In der weiter zurück liegenden Vergangenheit hingegen kam es nur sporadisch zu kriminellen Aktivitäten. Damals war die Verbindung zwischen Sicherheit und Bildung stärker.

IPS: Wissen die Länder, wie sie mit dem organisierten Verbrechen und dem Drogenhandel fertig werden können?

Lagos: Ich fürchte, dass sie dem Einfluss des Drogenhandels auf die Ausweitung des organisierten Verbrechens nicht genug Bedeutung beimessen. Mir scheint es so, als gäbe es ein verborgenes Zusammenspiel, das von den Regierungen wie der Perus ignoriert wird. Dort verbirgt sich hinter dem, was als Kriminalität bezeichnet wird, im Grunde der Drogenhandel.

IPS: Sind die Hilfspläne der internationalen Organisationen erfolgversprechend?

Lagos: Es ist schwierig, Aussagen über die internationalen Organisationen zu machen. Doch was sich mit wissenschaftlicher Präzision sagen lässt: Die finanziellen Investitionen der US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA sind exponentiell in fast der gleichen Geschwindigkeit gestiegen, wie sich die Durchdringung (der lateinamerikanischen Länder) durch den Drogenhandel beschleunigt hat. Man kann sagen, dass die Strategien zur Bekämpfung des Drogenhandels insgesamt gescheitert sind. Außerdem fehlt es an Präventivmaßnahmen.

Es verhält sich dabei ähnlich wie mit der Steuerflucht. Es wird gern über den Erfolg der Europäischen Union bei der Bekämpfung dieses Übels gesprochen. Doch tatsächlich findet die Steuerflucht auf den Britischen Jungferninseln statt. Mit dem Drogenhandel verhält es sich ähnlich. Die Abermillionen von Dollar, die die USA nach wie vor im Kampf gegen den Drogenhandel investieren, sind nicht von Erfolg gekrönt.

Das ist für Lateinamerika eine Gefahr, die nicht die politische Beachtung erfährt, die erforderlich wäre, und die alle Länder der Region mit ihren Mittelschichten und jungen Generationen gleichermaßen bedroht. Die Eliten drücken sich davor, sich ihrer Verantwortung zu stellen. (Ende/IPS/kb/2013)


Links:

http://www.latinobarometro.org/latino/latinobarometro.jsp
http://www.ipsnoticias.net/2013/06/la-percepcion-de-inseguridad-crece-con-la-prosperidad-del-pueblo/

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IPS-Tagesdienst vom 1. Juli 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2013