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ITALIEN/002: Demokratieverfall in Italien (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011

Demokratieverfall in Italien

Von Sergio Grassi


Die internationalen Medien sind seit Monaten mit den Sexeskapaden ("Bunga-Bunga") des italienischen Ministerpräsidenten befasst und lenken damit den Blick ab vom eigentlichen Problem Italiens: dem permanenten Angriff Silvio Berlusconis und seiner Anhänger auf die Verfassung und damit auf die demokratische Ordnung des Landes. Wie konnte es dazu kommen?


Durch Sondergesetze, die ihn vor den am 6. April begonnenen Prozessen vor dem Mailänder Gericht (Anklage wegen Steuerhinterziehung, Bestechung, Beihilfe zur Prostitution mit Minderjährigen und Amtsmissbrauch) schützen sollten, versuchte Silvio Berlusconi seine brüchige Macht zu erhalten und die Chancen für seine Wahl zum Staatspräsidenten im Jahre 2013 zu retten. Der gegenwärtig zu beobachtende politische und wirtschaftliche Niedergang Italiens erfolgt somit unter der Führerschaft eines machtbesessenen Politikers, der sich seine strafrechtliche Immunität über politische Ämter zu erhalten versucht. Die im Ausland immer wieder gestellte Frage lautet: Wie konnte es dazu kommen, dass ein nach 1945 aus der Erfahrung des antifaschistischen Widerstands entstandenes System in die Hände eines derart umstrittenen - wenn auch durch Wahlen demokratisch legimitierten - Populisten geraten konnte?

Experten sprechen seit Jahren vom System des berlusconismo als der besonderen Herrschaftsform, die vom italienischen Premier und seiner Gefolgschaft praktiziert wird, um die öffentliche Meinung zu steuern und die demokratischen Institutionen den privaten Interessen des politischen Leaders unterzuordnen.


Zwischen Geheimloge und Mafia

Um dieses Herrschaftssystem besser zu verstehen, muss man in das Italien der 70er Jahre zurück blicken, um den Werdegang von Silvio Berlusconi und seiner Hintermänner ansatzweise zu rekonstruieren. So ist fast schon in Vergessenheit geraten, dass die Freimaurerloge P2 bereits in den 70er Jahren den Geheimplan der sogenannten "demokratischen Wiedergeburt" ("Piano di Rinascita Democratica") entworfen hatte, dessen Zielsetzung es war, Italien in einen autoritären Staat zu verwandeln. Die italienische Verfassung sollte so geändert werden, dass sich die politische Macht in den Händen der Exekutive konzentriert, während die Opposition möglichst aus- und die Medien gleichgeschaltet werden sollten. Dafür sah der Plan u.a. "die unverzügliche Einrichtung des Kabelfernsehens vor, das sich wie ein feinmaschiges Netz auf das Land legen und die öffentliche Meinung kontrollieren" sollte. Der Logenchef und bekennende Faschist Licio Gelli wollte als Autor des Geheimpapiers damit einen Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie Italiens entwerfen.

Gelli erkannte in dem damaligen Bau- und Medienunternehmer Silvio Berlusconi, der unter der Mitgliedsnummer 1816 in die Loge eingeschrieben war, das optimale Werkzeug zur Verwirklichung seines Plans und unterstützte ihn daher über sein Netzwerk einflussreicher Persönlichkeiten in Politik, Armee, Geheimdiensten, Bank- und Finanzwelt bei seinem wirtschaftlichen und politischen Aufstieg sowie der Eroberung der Massenmedien. Neben Gelli wurde der Aufstieg Berlusconis allerdings auch von der Cosa Nostra unterstützt, die mit der Ende 1993 von ihm gegründeten Partei "Forza Italia" - dank der Vermittlung des schon in zweiter Instanz wegen Verstrickung mit der Mafia verurteilten engen Vertrauten Berlusconis, dem Senator Marcello Dell'Utri -, eine funktionale Zweckverbindung einging. Demnach soll - nach übereinstimmenden Aussagen vieler Kronzeugen - der aufstrebende Politiker Berlusconi Patronage für massive Investitionen der Mafia im Baugewerbe und Privatfernsehbereich geboten haben, um im Gegenzug politische Unterstützung bei der Organisation von Wählerstimmen zu erhalten.

Gegen alle Versuche, diese Verstrickungen Berlusconis aufzudecken und strafrechtlich zu ahnden, perfektionierte der umtriebige Rechtsanwalt und Parlamentsabgeordnete seiner Partei, Nicolò Ghedini, die Taktik, die Verfahren gegen seinen Mandanten mit Formalien in die Verjährung zu ziehen. Wenn dies nicht zum Erfolg führte, entwarf der Abgeordnete Ghedini maßgeschneiderte Gesetze, die seinen politischen Dienstherrn vor Strafverfolgung schützten. In sieben Jahren, d.h. innerhalb von zwei Legislaturperioden, sind auf diese Weise 54 Gesetze und Dekrete entstanden, die dem Premier bei Prozessen wegen Korruption, Richterbestechung, oder Bilanzfälschung Immunität vor Strafverfolgung sicherten (sog. "Gesetze ad personam"). In den vergangenen 17 Jahren wurde 28 Mal gegen Berlusconi ermittelt - rechtskräftig verurteilt wurde er nie. Dafür wurden in Gesetzesänderungen auch Straftatbestände gestrichen oder neu definiert, Verjährungsfristen verkürzt (prescrizione breve) oder Prozessvorschriften verändert. Kurz vor Prozessbeginn gegen den Premier hat die Regierung eine Gesetzesinitiative für eine einschneidende Reform des Justizsystems angekündigt. Diese sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft gegen einmal ergangene Freisprüche keine Berufung mehr einlegen kann, Ermittlungsbefugnisse von Staatsanwälten begrenzt werden, Richter für Fehlurteile finanziell aufkommen müssen und sogar verklagt werden können. Mit diesen Einschüchterungsversuchen und der bereits gängigen Praxis der von der Regierung im Eilverfahren erlassenen Gesetzesverordnungen (decreti legge) stellt die Regierung Berlusconi systematisch die Unabhängigkeit der Justizorgane sowie die gesetzgebende Rolle des Parlaments und damit wesentliche Prinzipien der italienischen Verfassung in Frage. Berlusconi ist somit kein harmloser Populist, sondern der Totengräber des italienischen Rechtsstaats, der über die Vermischung von Regierungstätigkeit und Durchsetzung rein privater Interessen für die fortschreitende Aushöhlung des noch bestehenden demokratisch-rechtsstaatlichen Systems in Italien sorgt. Diese Aushöhlung und die damit verbundene Autokratisierung wird - ganz im Sinne Gellis - durch einen breiten, von den eigenen Medien organisierten Konsensus gestützt und gerechtfertigt. Neben der Kontrolle über sein eigenes privates Medienunternehmen Mediaset, versucht Berlusconi als Regierungschef seit Jahren nämlich auch die Personalpolitik und Inhalte des Staatsfernsehens unter seine Kontrolle zu bringen. In einem Interview aus dem Jahr 2003 stellte Gelli nicht ohne eine gewisse Ironie diesbezüglich fest: "Die Justiz, das Fernsehen, die öffentliche Ordnung. Ich habe alles vor 30 Jahren geschrieben [...]. Vielleicht sollte ich die Urheberrechte verlangen". Auch nach Ansicht des Senators und ehemaligen Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando, kann man im politischen Italien von heute die Verwirklichung von Gellis Traum wiedererkennen.


Italien am Scheideweg

Bislang hat die öffentliche Meinung hauptsächlich mit Resignation auf den Demokratieverfall des Landes, die Selbstbereicherung Berlusconis sowie auf die traurige Wirtschaftsbilanz der ehemals fünftgrößten Wirtschaftsmacht der Welt (Italiens Beschäftigungsquote von 46,4 % wird gegenwärtig in Europa nur noch von Malta unterboten, die Jugendarbeitslosigkeit liegt z.Z. bei ca. 30%) reagiert. Dazu beigetragen hat neben der Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch Berlusconis Medienimperium bei gleichzeitiger medialer Ausgrenzung der politischen Gegner vor allem auch, dass die politische Opposition aufgrund innerer Zerstrittenheit und des Mangels an einem gemeinsamen Projekt bislang hilflos und gelähmt erscheint. Seit Ende 2010 kam es jedoch zu größeren Demonstrationen wütender Bürger und demokratischer Vereine, nachdem Berlusconi über die vermeintliche Bestechung von mindestens zwei Abgeordneten erneut ein Misstrauensvotum am 14. Dezember 2010 überstanden hatte: 314 Stimmen gegen 311 lautete das entsprechende Abstimmungsergebnis.

Nachdem Berlusconi - im Zuge der so genannten "Rubygate-Affäre" - auch wegen Amtsmissbrauch und Beihilfe zur Prostitution mit Minderjährigen angeklagt wurde, gingen am 13. Februar 2011 Hunderttausende italienische Frauen auf die Straße, um gegen die Politik des Premiers und nicht zuletzt gegen das durch seine Sender geprägte Frauenbild in Italien zu protestieren. Die Meinungsumfragen verzeichneten in den letzten Wochen auch insgesamt eine sinkende Popularitätskurve von Berlusconi beim Wahlvolk (z.Z. liegt sie bei ca. 30% der befragten Wähler). Der angeschlagene Premier meidet derweil öffentliche Auftritte und meldet sich stattdessen regelmäßig mit Videobotschaften bei verschiedenen Treffen seiner Anhänger in der Hoffnung, dass nach dem Sturm der letzten Wochen wieder bessere Zeiten für ihn selbst einkehren werden. Die Gerichtsverfahren gegen den Ministerpräsidenten sowie die fortwährende Korruptionspraxis der Mehrheitspartei ("Popolo della Libertà") haben die Konflikte zwischen der Exekutive und den Justizorganen jedoch so auf die Spitze getrieben, dass eine institutionelle Systemkrise nicht mehr ausgeschlossen wird. Der Showdown hat schon begonnen und der politische Hasardeur Berlusconi spielt allzu gerne mit der Drohung: "Entweder ich oder das politische Chaos". Italien steht somit an einem Scheideweg: Entweder wird die italienische demokratische Opposition - gestützt durch die aufgebrachte Zivilgesellschaft - endlich imstande sein, das Machtgefüge des berlusconismo zu brechen und damit den offenen Niedergang demokratischer Strukturen zu stoppen, oder das Land wird in absehbarer Zeit zum exklusiven Herrschaftsbereich einer Privatperson und seiner regimetreuen Untergebenen degradiert.

Da der italienische Premier und sein Ziehvater Gelli planmäßig daran gearbeitet haben, ein durchweg demokratisches System in zwei Jahrzehnten in eine "Post-Demokratie" mit stark autokratischen Zügen zu transformieren, bleibt die Herrschaftsform des berlusconismo bislang einmalig in Europa, obgleich inzwischen deutliche Entdemokratiesierungstendenzen auch in anderen EU-Ländern (z.B. in Ungarn) aufgetreten sind. Dementsprechend ist nicht auszuschließen, dass sich der für Italien beschriebene Demokratieverfall auch in anderen Ländern wiederholt, und zwar ungeachtet ihrer demokratischen Traditionen. Länder, in denen die Demokratie keine lange Tradition hat, sind im Umkehrschluss jedoch besonders gefährdet. Gerade das Beispiel Italien zeigt uns daher, dass die demokratischen Kräfte in Politik und Gesellschaft alles daran setzen müssen, Autokratisierungstendenzen sowie der übermäßigen Konzentration von Wirtschaft- und Medienmacht rechtzeitig Einhalt zu gebieten.


Sergio Grassi (* 1979) war vier Jahre lang im Büro Peking der FES tätig. Seit Februar 2011 ist er Mitarbeiter im Referat Internationaie Politikanalyse der FES.
sergio.grassi@fes.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2011, S. 36-38
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2011