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ASIEN/893: Indien - Begehrte Jungwähler, Wahlkampf spielt sich zunehmend im Web ab (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2014

Indien: Begehrte Jungwähler - Wahlkampf spielt sich zunehmend im Web ab

von Manipadma Jena


Bild: © Manipadma Jena/IPS

Eine Wahlkampfveranstaltung der Bharatiya-Janata-Partei in Bhubaneswar
Bild: © Manipadma Jena/IPS

Bhubaneswar, Indien, 7. April (IPS) - In Indien finden derzeit die 16. allgemeinen Wahlen statt. Rund 814 Millionen Bürger sind aufgerufen, bis zum 12. Mai ihre Stimme abzugeben. Eine besondere Bedeutung kommt diesmal den Jungwählern zu. Sie stellen fast die Hälfte aller Wahlberechtigten. Kein Wunder also, dass die Wahlversprechen auf sie zugeschnitten wurden. Und nicht nur das: Um sie zu erreichen, verlegten die Parteien und ihre Kandidaten den Wahlkampf ins Internet.

In Indien sind 383 Millionen Wahlberechtigte zwischen 18 und 35 Jahre alt. Angesichts der Bedeutung, die dieser riesigen Wählergruppe zukommt, sprechen Meinungsforscher von Indien als 'Jungistan' oder 'Land der Jungen'.

Wie Sunil Abraham vom Non-Profit-Zentrum für Internet und Gesellschaft (CIS) in Bangalore im Gespräch mit IPS berichtet, zeigen junge Leute durchaus Interesse an der Online-Performance der Parteien. "Und was vielleicht noch wichtiger ist: Politiker hören sich inzwischen an, was junge Leute zu sagen haben, und antworten ihnen."

Bereits bei den letzten Wahlen 2009 waren SMS versandt worden, um möglichst viele Wähler zu erreichen. Doch diesmal wurden alle virtuellen Register gezogen: Der Wahlkampf erfolgte via Mobil- und Smarttelefon, über die Webseiten der Kandidaten und Parteien, über interaktive Twitter-Accounts, Google+-Treffpunkte und YouTube-Videos. Nach Angaben von Internetexperten gingen mindestens zehn Prozent der 664 Millionen US-Dollar, die die Parteien für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit ausgaben, an Social-Media-Unternehmen.


Stetiger Anstieg der Internetuser

Die Zahl der indischen Internet-User wird auf 205 Millionen geschätzt. 65 Millionen von ihnen tummeln sich auf Facebook, 36 Millionen auf Google+, 16 Millionen twittern. Bis Juli 2014 wird die Zahl gemäß einem Papier der Indischen Zentralermittlungsbehörde (CBI) mit dem Titel 'Soziale Medien und Gesetzesvollzug ('Social Media und Law Enforcement' auf 243 Millionen ansteigen. Bei 192 Millionen handele es um aktive Nutzer, also Personen, die sich mindestens ein Mal im Monat im Web aufhielten. 56 Millionen der Online-User lebten im ländlichen Indien.

Abraham schätzt, dass 50 bis 60 Prozent der aktuellen Internet-Surfer 17 bis 35 Jahre alt sind. Politiker erschließen diesen großen und wachsenden Pool an Jungwählern nicht nur, um ihre Reichweite zu steigern, sondern auch, um die Resonanz ihrer Strategien überprüfen und gegebenenfalls überarbeiten zu können.

"Politiker nehmen uns unter Vertrag, um herausfinden, was in Twitter über sie gesagt wird. Wir sammeln die positiven und negativen Tweets für eine Stimmungsanalyse", erläutert Jwalant Patel, der 30-jährige Mitbegründer des Social-Media-Analyse-Unternehmens 'Meruki Analytics und Reporting Services' gegenüber IPS. Ernst genommen werden Meinungsmacher, die eine Gefolgschaft von mindestens 10.000 Twitter-Nutzern haben. Von den 70.000 Personen, die die Firma für ihre Kunden innerhalb von elf Wochen aufgespürt hatte, gehörten 90 Prozent zur Altersgruppe der 18- bis 40-Jährigen.

Patel ist der Meinung, dass es sich bei 160 der 543 Wahlkreise um 'Social-Media-Wahlkreise' handelt. Dort hingen die Ergebnisse entscheidend davon ab, inwieweit sich die Politiker im Netz engagierten. Der 63-jährige Kandidat der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) für das Amt des Premierministers, Narendra Modi, verfügt über eine Twitter-Anhängerschar von 3,66 Millionen, der 45-jährige Arvind Kejriwal von der 'Aam-Aadmi-Partei (AAP) über 1,58 Millionen Fans. Mit seinem Korruptionsbekämpfungsprogramm soll Kejriwal junge Inder erst für die Politik interessiert haben. Der 43-jährige Kandidat der Kongresspartei, Rahul Gandhi, verfügt hingegen über keinen offiziellen Twitter-Account.

Auch die hohe Beteiligung junger Menschen an den Protesten im Zusammenhang mit dem Vergewaltigungsfall in Neu-Delhi im Dezember 2012 und zugunsten des Lokpal-Gesetzes gegen Korruption hat nach Ansicht von Analysten die Politiker ebenfalls veranlasst, sich bei diesen Wahlen insbesondere um die Jungwähler zu bemühen.


Licht- und Schattenseiten des Internet-Wahlkampfs

Im 1,2 Milliarden Menschen zählenden Indien hat sich die Dynamik des Wahlkampfes verändert. Abraham stimmt der allgemeinen Ansicht zu, dass das Internet im Allgemeinen und die sozialen Medien im Konkreten das Verhältnis zwischen Wählern und Kandidaten demokratisiert hat. Gleichzeitig jedoch besteht seiner Meinung nach die Gefahr, dass Kandidaten in dem Augenblick, in dem der Wettbewerb härter wird, E-Kampagnen manipulieren könnten. "Wie können wir sicher sein, dass alle 'Gefällt-mir'-Einträge tatsächlich von echten Fans stammen?", gibt Abraham zu bedenken.

Viele junge Leute haben klare Vorstellungen von dem, was sie von Politikern erwarten können. "Die meisten führenden Parteien versprechen Arbeitsplätze für Universitätsabgänger, doch wenn eine Partei, die seit mehreren Jahren an der Macht ist, von sich behauptet, Arbeitsplätze schaffen zu wollen, dann drängt sich uns gleich die Frage auf: 'Was haben Sie denn all die Jahre zuvor getan?'", so der 20-jährige Student Siddhant Sadangi gegenüber IPS in Bhubaneswar, der Hauptstadt des östlichen Bundesstaates Odisha. "Einer neuen Partei, die mit Arbeitsplätzen wirbt, geben wir da schon eher eine Chance."

Nach offiziellen Angaben ist jeder vierte Studienabgänger arbeitslos. Frauen sind noch stärker betroffen. Da immer mehr Männer in den ländlichen Gebieten lieber studieren als in der Landwirtschaft arbeiten wollen, ist mit einer steigenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitsplätzen zu rechnen.

In den vernachlässigten Bundesstaaten des indischen Subkontinents geben junge Leute wenig auf die Versprechen der Politiker. In dem Internetforum 'Manipur Talks', in dem sich Menschen aus dem weit entfernten gleichnamigen Bundesstaat zu Wort melden, werden die Wahlversprechen der Politiker vor allem bissig kommentiert. "Die Politiker haben ihre Glaubwürdigkeit verloren und was noch schlimmer ist: Es wird nichts dafür getan, dass die jungen Leute in Manipur überhaupt wählen können", meint dazu die Sozialaktivistin Chitra Ahanthem gegenüber IPS.

Kampagnen der Indischen Wahlkommission, um junge Wähler mit Hilfe einer Online-Registrierung zu erfassen, hätten sich zu 70 Prozent ausgezahlt, sagt der Behördenleiter Harishankar Brahma. Doch bei den 30 Prozent, die nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen können, handelt es sich um junge Leute in krisengeplagten oder isolierten Unionsstaaten.


Enttäuschung und Resignation

"Die jungen Leute in Jammu und Kaschmir sind isoliert, entfremdet und wütend", bestätigt Bashir Ahmad Dabla, Leiter der Fakultät für Soziologie und Sozialarbeit an der Universität von Srinagar. "Hier wird politische Stabilität wichtiger genommen als wirtschaftliche Entwicklung. Jobs, Bildung, Wasser, Strom und Straßen sind zwar auch für Kaschmir wichtig, genießen aber keine Priorität." Bei den letzen Wahlen dort lag die Wahlbeteiligung bei gerade einmal 31 Prozent. Gut die Hälfte der Wahlberechtigten hier ist zwischen 18 und 35 Jahre alt.

Saba Firdous, eine 25-jährige Universitätsabsolventin, wird dieses Mal nicht wählen - und zwar nicht, weil sie dem Boykottaufruf kaschmirischer Separatisten folgen will. "Was uns junge Menschen umtreibt, ist der Wunsch nach einer Aufhebung des AFSPA-Gesetzes, das den Streitkräften im Kaschmir-Tal besondere Vollmachten verleiht. Wir wollen nicht länger angehalten und schikaniert werden. Wir wollen auch nicht mehr in der Angst leben müssen, getötet zu werden. Wir wollen eine Lösung des Dauerkonflikts", erläutert sie. "Die politischen Mainstream-Parteien, die ins Parlament einziehen, werden, das wissen wir nur allzu gut, nichts an der Lage ändern." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/04/youngistan-weaves-political-web/

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IPS-Tagesdienst vom 7. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2014