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ASIEN/780: China - Der kurze Marsch in den Kapitalismus (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - 3.2011
Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

China
Der kurze Marsch in den Kapitalismus

Text Birgit Fenzel


Alte buddhistische Tempel, Rückständigkeit der Landbevölkerung und extreme Armut auf der einen Seite, Wolkenkratzer, Hightech und Weltmeister im Export auf der anderen: China hat in den vergangenen 40 Jahren eine rasante Aufholjagd hingelegt, um zu den Industrienationen aufzuschließen. Wie kam es zu diesem Wirtschaftsboom? Das untersucht Tobias ten Brink am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln.


Als der chinesische Premier Wen Jiabao Mitte Juni dieses Jahres mit 13 Ministern Deutschland besuchte, war das Echo in der Presse groß. Nahezu täglich berichteten die Zeitungen über den Stand der Dinge in den deutsch-chinesischen Beziehungen. Allerdings selten, ohne dabei den Umgang mit Menschenrechten und Umweltsünden in dem asiatischen Land anzusprechen.

Das sei ja so weit in Ordnung - schließlich gebe es diese Missstände in dem Einparteienstaat tatsächlich, meint der Chinaforscher Tobias ten Brink. "Aber wenn deutsche Medien die Arbeitsbedingungen in China kritisieren oder die Rohstoffgier als Bedrohung inszenieren und dabei vergessen zu erwähnen, dass auch und gerade westliche Konzerne dahinterstecken, ist das doch sehr einseitig", so der Politikwissenschaftler.

Ohne die ausländischen Direktinvestitionen wäre die Kehrtwende von Mao zur Marktwirtschaft ökonomisch kaum so erfolgreich gewesen. Im Zuge der Globalisierung hatten viele westliche Industrien die Gunst der Stunde erkannt und in China investiert. Seitdem dienen viele Produktionsstätten des Festlandes als billige Werkbänke für Endprodukte, die im Auftrag europäischer, amerikanischer oder ostasiatischer Unternehmen zu Dumpinglöhnen zusammengeschraubt werden. "Viele der chinesischen Exporte sind gegenwärtig nur in dem Sinne 'chinesisch', als dass sie in China zusammengefügt wurden. Das bedeutet: Den Großteil der Profite erzielen die multinationalen Konzerne, nicht die lokalen Produzenten oder Zulieferer", sagt ten Brink.

In nur 40 Jahren verwandelte sich das Entwicklungsland in eine Zugmaschine der globalen Wirtschaft. Inzwischen sind die Chinesen nicht nur Exportweltmeister, sondern bauen diese Spitzenposition weiter aus.

Letztlich haben aus dieser Entwicklung aber dennoch nicht nur die multinationalen Konzerne Kapital geschlagen. Die Investitionen und Steuereinnahmen versetzten die Volksrepublik China in die Lage, eine rasante Aufholjagd hinzulegen. In nur 40 Jahren verwandelte sich das Entwicklungsland in eine Zugmaschine der globalen Wirtschaft. Inzwischen sind die Chinesen nicht nur Exportweltmeister, sondern bauen diese Spitzenposition weiter aus. Die Palette der Güter aus Fernost reicht dabei von Spielzeug über Fahrräder, Schuhe, Haushaltsgeräte bis hin zu Digitalkameras, Computern, Mobiltelefonen und Autos.


Erfolg durch günstige Konstellationen

Doch Wirtschaftsexperten sind sich darüber einig, dass die niedrigen Arbeitskosten nicht allein der Grund für die deutliche Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen sein können. "Der Erfolg Chinas hängt zu einem großen Teil mit Faktoren zusammen, die nicht von der chinesischen Machtelite beeinflusst wurden, sondern auf günstigen weltwirtschaftlichen und ostasiatischen Konstellationen beruhten", sagt ten Brink.

Die Initialzündung erfolgte im Zuge der stagnativen wirtschaftlichen Entwicklung in den alten Zentren des Kapitalismus. "Die Chinesen sahen deshalb so gut aus, weil die anderen so schlecht dastanden", beschreibt der Forscher die Situation in den 1990er-Jahren, als die westlichen Anleger Taschen voller Geld hatten und nicht so recht wussten, wohin damit. "Damals grassierte ein Anlagenotstand: Zu viel Kapital stand wenigen lohnenden Investitionen gegenüber, weshalb die Investitionsquote in Europa, Nordamerika und Japan entsprechend gering war." Hingegen versprachen sich die Investoren in dem aufstrebenden asiatischen Entwicklungsland bei allen Risiken, wie sie dort noch vor 20 Jahren herrschten, bessere Profite.


Chinas Vorteil der Rückständigkeit

Dabei lief das Hauptgeschäft von Anfang an über den Export in die alten Zentren des Kapitalismus. Das unterscheide das Land etwa von den USA. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts basierte dort seit den 1990er-Jahren deutlich mehr auf kreditfinanziertem Konsum und damit auf Pump denn auf Investitionen.

Der chinesische Aufschwung verlief dagegen laut ten Brink spiegelverkehrt: "Der Boom beruhte auf einer beispiellos hohen Investitionsquote und einer vergleichsweise geringen internen Konsumquote." Zusätzlich habe China den Vorteil der Rückständigkeit für sich entdeckt und sich mit eigenen Produkten von der billigen Werkbank der westlichen Industrieländer zum ernsthaften Konkurrenten entwickelt.

Der Computerhersteller Lenovo, der als Marktführer Mitbewerbern wie Dell oder Apple die Kundschaft abspenstig macht, ist nur ein Beispiel für die erfolgreiche Aufholjagd durch Adaption bestehender Techniken und Verfahren. "Auch wenn die Chinesen darin als besonders gut erscheinen, heißt das nicht, dass sie die Einzigen sind, die durchs Kopieren vorwärtskamen", sagt der Max-Planck-Forscher. "Das finden wir in der Geschichte so gut wie bei allen Entwicklungs- oder Schwellenländern - und auch deutsche Konzerne haben Ende des 19. Jahrhunderts dasselbe gemacht."

Als weiteren wichtigen Faktor der beispiellosen Wachstumsdynamik der chinesischen Wirtschaft nennt Tobias ten Brink die starke Einmischung des Staats in die Ökonomie: "Gerade das macht China für mich auch so spannend, weil die in den Sozialwissenschaften üblicherweise vorgenommene Trennung von Wirtschaft und Politik dort noch weniger existiert als in liberalen Marktwirtschaften." Diese Besonderheit macht das Land auch zu einem interessanten Gegenstand der vergleichenden politischen Ökonomie.


Staat schafft Grundlagen für den Kapitalfluss

In China besitzt der Zentralstaat eine entscheidende Rolle, indem er über die Verwaltung und die Rechtsetzung hinaus die Grundlagen für den Kapitalfluss schafft - indem er etwa eine funktionierende Infrastruktur im Transport-, Energie- und Kommunikationssektor zur Verfügung stellt. "Da geht nicht wie in anderen Entwicklungsländern regelmäßig das Licht aus", sagt ten Brink.

Außerdem kontrolliert der Staat nicht nur wichtige Industrieunternehmen und Schlüsseltechnologien, sondern dirigiert auch in die Geldgeschäfte und Investitionen der größten Banken hinein. Die gewaltigen Konjunkturprogramme, die während der Weltwirtschaftskrise aufgelegt wurden, nennt Tobias ten Brink als Beispiel für den "erheblichen wirtschaftspolitischen Spielraum", über den Peking durch die Kontrolle des Geldes verfügt.


Rettungsanker der Weltwirtschaft

Als in der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 auch der chinesische Wirtschaftsmotor ins Stottern geriet, veranlasste die Regierung das im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt größte Konjunkturpaket der Welt: umgerechnet rund 460 Milliarden Euro. Dies habe nicht nur die einheimische Wirtschaft vor dem Fall bewahrt, so ten Brink. "Damals erwies sich China als Rettungsanker der Weltwirtschaft. Das Wachstum in der Volksrepublik war wohl der wichtigste einzelne Faktor, der verhinderte, dass die globale Ökonomie weiter abgestürzt ist."

Das Wachstum in der Volksrepublik war wohl der wichtigste einzelne Faktor, der verhinderte, dass die globale Ökonomie weiter abgestürzt ist.

Weil dieser staatliche Interventionismus, verbunden mit einem ausgeprägten marktliberalen Unternehmergeist, sich mehr an makroökonomischen Erfolgsparametern orientiere als an den Bedürfnissen der Bevölkerung, könne ten Brink zufolge das System nicht das sein, was der Kommunistischen Partei Chinas vorschwebte, als sie die sozialistische Marktwirtschaft als offiziellen Kurs vorgab: "Vielmehr ist in China eine neuartige Variante des Kapitalismus entstanden, ein wettbewerbsgetriebener Staatskapitalismus, der in sich äußerst heterogene Produktionsregime, Unternehmenstypen und staatliche Politiken vereint. Dessen Wachstumserfolge müssten eigentlich jeden Verteidiger des freien Markts verstummen lassen."

Das bedeutet aber nicht, dass es keine Destabilisierungsgefahren gibt. "Die extrem hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt bringt erhebliche Gefährdungen mit sich", nennt der Kölner Forscher eines der größten Risiken, die den Höhenflug des chinesischen Drachen bremsen könnten. Welche negativen Auswirkungen diese Abhängigkeit hat, wurde schon in den Jahren 2008 und 2009 spürbar, als infolge der globalen Krise und des Endes des Konsumbooms in den Mitgliedstaaten der OECD die chinesischen Exporte um ein Viertel zurückgingen.


Millionen Menschen wurden entlassen

"Bei der vorwiegend für den Weltmarkt produzierenden Elektronik- und Textilindustrie, aber auch in anderen Sektoren ging die Zahl der Entlassungen in die Millionen. Dazu kam, dass durch die Kreditkrise die finanziellen Ressourcen für ausländische Investitionen geringer wurden", sagt Tobias ten Brink.

Die naheliegende Idee, durch eine Stärkung des Binnenmarkts die große Abhängigkeit der chinesischen Wirtschaft vom Weltmarkt zu beenden, bringt für die Regierung ein anderes Problem mit sich. "Dazu müssten die Löhne erheblich angehoben und die sozialen Sicherungssysteme massiv ausgebaut werden. Doch das wiederum würde aus Sicht großer Teile der Machteliten die niedrigen Arbeitskosten und Steuern als wichtigste Wettbewerbsvorteile Chinas eliminieren."

Ein weiteres Problem sieht der Wissenschaftler im politischen System selbst begründet. Auch wenn sich das Gerücht über China als einen von der Kommunistischen Partei von oben nach unten durchdirigierten Einheitsstaat hartnäckig halte, präsentiere sich in Wirklichkeit ein ganz anderes Bild. "Schon allein die Koexistenz von 22 Provinzen, fünf autonomen Regionen sowie vier Städten mit dem Status einer Provinz stellt ein ziemlich disparates Gebilde dar", beschreibt er die vielfältige Realität in China, die dadurch eher die Züge eines fragmentierten Parteienstaats besitze als die einer strikten Diktatur.

Darüber hinaus erweise sich durch die Aufteilung in fünf Regierungsebenen eine Detailsteuerung als unmöglich. Entsprechend groß sei die Rolle der lokalen Regierungsbeamten und Behördenvertreter. Nach ten Brinks Beobachtung beschränken sich diese nicht nur auf reine Verwaltungsakte, sondern beteiligen sich am Wirtschaftsleben ihrer Region. "Praktisch fördern sie nicht nur, sondern ersetzen auch wirtschaftliche Aktivitäten und entwickeln dabei ähnliche Kompetenzen wie Unternehmer", hat der Forscher bei seinen Forschungsreisen ins Land festgestellt.

"Die Beziehungen zwischen Unternehmern aller Art, Partei und Staat sind sehr eng", so ten Brink, "etwa 90 Prozent der reichsten 20 000 Chinesen verfügen über sehr gute, häufig verwandtschaftliche Beziehungen zu hohen Regierungs- oder Parteifunktionären." Dabei unterstützten auch Korruption und Bestechung die vielfältigen Allianzen zwischen den Beteiligten, wobei die regionale Wirtschaftsförderung im Mittelpunkt steht. Dadurch sei ein geschäftiger Wettbewerb etwa zwischen den Stadtregierungen entstanden, die versuchten, möglichst viele Subventionen oder Investoren für ihre Region zu gewinnen.

Doch diese Form der innerchinesischen Standortkonkurrenz hat auch ihre Kehrseiten. "Es sind Probleme der Überinvestition sowie der Verdopplung von Investitionen festzustellen, die aus der anarchischen Konkurrenz entstehen", sagt Tobias ten Brink. Zudem drohen Spekulationsblasen an den Immobilienmärkten zu platzen und sich Kredite zunehmend als "faul" herauszustellen. "Das kann eine Finanzkrise nach sich ziehen, die der Staatsrat, das Finanzministerium, die Zentralbank, aber auch andere politische Organe wie der Staatsfonds Huijin zu meistern versuchen müssen."


Konjunktur durch soziale Unterschiede gefährdet

Sollte die weltweite Konjunktur nicht im erwarteten Maße anziehen, ist Gefahr für das ganze System in Verzug. Das habe auch die Regierung in Peking erkannt. Denn schon seit einiger Zeit versucht sie, die Kreditvergabe zu reduzieren. Doch die chinesische Lokomotive hat - dem Gesetz der Masse folgend - einen langen Bremsweg.

Als Sand im Getriebe könnten sich auch die enormen sozialen Unterschiede im bevölkerungsreichsten Land der Welt erweisen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt hat China Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst. Doch sagt allein der BIP-Wert nichts über die Wohlstandsverteilung innerhalb eines Landes aus, da die Einkommensunterschiede bei seiner Bemessung keine Rolle spielen. "Neueren Schätzungen zufolge verfügen 0,4 Prozent der Haushalte über 70 Prozent des Reichtums. Der Lohnanteil am BIP ist von 53 Prozent im Jahr 1992 auf etwa 40 Prozent im Jahr 2006 gesunken", sagt ten Brink.

Damit steht in China eine vergleichsweise geringe Zahl von Menschen aus wirtschaftlichen und politischen Eliten Millionen gewöhnlicher Werktätiger gegenüber. Unter ihnen viele, die als niedrig bezahlte Wanderarbeiter auf der Suche nach Arbeit herumziehen. Jahrzehntelang hatten sie das Rückgrat der chinesischen Wirtschaftsentwicklung gebildet und schweigend zu Dumpinglöhnen am Fließband Waren für den Westen montiert.


Ungerechtigkeiten rufen Widerstand hervor

Doch grummelt es im Maschinenraum der Lok, und immer häufiger gehen Menschen auf die Straße, um Dampf abzulassen über die herrschenden Ungerechtigkeiten. Nach Auffassung des Kölner Forschers hängt das Erwachen von Widerstand mit einem Verhaltenswandel an der gesellschaftlichen Basis zusammen. "Die Wanderarbeiter siedeln sich in den Städten an und entwickeln soziale Ansprüche", so ten Brink. "Bei der Streikwelle im Sommer 2010 in der Provinz Guangdong wurden offensive Forderungen nach besserer Bezahlung gestellt, die beteiligten Arbeiter hielten Versammlungen ab und wählten eigene Delegierte." Der Regierung seien die Destabilisierungsgefahren solcher Tendenzen offenbar bewusst. Doch zeigten ihre Reaktionen das tiefe Dilemma, in dem sie steckt.

Eingeklemmt zwischen dem öffentlichen Versprechen, den Konsum zu stärken und die soziale Sicherung auszubauen, um die wachsenden Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung zu befriedigen, und dem fortdauernden Glauben an die mit niedrigen Löhnen verbundenen Wettbewerbsvorteile, schwankt die Staatsführung zwischen ausgleichend-autoritativen und desorganisiert-despotischen Formen des Krisenmanagements.

Auf Druck reagiert die Regierung mit Gegendruck, aber auch mit Gesetzen und realen Programmen wie etwa den Bestimmungen zur Heraufsetzung des Mindestlohns oder zum Ausbau sozialpolitischer Infrastrukturen. "Dafür wurden offiziellen Angaben zufolge 20 Prozent der umgerechnet 460 Milliarden Euro aus dem Konjunkturpaket investiert", sagt ten Brink. Mit diesem Geld habe die Regierung Sozialversicherungsprogramme nach westlichem Muster vorangetrieben. Nach seiner Ansicht stellen diese Bemühungen, einen sozialpartnerschaftlichen Interessenausgleich zu schaffen, einen Beweis dafür dar, dass die Staatsparole von einer harmonischen Gesellschaft "mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis" ist.

Selbst wenn sich das Inflationsziel von vier Prozent im jetzt laufenden Jahr kaum noch erreichen lässt, sieht Tobias ten Brink das Ende der chinesischen Erfolgsgeschichte noch nicht gekommen.

Allerdings greifen solche Maßnahmen zu kurz. "Weder ließ sich damit die Welle von Protesten eindämmen noch die Stärkung des Binnenmarkts garantieren", so der Chinaforscher. Auch zweifelt er daran, dass Bestimmungen zur Heraufsetzung des Mindestlohns in den Provinzen flächendeckend umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund hält er eine Eindämmung sozialer Ungerechtigkeiten für "eher unwahrscheinlich".

Vor allem aber fehle es an funktionsfähigen Arbeitnehmervertretungen. Sofern diese überhaupt in den Betrieben vor Ort zu finden seien, träten die Repräsentanten der staatlichen Gewerkschaften eher als "Co-Manager und Organisatoren von Freizeitaktivitäten" in Erscheinung denn als Interessenvertreter der Arbeitnehmer. Zudem verhindere ihre enge Anbindung an den Parteistaat eine unabhängige Gewerkschaftsarbeit. Auch führten höhere Mindestlöhne dazu, dass die ausländischen Großkonzerne mit Teilen ihrer Produktion in die Binnenprovinzen abwanderten, um weiter von den dortigen niedrigeren Arbeitskosten zu profitieren.

Selbst wenn sich das Inflationsziel von vier Prozent im jetzt laufenden Jahr kaum noch erreichen lassen sollte, sieht der Forscher das noch nicht als das absehbare Ende der chinesischen Erfolgsgeschichte. "Das Wachstum in China verläuft, ähnlich wie in anderen Ökonomien, zyklisch", erklärt er. Dass Phasen mit besonders hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts von schwächeren abgelöst werden, sei völlig normal.


Kapitalismus geht nicht ohne Krisen

"Die Gefahren sind aber trotzdem real", betont er zugleich. "Genauso wie es viele günstige Umstände waren, welche die Wirtschaft dynamisierten, gibt es Schattenseiten, die das genaue Gegenteil auslösen können." Dabei könnten sich die Faktoren, die das chinesische Wirtschaftswunder vorangetrieben haben, als ebenjene Zentrifugalkräfte erweisen, die es aus der Kurve werfen. Neben der Abhängigkeit vom Export oder den Schwankungen des Weltmarkts hält Tobias ten Brink die sozialen Ungerechtigkeiten für besonders risikoträchtig.

Alles in allem, so ten Brink, sei China keineswegs eine Ausnahmeerscheinung: "Die Behauptung, China ist China und folglich mit nichts zu vergleichen, ist ein Mythos." Den Vergleich zu anderen Kapitalismen zu suchen betrachtet er demzufolge als wichtigen Teil seiner Aufgabe als Politikwissenschaftler. Ihm geht es nicht allein um spannende Details, sondern auch um Beweise dafür, dass in China universelle Züge der kapitalistischen Modernisierung identifiziert werden können. Und dabei erweise sich einmal mehr, dass ein Kapitalismus ohne Krisen und soziale Widersprüche nicht zu haben sei. "Das gilt auch für den neuen chinesischen Kapitalismus."


GLOSSAR

OECD
Der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Development) gehören 34 Mitgliedstaaten an. Ihre Ziele sieht die im Jahr 1961 gegründete OECD mit Sitz in Paris unter anderem darin, zu einer optimalen Wirtschaftsentwicklung, hoher Beschäftigung und einem steigenden Lebensstandard beizutragen, in den Mitgliedstaaten und den Entwicklungsländern das Wirtschaftswachstum sowie eine Ausweitung des Welthandels auf multilateraler Basis zu fördern.

Sozialistische Marktwirtschaft
Offizieller Begriff der KP-Führung Chinas, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sich die Volksrepublik mithilfe einer partiellen Öffnung in Richtung des Markts in einem Durchgangsstadium zu entwickelten Formen einer sozialistischen Gesellschaft befindet. Der Markt bildet dieser These zufolge lediglich ein Instrument zur nationalen Entwicklung der Volkswirtschaft. Er wird durch den Parteistaat unter Kontrolle gehalten.

Vergleichende Politische Ökonomie
Die Vergleichende Politische Ökonomie beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in unterschiedlichen Ländern und Regionen. Um ein besseres Verständnis der Ursachen, Formen und Mechanismen des Wandels wirtschaftlicher Institutionen unter Bedingungen zunehmender Internationalisierung zu erlangen, wird die Rolle nationalstaatlicher Politik und anderer sozialer Institutionen bei der Schaffung von diversen Spielarten des Kapitalismus untersucht.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 86-87:
Scheinbare Gegensätze: Zwischen zwei westlichen Wirtschaftssymbolen steht ein Mao-Denkmal. China vereint durch seine rapide Entwicklung viele Extreme.

Abb. S. 88:
Tobias ten Brink vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung untersucht, wie China in nur 40 Jahren vom Entwicklungsland zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen konnte.

Abb. S. 89 oben:
Funktionierende Infrastruktur: Der Staat ist in China nicht nur für Verwaltung und Rechtssetzung verantwortlich, sondern schafft auch wichtige Grundlagen für die Wirtschaft.

Abb. S. 89 unten:
Grafiken: Alle Zahlen deuten nach oben: China spielt mit im Konzert der großen Wirtschaftsnationen und hat bereits Japan überflügelt (links).
Auch hinsichtlich des Bruttoinlandsprodukts nimmt die Volksrepublik mittlerweile eine Spitzenstellung ein, und ihr Wachstum wurde durch die Weltwirtschaftskrise weit weniger stark gebremst als das anderer Nationen (rechts).

Abb. S. 90 und 91:
China ist zwar ein Einheitsstaat, aber die lokalen Behörden spielen eine große Rolle. Außerdem ist die Regierung des riesigen Landes in fünf Ebenen aufgeteilt - was eine Detailsteuerung praktisch unmöglich macht. Das Bild links zeigt ein Treffen der "Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes".

Abb. S. 92 oben und Mitte:
Soziale Kontraste: Die Wohlstandsverteilung in der Volksrepublik streut stark. Vor ihren Containerunterkünften essen zugewanderte Arbeiter. Bessere Wohnungen, etwa in den Häusern im Hintergrund, können sie sich nicht leisten (oben) - ebenso wenig wie die Migrantinnen, die Mittagsschlaf im zuvor gesammelten Altpapier halten.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin
der Max-Planck-Gesellschaft, 3.2011, S. 86 - 93
Hrsg.: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011