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ASIEN/925: Afghanistan - In Sorge über mögliche Folgen des Abzugs der internationalen Truppen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Dezember 2014

Afghanistan: In Sorge über mögliche Folgen des Abzugs der internationalen Truppen

von Giuliano Battiston


Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Fliegende Händler in Mazar-e-Sharif im Norden Afghanistans
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Kabul, 16. Dezember (IPS) - Ende Dezember endet in Afghanistan das Mandat der Internationalen Schutztruppe ISAF. Am 1. Januar wird sie von der nachfolgenden Mission 'Resolute Support' ersetzt, die die afghanischen Sicherheitskräfte beraten und ausbilden soll. Doch allen Beteuerungen der Geberstaaten zum Trotz, das zentralasiatische Land nicht im Stich zu lassen, fürchten politische Beobachter das Schlimmste.

US-Außenminister John Kerry hat kürzlich versichert, dass sein Land Afghanistan auch in den kommenden Jahren kontinuierlich unterstützen werde. In der Bevölkerung geht aber die Angst um, dass der Staat bald aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden wird, so wie in anderen Ländern geschehen, aus denen Truppen abgezogen wurden.

"Wir sind sehr beunruhigt über den Rückzug des Westens. Das Land ist immer noch sehr fragil. Daher sind wir der Ansicht, dass sich die internationale Staatengemeinschaft während der gesamten 'Transformationsdekade' von 2015 bis 2024 Afghanistan gegenüber verpflichtet fühlen sollte, bis das Land auf eigenen Beinen stehen kann", sagt Mir Ahmad Joyenda, Vize-Direktor der 'Afghanischen Forschungs- und Evaluierungseinheit' (AREU).


Wirtschaft vor allem durch internationale Investitionen angekurbelt

Das afghanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat sich zwischen 2003 und 2012 mehr als vervierfacht. Das Wirtschaftswachstum wurde allerdings vor allem durch internationale Investitionen und Finanzhilfen vorangetrieben. Nach der US-geführten Invasion und dem Sturz der radikalislamischen Taliban im Jahr 2001 kam Afghanistan in den Genuss umfassender internationaler Hilfsgelder und Sicherheitsinvestitionen.

Seit 2007 ist das Land der weltweit größte Empfänger von Entwicklungshilfe, wie Lydia Poole in ihrem Themenpapier 'Afghanistan jenseits von 2014. Hilfe und die Transformationsdekade' für das Programm 'Global Humanitarian Assistance' (GHA) anmerkt. Demnach hat Afghanistan zwischen 2002 und 2012 etwa 50,7 Milliarden US-Dollar an offizieller Entwicklungshilfe (ODA) erhalten, einschließlich 6,7 Milliarden Dollar humanitäre Hilfe. ODA stieg dabei stetig von 1,1 Milliarden Dollar im Jahr 2002 auf 6,2 Milliarden Dollar 2012 an.


Milliarden-Zusagen bis einschließlich 2015

Am 4. Dezember trafen sich Delegationen aus 59 Staaten und Vertreter mehrerer internationaler Organisationen zu einer Afghanistan-Konferenz in London, die gemeinsam von den Regierungen Großbritanniens und Afghanistans ausgerichtet worden war. Die Teilnehmer bekräftigten ihre Entschlossenheit, dem kriegszerrissenen Land weiterhin humanitäre und Entwicklungshilfe bereitzustellen. Auf einer Vorläuferkonferenz in Tokio 2012 hatte die internationale Gemeinschaft Afghanistan für das Jahr 2015 rund 16 Milliarden Dollar zur Förderung der zivilen Entwicklung in Aussicht gestellt.

Die Beziehungen zwischen Gebern und der afghanischen Regierung sind in dem sogenannten 'Tokyo Mutual Accountability Framework' (TMAF) geregelt. Wie das Auswärtige Amt in Berlin auf seiner Homepage erklärt, legt TMAF "ein System gegenseitiger Verpflichtungen fest. Auf Geberseite steht die Zusage im Vordergrund, bis einschließlich 2015 insgesamt 16 Milliarden USD für Entwicklung und Wiederaufbau bereitzustellen. Afghanistans Regierung hat sich im Gegenzug verpflichtet, umfassende Reformen umzusetzen."

In London hat sich die Staatengemeinschaft erneut zu ihren durch das Rahmenwerk übernommenen Verpflichtungen bekannt. Dabei wurde politischen Beobachtern zufolge jedoch nur ein vager Wille bekundet, die Entwicklung Afghanistans bis 2017 "auf annähernd dem Niveau der vergangenen Dekade" zu unterstützen. Neue Zusagen für höhere Hilfsleistungen sind nicht erfolgt.

Die Staatseinnahmen seien von dem bisherigen Höchststand von 11,6 Prozent im Jahr 2011 auf inzwischen 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken, sagt John F. Sopko, Sondergeneralinspektor für den Wiederaufbau Afghanistans, bei einer Veranstaltung des US-Think Tanks 'Carnegie Endowment for International Peace'. "Damit sieht sich Afghanistan mit einem riesigen Haushaltsdefizit konfrontiert, das sich weiter vergrößert."


Wachstum in 2014 stark rückläufig

Angesichts des bevorstehenden Abzugs der Nato-Truppen steht die Wirtschaft des Landes unter erheblichem Druck. "Wir gehen davon aus, dass die Wachstumsrate von einem Durchschnittswert von neun Prozent während der vergangenen zehn Jahre auf 1,5 Prozent 2014 abgestürzt ist", erklärt Sri Mulyani Indrawati, Geschäftsführerin der Weltbank, am 4. Dezember in London.

Ein Bericht des UN-Nothilfekoordinators für 2015 weist außerdem darauf hin, dass sich Afghanistan weiterhin in einer erheblichen humanitären Notlage befindet. "1,2 Millionen Kinder sind akut unterernährt, und die Nahrungsversorgung von etwa 2,2 Millionen Afghanen gilt als extrem unsicher. Insgesamt sind fast acht Millionen Menschen von Nahrungsunsicherheit betroffen."

Inmitten der Risiken, die mit dem Rückzug des Westens in Verbindung gebracht werden, sieht Joyenda aber auch die Chance, dass die internationale Gemeinschaft ihre Prioritäten neu definiert: "Weniger Geld für Sicherheit und Waffen, dafür mehr Geld für zivile Zusammenarbeit und Wiederaufbau."

Seit 2011 liegt der Fokus der internationalen Finanzhilfen auf dem Bereich Sicherheit. In jenem Jahr waren mit etwa 132.000 Soldaten die bisher umfangreichsten ausländischen Truppenkontingente in Afghanistan stationiert. Die Ausgaben für ISAF und die US-geführte Operation 'Enduring Freedom' erreichten 129 Milliarden Dollar. Wie Poole erklärt, entfielen auf ODA hingegen nur 6,8 Milliarden Dollar, von denen 768 Millionen Dollar humanitäre Hilfe waren.


Parallelstrukturen gefährden Legitimation der Regierung

"Die Förderaktivitäten müssen mit der Wirtschaftsplanung des Staates in Einklang gebracht werden", sagt Nargis Nehan, Leiter und Gründer der unabhängigen Organisation 'Equality for Peace and Democracy', die sich für gleiche Rechte für alle Afghanen einsetzt. Nehan kritisiert, dass die internationale Gemeinschaft dem Staat durch den Aufbau von Parallelstrukturen einen Teil seiner Legitimität entzogen habe. Millionen Dollar seien über Wiederaufbauteams in den Provinzen Entwicklungs- und humanitären Projekten zugeleitet worden, die aus militärischen, entwicklungspolitischen und zivilgesellschaftlichen Komponenten bestünden. Auf diese Weise seien Entwicklungs- und humanitäre Hilfe mit den außen- und sicherheitspolitischen Agenden vermischt worden.

Auch Thomas Ruttig, Ko-Direktor und Mitbegründer des in Kabul ansässigen 'Afghanistan Analysts Network', sieht das politische Rahmenwerk von jeher als "unzureichend" an. "In den vergangenen Jahren war die internationale Gemeinschaft zumindest auf Regierungsebene mehr damit beschäftigt, den Truppenabzug vorzubereiten. Afghanistan ist seit 150 Jahren ein ('Rentierstaat') ('rentier state') und wird noch eine ganze Weile von auswärtiger Hilfe abhängig sein. In dieser Phase müssen wir die Abhängigkeit des Landes von den Gebern verringern. Wir können nicht einfach weggehen, sondern haben die politische Verpflichtung, unsere Zusagen aufrecht zu erhalten." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/12/afghan-concern-over-western-disengagement/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2014