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ASIEN/566: Pilotprojekt für den Frieden und Disengagement-Plan (Christoph R. Hörstel)


Pilotprojekt für den Frieden und Disengagement-Plan

Kurzfassung

Von Christoph R. Hörstel

Der Autor (mitte) mit Wakil Ahmad Mutawakil und Mulla Abulzalam Zaeef

Der Autor mit Wakil Ahmad Mutawakil und Mulla Abulzalam Zaeef


Trend und Zeit in Afghanistan arbeiten gegen die Nato: Russland und China lassen dem Widerstand Waffen liefern. Militärisch sei der Krieg nicht mehr zu gewinnen, sagen führende Experten und viele Militärs weltweit - darunter auch deutsche.

Die jüngste Übersicht des weltweit renommierten Think Tanks ICOS (vormals: Senlis Council) über die Aktivitäten des afghanischen Widerstandes, allen voran die Taliban, zeigt eine dreifach stärkere Präsenz und Gebietskontrolle, Kabul ist eingekreist.(1)

Afghanistan Karte

Die Bundesregierung hat beschlossen: Die Entwicklungshilfe steigt moderat von 120 auf etwa 150 Millionen Euro - und: 1.000 Bundeswehr-Soldaten zusätzlich sollen in Nordafghanistan unter anderem auch im Rahmen der "Schnellen Eingreiftruppe" (= Quick Reaction Force - QRF) die Sicherheitslage verbessern. Ab April 2007 kamen die Tornado-Aufklärer an den Hindukusch, mit der gleichen Begründung. Trotzdem haben sich seitdem die Zahlen der "Zwischenfälle" (Selbstmordattentate, Straßenbomben, Gefechte) verdoppelt, von rund 6.400 im Jahr 2006 auf über 12.000 für 2007. Von etwa 15-20.000 Zwischenfällen ist für 2008 auszugehen. Die offiziellen Zahlen liegen jedoch seit 2007 darunter, demnach hat die Nato zu diesem Zeitpunkt begonnen, ihre offiziellen Zahlen durch neue Zählmethoden grob nach unten zu "korrigieren".

Schon damals gab es den von mir erarbeiteten Disengagement-Plan; die Bundesregierung erhielt die dringende Empfehlung, parallel zur Tornado-Entscheidung ein höchst vertrauliches Friedenssignal auszusenden: für ein "Pilotprojekt für den Frieden" in der Provinz Kunduz, das die Fähigkeit der Opposition zu konstruktiver Zusammenarbeit und Verlässlichkeit in einem überschaubaren Rahmen risikofrei und unterhalb der Ebene offizieller Diplomatie ein Jahr lang testet. Ungeachtet dessen hat die Bundesregierung auch 2008 wieder das verheerende Signal an Bevölkerung und Widerstand in Afghanistan gegeben: Außer einer schleichenden Verschlechterung der Sicherheitslage haben wir nicht viel zu bieten: Von der Aufbauhilfe versickert ein Drittel, schon vorher fließen mindestens 50% wieder an Geberländer zurück.


Eine neue Wegbeschreibung in eine erfolgreichere Zukunft steht selbstverständlich in Einklang mit den einschlägigen UN-Resolutionen:

Nachhaltiger Friede im Innern und nach außen bei sicherem Exportstopp für terroristische Aktivitäten oder Akteure durch eine demokratisch legitimierte, souveräne, verantwortungsfähige und verantwortungsvolle Regierung.

Zum Erreichen dieses Ziels gelten folgende Grundbedingungen:

1. Die Interventionsmächte verzichten auf hegemoniale, religiöse, soziale, wirtschaftliche etc. Zielvorgaben.

2. Alle politisch relevanten Gruppen in Afghanistan nehmen am künftigen politischen Prozess teil, ohne Parteiverbot.

3. Das in der Vergangenheit mittelbar oder unmittelbar in Afghanistan aktive Ausland ist sofort in Form eines Beratungsgremiums einzubinden und verzichtet auf jegliche Einmischung in Afghanistan in einem "6+3-Prozess" mit: Iran, Pakistan, Saudi-Arabien, Turkmenistan, Uzbekistan, Tadschikistan plus USA, China und Russland. Innerhalb dieses Rahmens wird die künftige Nichteinmischungspolitik bindend und mit nachzuhaltender Sanktionsmöglichkeit vertraglich festgelegt.

4. Für Afghanistan wird ein fünfjähriger, vertrauensbildender Friedensprozess aufgelegt, der "Disengagement Plan", mit stufenweise zeitlich festgelegten Zielvorgaben und daran gekoppelter, stark steigender Entwicklungshilfe bei gleichzeitig sinkender internationaler Truppenpräsenz. Alle einbezogenen Truppen gehen nach radikal veränderter friedensorientierter Strategie vor.


Gesprächspartner von afghanischer Seite für diesen Plan müssen sein:

1. Regierung Karzai - Gesprächspartner in der Management-Ebene von Präsidialamt und vier Ministerien haben dem Plan informell zugestimmt

2. Bewaffneter Widerstand aus Taliban und HIA (Hezb-i Islami Afghanistan) - beide haben informell zugestimmt

3. Nordallianz mit Prof. Rabbani, Saayaf, Fahim, Gen. Dostum

4. Vertreter sozialer Gruppen: Bauern, Nomaden, Frauen etc.


Eine Kurzdefinition des hier vorgeschlagenen Friedensplans lautet:

Multilaterale und multinationale Befriedung mit Mediation in einem dreistufigen Prozess.

Den Einstieg bildet das erwähnte Pilotprojekt in Kunduz - auf folgender Grundlage:

1. Keine Aktionen oder Vorbereitungen von Aktionen durch den Widerstand.

2. Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge.

3. Keine Aktionen/Repressionen durch staatliche Institutionen, Warlords oder fremde Truppen.

4. Sofortig viel mehr Entwicklungshilfe mit strategischer Ausrichtung und Neuordnung. (Eine solche Neuordnung habe ich im Herbst 2002 im Auftrag des Gouverneurs der Provinz Nangarhar erstmals in Afghanistan in einer viertägigen Findungskonferenz mit der gesamten Provinzregierung durchgeführt. Soforterfolg damals: Zusatzmittel von 20 Mio. US-Dollar von bisherigen Geberländern.)


Das Pilotprojekt läuft ein Jahr lang in einer Provinz. Danach münden alle Aktivitäten in den größeren Disengagement Plan, der dann zusätzlich zwölf weitere Provinzen Afghanistans erfasst. Jede Provinz durchläuft dabei drei Entwicklungsstufen, die jeweils nur erreicht werden, solange der Frieden hält:

Jahr 1: Befriedung
Beginn der Rückkehr der Flüchtlinge und des Truppenabzugs, landesübliche Bewaffnung zur persönlichen Selbstverteidigung, keine Kampfvorbereitungen, mindestens verdreifachte Entwicklungshilfe, Ende jeglicher politischer Unterdrückung, Ende aller OEF/ISAF-Aktivitäten, Vermeidung von Provokationen, Start vertrauensbildender und Mediationsmaßnahmen.

Jahr 2: Demokratisierung
Unbeeinflusste freie Wahlen zur Provinzregierung, weiterer Abzug fremder Truppen

Jahr 3: Souveränisierung
Vollendung des Truppenabzugs.


Der gesamte Disengagement Plan soll, soweit der Frieden hält, in drei Stufen ganz Afghanistan erreichen:

Stufe 1 (1. Jahr): Pilotprovinz; Vorschlag: Kunduz
Stufe 2 (2. Jahr): Zwölf weitere Provinzen
Stufe 3 (3. Jahr): Ausweitung auf ganz Afghanistan.

Rein rechnerisch ergibt sich also, dass das Gesamtprojekt mindestens eine Laufzeit von fünf Jahren erreicht, bis alle fremden Truppen vollständig abgezogen sind.


Kommt es zu ernsten militärischen Widerstandsaktivitäten, so wird der Plan zunächst unterbrochen - dauern die Gefechte an, ist der Disengagement-Prozess zu beenden, abgezogene Truppen kehren in ihre Unterkünfte zurück.

Der Prozess wird darüber hinaus begleitet durch umfangreiche Mediationsmaßnahmen, wie sie ex-Harvard-Professor John Paul Lederach(2) vorschlägt, der als Soziologe und Mediator(3) internationale Erfolge feiert und meinen Vorschlag unterstützt. Zeitrahmen dafür: mindestens 20 Jahre (Zeitachse: Curle(4)).


Krisenintervention: 6 Monate: Pilotprojekt Kunduz.
Vorbereitung und Ausbildung: 1 bis 2 Jahre für intervenierende (afghanische!) Akteure.
Aktionsrahmen: 5 bis 10 Jahre: Krisenerfahrene Akteure erarbeiten Grundlagen für Konflikttransformation.
Gewünschter Zustand: 20 Jahre: erreichbar durch neue Generation.

Die britischen Besatzer töteten seinerzeit etwa 100.000 Afghanen, die Sowjets 1,3 Millionen. Die Nato hat keine Obergrenzen definiert. Die Taliban und andere Widerständler haben seit Mitte 2008 verstärkt Kontakte zum damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama und zur Bundesregierung gesucht - nicht nur bisher ohne jeden Erfolg: Obama hat ankündigen lassen, dass er das US-Truppenkontingent in Afghanistan um 30.000 Mann aufstocken und damit verdoppeln möchte. Die Taliban haben für 2009 verstärkte Aktivitäten - auch gegen Deutsche - angekündigt.


Anmerkungen

(1) Barnett R. Rubin, Ahmed Rashid: "From Great Game to Grand Bargain", Foreign Policy, November-December 2008,
http://www.foreignaffairs.org/20081001faessay87603/barnett-r-rubin- ahmed-rashid/from-great-game-to-grand-bargain.html

(2) Kaim, Markus: "ISAF ausbauen - OEF beenden", SWP-Aktuell 43, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Juli 2007,
http://www.swp-berlin.org/de/produkte/swp_aktuell_detail.php?id=7883&PHPSESSID= 035bede3939406c85d3ea7c3a9b3a9d7

(3) Noetzel, Timo und Schreer, Benjamin: "Strategien zur Aufstandsbekämpfung", SWP-Aktuell 03, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, Januar 2008,
http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?asset_id=4635

(4) AP: "Unpopularity of Karzai government threatens Afghanistan war effort, Holbrooke warns", International Herald Tribune (IHT), 28.4.2007



Copyright 2009 by Christoph R. Hörstel


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Quelle:
Christoph R. Hörstel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2009