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ASIEN/600: Nationalitätenprobleme in China (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009

Nationalitätenprobleme in China

Von Thomas Heberer


Die Unruhen in Tibet 2008 und in Xinjiang 2009 haben verdeutlicht, dass die Lage ethnisch gesehen keineswegs stabil ist. Der letzten Volkszählung von 2000 zufolge hatten die 55 "nationalen Minderheiten" mit 105 Mio. Angehörigen einen Anteil von 8,4 % an der Gesamtbevölkerung Chinas (die "Han" dementsprechend 91,6 %). China steht keineswegs vor einem Zerfall nach sowjetischem Muster. Gleichwohl nehmen die Konflikte zwischen den Nationalitäten zu.


Die Konflikte haben historische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Ursachen. Im kollektiven Gedächtnis der verschiedenen Nationalitäten manifestiert sich die historische Dimension der Konfliktfelder. Dies bezieht sich auf historische Traumata wie die blutige Niederschlagung von Aufständen verschiedener Völker gegen die Verdrängungspolitik des Kaiserhofes. Die Miao in Goizhou etwa waren im 18. Jhdt. so verzweifelt, dass sie ihre Siedlungen auflösten, teilweise sogar ihre Frauen und Kinder töteten, um mit aller Kraft und letzter Konsequenz an einem Aufstand teilnehmen zu können, der in einer Niederlage mit 18.000 toten Miao endete. Ihr gesamtes fruchtbares Land wurde an Han verteilt, die Miao mussten sich tief in öde und unfruchtbare Berggebiete zurückziehen. Bei der blutigen Niederschlagung muslimischer Aufstände im 19. Jhdt. haben chinesische Truppen ein derartiges Gemetzel angerichtet, dass sich die Zahl der Muslime nahezu halbierte. Dazu kommen die Traumata der Mao-Ära: die grausame Niederschlagung von Aufständen verschiedener Ethnien in den 50er Jahren, die Zerstörung und Schändung der Kulturgüter und religiösen Stätten, der Versuch ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Gleichschaltung. Durch die Kulturrevolution hat sich das Beziehungsgefüge zwischen den Nationalitäten grundlegend gewandelt.

Ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben sich auch traditionelle Vorstellungen von Hierarchisierung, wobei das politische Ziel in der "Kultivierung" dieser Völker bestand. Kultivierung wurde letztlich mit Sinisierung identifiziert. Diese Vorstellungen vertrugen sich mit dem Weltbild, das Stalin in den 30er Jahren für alle Völker entworfen hatte und dem zufolge auch die ethnischen Minderheiten Chinas den Stufen primitive, sklavenhalterische, feudalistische oder kapitalistische Gesellschaft zugeordnet wurden. Die von der KP formulierte Aufgabe jeder Nationalität bestand darin, den großen Bruder möglichst schnell einzuholen und sich seiner (sozialistischen) Zivilisation anzunähern. Der patriarchalische sozialistische Staat legte fest, was für die "Minderheiten" nützlich war und welche Sitten und Bräuche "gesund" (oder fortschrittlich) und damit "reformierbar" waren und welche "ungesund" (oder rückständig) waren und abgeschafft oder reformiert werden mussten.

Auf politischem Gebiet bestehen die Kernprobleme im Fehlen echter Autonomie. Zwar wurde 1984 ein Autonomiegesetz verabschiedet. Doch dabei handelt es sich um ein "weiches" Gesetz, da es aufgrund fehlender Rechtsinstitutionen (es existieren keine entsprechenden Verfassungs- und Verwaltungsgerichte) und der Überordnung der Partei über das Recht keine rechtlichen und politischen Instrumente zur Durchsetzung dieser Bestimmungen gibt. Zudem sieht das Autonomiegesetz in wichtigen Fragen wie Einwanderung von Han, Industrieansiedlung oder Schutz natürlicher Ressourcen keinerlei Mitspracherechte vor.


Kontinuität von Rückständigkeit

Ökonomisch gesehen zählen die Minoritätengebiete noch immer zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen. Zwar hat das ökonomische Defizit auch historische Ursachen und kann von daher nicht der gegenwärtigen Parteiführung angelastet werden. Gleichwohl hat eine an die Bedingungen jener Regionen nicht angepasste Entwicklungspolitik seit den 50er Jahren die Kontinuität von Rückständigkeit begünstigt, und dies, obwohl ein Großteil dieser Gebiete aufgrund reicher Rohstoffvorkommen ein signifikantes Entwicklungspotenzial besitzt. Die Mehrheit der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt in Minderheitengebieten, ein Fünftel der Angehörigen ethnischer Minoritäten gelten als arm. Trotz aller Wachstumsraten auch für die autonomen Gebiete haben sich die Entwicklungsunterschiede zwischen den Siedlungsgebieten ethnischer Minoritäten und den Han-Gebieten im Verlauf der Reformära vergrößert.

Verstärkte Zuwanderungen in Minoritätengebiete verstärken dort die Unzufriedenheit, zumal auswärtige Händler und Handwerker einheimische vom Markt verdrängen. Beschäftigte, die einer ethnischen Minorität angehören, werden oftmals schlechter bezahlt, verrichten minderwertigere Tätigkeiten und besitzen geringere Fortbildungschancen als Han. Die Bevorzugung von Han im Wirtschaftsleben hat nicht nur mit Fähigkeiten oder Vorurteilen zu tun, sondern muss zugleich als Ausdruck eines ethnischen Nepotismus begriffen werden, bei dem die Han aufgrund ihrer Dominanz und der institutionellen Abhängigkeit der Minoritäten ihre Interessen am besten durchsetzen und sich gegenseitig begünstigen können. Modernisierungsprozesse und sozialer Wandel erzeugen ein Gefühl unterschwelliger Bedrohung, weil die damit verbundene Zuwanderung von Han, die Abwanderung von Angehörigen der eigenen Ethnie, die industrielle Erschließung der Minderheitengebiete sowie die Erodierung der eigenen Kultur (Geringschätzung von eigenen Trachten, Bräuchen und Sprachen vor allem unter der Jugend) die Integration und Konsistenz der einzelnen Ethnien zu schwächen scheint.

Die Nicht-Han Völker reagieren unterschiedlich auf diese Lage. Bei einigen ethnischen Gruppen wächst das Moment der Ethnizität, d.h. das Selbstbewusstsein eigener ethnischer Identität; bei einem Teil davon schlug Ethnizität in Widerstand um (wie in Tibet oder Xinjiang), verbunden mit dem Entstehen separatistischer Bewegungen. Vor allem bei einigen kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation und der Anpassung an die Han entwickelt.

Die chinesische Nationalitätenpolitik nach 1949 wies durchaus konstruktive Ansätze auf, die für eine künftige Nationalitätenpolitik fruchtbar gemacht werden könnten. Die Volksrepublik erkannte in den 50er Jahren offiziell über 50 "nationale Minderheiten" und damit erstmals deren reale Existenz an und sicherte diese Anerkennung zugleich rechtlich ab. Es wurde ein Recht auf Autonomie formuliert und in Teilbereichen gewährt. Verfassungsrechtlich gelten alle Nationalitäten als gleichberechtigt. Diskriminierung wurde gesetzlich untersagt. Auch Ansätze zur Sonderbehandlung sind erkennbar, wie beim Hochschulzugang, bei Geburtenplanung oder Verwendung von Sprachen und Schriften. Ferner gibt es schriftlich fixierte sowie prozentual festgelegte Vertretungsrechte für die ethnischen Minoritäten in den Parlamenten aller Ebenen. Zwar sichert dies keine Partizipation im demokratischen Sinne, es weist aber auf ein gewisses Maß an Akzeptanz von Vertretungsrechten für Minderheiten und deren Inklusion in Entscheidungsprozesse hin.

Unabhängig von einer künftigen Gestaltung des Staatswesens könnten die folgenden Maßnahmen zu einer Lösung der Konfliktursachen beitragen:

• Die Schaffung eines föderativen Systems könnte zu einer regional und ethnisch angepassteren Politik führen und damit die Zentralregierung entlasten. Föderative Strukturen tragen zugleich den Unterschieden zwischen den Kulturen und Regionen Rechnung und können deren Akzeptanz erleichtern.

• Dies wiederum würde größere Rechtssicherheit voraussetzen, d.h. die gesetzliche Absicherung kultureller, ökonomischer und sozialer Autonomie. Autonome Rechte wären vor allem auch für die indigenen, kleineren Minoritäten wichtig, um deren Überleben zu sichern. Die autonomen Verwaltungseinheiten sollten zugleich über wichtige Fragen wie Zuwanderungen, Industrieansiedlung, Landnutzung und -vergabe, die Kontrolle über natürliche Ressourcen des Gebietes oder Umwelt- und Ökologieschutz selbstständig entscheiden können.

• Ein institutioneller Rahmen für die Durchführung und Durchsetzung von Autonomie wäre also erforderlich. Dies verlangt u.a. ein unabhängiges Gerichtswesen. Auch die Partei dürfte dann nicht außerhalb des Rechtsrahmens stehen und der Autonomie übergeordnet bleiben. Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ethnischen Gemeinschaften sollte das Recht eingeräumt werden, Klage gegen Rechtsverstöße zu führen.

• Geschichte und Kultur der einzelnen Nationalitäten sowie die Geschichte der interethnischen Beziehungen sollten neu bewertet werden und zwar in einem offenen Diskurs von Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten. Das Konzept der Hierarchisierung von Kulturen und Gesellschaften sollte aufgegeben und es sollte anerkannt werden, dass alle Kulturen und Nationalitäten politisch, gesellschaftlich und kulturell gleichwertig sind.

• Die Sicherstellung und Durchsetzung der genannten Rechte erfordert eine organisierte und legitimierte Interessenvertretung der einzelnen Nationalitäten, zumal das Recht auf Autonomie nur durch organisierte Gemeinschaften vertreten bzw. ausgeübt werden kann.

• Maßnahmen gegen die wachsende Diskriminierung von Angehörigen ethnischer Minderheiten sollten ergriffen werden. Zwar ist offene Diskriminierung gesetzlich untersagt, Diskriminierung herrscht allerdings latent und im Alltag und nimmt besorgniserregend zu.


Solche Maßnahmen träfen in China durchaus auf fruchtbaren Boden, zumal ethnische Minderheiten als solche formal anerkannt und gesetzlich respektiert werden und den Gesetzen zufolge die gleichen Rechte wie die ethnische Majorität genießen. Zudem besteht Konsens in der Notwendigkeit von Sonderbehandlung und positiver Diskriminierung. Doch wie realistisch ist überhaupt die Möglichkeit einer Umsetzung des vorgeschlagenen Maßnahmenkatalogs. Gewiss ist in autoritären Staatswesen keine demokratische Nationalitätenpolitik möglich. Doch immerhin ist in den letzten Jahren eine Diskussion über umfangreichere Rechte und ein größeres Maß an Partizipation für die ethnischen Minoritäten in Gang gekommen. Die Diskussion konzentrierte sich zunächst auf das Autonomiegesetz sowie dessen Mängel. Neue Denkansätze sind erkennbar, jedoch nicht so weit gediehen, dass der staatliche Diskurs durch einen öffentlichen, inter-ethnischen abgelöst wird. Die Verschärfung der Konflikte wie zuletzt in Tibet und Xinjiang dürfte die Frage des Konfliktmanagements daher zu einer der zentralen politischen Fragen werden lassen.


Thomas Heberer (* 1947) ist Professor für Politikwissenschaft und Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.
thomas.heberer@uni-duisburg-essen.de.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2009, S. 24-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2009