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ASIEN/565: Der Kaschmir-Konflikt (inamo)


inamo Heft 56 - Berichte & Analysen - Winter 2008
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Der Kaschmir-Konflikt

Von Matin Baraki


Der Kosovo-Konflikt scheint gelöst, eine Reihe von Staaten hat das Land allerdings nicht anerkannt; beim Nahostkonflikt wartet man immer noch auf das "Einbekenntnis einer historischen Hauptverantwortung für die Schaffung der Flüchtlingstragödie 1948" (John Bunzl) als Voraussetzung für einen echten Frieden. Die Konflikte in Transkaukasien und in Südasien sind noch weit von einer Lösung entfernt, insbesondere der Kaschmir-Konflikt wird uns noch eine Weile beschäftigen. Diese als Hauptkonfliktfelder des 21. Jh. zu bezeichnen, ist sicher nicht übertrieben.

Der nachfolgende Beitrag will die Grundzüge des Kaschmir-Konfliktes thematisieren und zum Schluss werden einige Thesen für eine mögliche Lösung des Konfliktes zur Diskussion gestellt.


Um auch bei der künftigen Gestaltung des Subkontinents ihren gewichtigen Einfluss zu erhalten, entsandte die britische Kolonialmacht Anfang des Jahres 1947 Lord Mountbatten als Vizekönig nach Indien, "um den Subkontinent in kürzester Zeit zu teilen."(1) Sowohl Gandhi und Nehru als auch deren Kampfgefährte, der legendäre Paschtunenführer Abdul Ghafahr Khan, kämpften für die Befreiung des gesamten, einheitlichen indischen Subkontinents, während die Muslim Liga von M.A. Jinnah die These der "Zwei-Nationen-Theorie" verbreitete, die dieser vor allem religiös begründete. In der Konsequenz bedeutete dies die Spaltung des Landes entlang der Religionen. Zwar wäre Jinnah noch im März 1946 bereit gewesen einen Kompromiss einzugehen, aber da waren wiederum die Führer der Kongresspartei "kurzsichtig und arrogant" mit Ausnahme von Gandhi, der Jinnah zum ersten Ministerpräsidenten Indiens vorgeschlagen hatte.(2) Die kommende Katastrophe hatten nur wenige vorausgesehen. Die Teilung verursachte ein unvorstellbares Chaos und löste eine bis dahin auf dem Subkontinent unbekannte Fluchtbewegung von insgesamt 16 Millionen Menschen aus, da die Grenze zwischen den neu entstandenen Staaten, der Indischen Union einerseits und Pakistan andererseits, willkürlich inmitten des von verschiedenen Völkern besiedelten Punjabs gezogen wurde. Damit wurde der in der indischen Geschichte grausamste Bürgerkrieg zwischen Hindus und Muslimen eingeleitet, wodurch die Teilung Indiens unausweichlich schien.

Die am 14.8.1947 neu aus der Taufe gehobene pakistanische Regierung begründete ihre Existenz allein auf religiöser Grundlage und erhob den Anspruch, Repräsentantin aller Muslime auf dem indischen Subkontinent zu sein, darunter auch der muslimischen Mehrheit von über 70% im Fürstenstaat Jammu und Kaschmir. Um diesem Anspruch Geltung zu verschaffen, fielen, "einige Tausend dem Islam anhängende Stammeskrieger von der pakistanisch-afghanischen Grenze kommend in den bereits von Unruhen erschütterten Westen von Jammu und Kaschmir ein. Sie verwüsteten und plünderten die Orte, die an ihrem Weg lagen, und gelangten am 25. Oktober 1947 bis kurz vor die Hauptstadt Srinagar."(3) Diese Angehörigen der Bergstämme, die zuvor nur leichte Handfeuerwaffen kannten, benutzten nun bei ihrer Invasion in Jammu und Kaschmir Tanks, Geschütze und sogar Flugzeuge.(4) Dieses Ereignis war die Geburtsstunde des nun seit über fünfzig Jahren währenden Konfliktes, der bisher zu vier Kriegen geführt hat und dessen Ende noch immer nicht in Sicht ist.

Um die Integrität seines Landes zu gewährleisten, erklärte der Maharadscha (Fürst) von Jammu und Kaschmir, Hari Singh, am 26. Oktober 1947 den Beitritt seines Landes zur Indischen Union und bat in einem Schreiben die indische Regierung um militärische Unterstützung. Diese Beitrittserklärung wurde vom Vizekönig Mountbatten am 27. Oktober formal angenommen, der dem indischen Premierminister Nehru riet, den Beitritt anzuerkennen. Auf dieser Grundlage leistete die indische Regierung Militärhilfe.

Der erste indisch-pakistanische Krieg dauerte bis Ende 1948. Seit Januar 1948 war der UNO-Sicherheitsrat mit dem Konflikt befasst. Auf Basis der Resolution der United Nations Commission for India and Pakistan (UNCIP) vom 13. August 1948 wurde am 1. Januar 1949 ein Waffenstillstand vereinbart, der eine Demarkationslinie auf der Höhe der zufälligen Kampflinien zwischen den Truppen beider Länder zog.(5) Damit war auch die Teilung Kaschmirs vollzogen, die weitere indisch-pakistanische Kriege zur Folge hatte. Über den künftigen Status Kaschmirs sollte ein Plebiszit entscheiden. Dies geht aus einem Schreiben von Mountbatten an den Maharadscha Hari Singh hervor, auf das sich Pakistan seitdem immer wieder beruft. Dort heißt es u.a. "die Frage des Beitritts sollte in Übereinstimmung mit den Wünschen des Volkes des Staates entschieden werden, es ist der Wunsch meiner Regierung, dass sobald Recht und Ordnung in Kaschmir wiederhergestellt und sein Territorium von dem Invasor gesäubert ist, die Frage des Beitritts [...] unter Einbeziehung des Volkes entschieden werden sollte."
(6)

Abgesehen davon, dass von Recht und Ordnung in Kaschmir bis heute kaum die Rede sein kann und die weitere Voraussetzung für ein Referendum ebenso wenig erfüllt ist, "wurde Nehru klar, dass eine Volksabstimmung zugleich die eine oder andere Staatsidee antasten musste. Entschieden sich die Mohammedaner Kaschmirs für Pakistan, so musste dies zugleich die Idee des säkularen Staates treffen; entschieden sie sich für Indien, so wurde damit die Existenzberechtigung Pakistans verneint."(7)


"Tashkent Declaration" und Simla-Abkommen

Während Indiens Außenpolitik auf die Unterstützung des Befreiungskampfes der noch kolonialen Länder sowie Blockfreiheit ausgerichtet war, und indische Politiker schon im März 1947, d.h. am Vorabend der Unabhängigkeit in Neu Delhi zu der historischen "Asian Relations Conference" eingeladen hatten, um über die Probleme des weiteren antikolonialen Kampfes und die Beziehungen zwischen den jungen Nationalstaaten zu beraten, leitete die pakistanische Regierung von Anfang an eine eindeutig westorientierte Außenpolitik ein. Der Kontrast verschärfte sich, als am 8. September 1954 Pakistan Mitglied der von den USA ins Leben gerufenen South-East Asia Treaty Organization (SEATO) wurde, Indien aber zum Initiator und Gründungsmitglied der Nichtpaktgebundenen Staaten und der Konferenz von 29 souveränen afrikanischen und asiatischen Staaten die vom 18. bis 24. April 1955 in Bandung (Indonesien) stattfand.

Die pakistanische Regierung erklärte am 23. September 1955 ihren Beitritt zum von Großbritannien geführten Bagdadpakt.(8) Hätte die indische Regierung von ihrer "unmoralischen Blockfreiheitpolitik"(9), wie es der damalige US-Außenminister John Forster Dulles drastisch formulierte, Abstand genommen und wäre sie den vom Westen gegründeten Bündnissen in irgendeiner Form beigetreten, hätte es in den letzten 61 Jahren womöglich überhaupt keinen Kaschmir-Konflikt gegeben.(10)

Die Proklamation Pakistans zur Islamischen Republik am 23. März 1956 sollte dem Anspruch, legitimer Vertreter der in Kaschmir lebenden Muslime zu sein, weiteren Nachdruck verleihen. Nachdem am 17. November 1956 die verfassungsgebende Versammlung von Jammu und Kaschmir den Beitritt zur Indischen Union beschlossen und am 26. Januar 1957 eine Verfassung für Kaschmir in Kraft gesetzt hatte, in der "festgelegt [ist], dass ganz Kaschmir ein integrierender Bestandteil der Republik Indien ist"(11), wurde am 27. Januar auf der Grundlage von Art. 370 der bereits 1947 vollzogene Beitritt zur Indischen Union verfassungsrechtlich sanktioniert.

Die Militarisierung von Pakistans Innen- und Außenpolitik nach dem Putsch Feldmarschall Ayub Khans 1958 und die Aufnahme Kaschmirs in die Indische Union verschärften die Spannungen um die Kaschmir-Frage, die im September 1965 in dem zweiten indisch-pakistanischen Krieg kulminierten. Während China Drohungen an die Adresse Indiens richtete, vermittelte der Ministerpräsident der Sowjetunion Alexej Kossygin in Taschkent zwischen den Konfliktparteien. Als Ergebnis schlossen der indische Ministerpräsident Lal Bahadur Shastri und Pakistans Präsident Ayub Khan einen Waffenstillstand und vereinbarten nach Artikel I der "Tashkent Declaration" vom 10. Januar 1966, auf eine gewaltsame Konfliktlösung zu verzichten.(12) Auf Grundlage von Artikel XI der Deklaration fand vom 1. bis 2. März 1966 in Rawalpindi eine Begegnung der Außenminister Indiens und Pakistans statt. Obwohl dieser Begegnung intensive diplomatische Aktivitäten folgten, konnte die Spannung zwischen beiden Ländern nicht minimiert werden. Statt dessen polemisierten die Kontrahenten gegeneinander und warfen sich vor, dafür verantwortlich zu sein, dass es nicht zur Lösung des Kaschmir-Konfliktes gekommen sei.

Der Bau einer Straße mit Hilfe von China im Jahre 1969, die Kaschmir mit Sinkiang verband und die strategische Lage dieses Raumes zu Ungunsten Indiens veränderte sowie die Verhaftung einiger pro-pakistanischer Politiker in Kaschmir verschärften die Spannungen weiter. Durch die Entführung eines Flugzeugs der Indian Airlines Ende Januar 1971 durch separatistische Kaschmiri nach Lahore (Pakistan), wo die Maschine in die Luft gesprengt wurde und die Entführer Asyl erhielten, erreichten sie einen vorläufigen Höhepunkt. Ende 1971 begann der dritte indisch-pakistanische Krieg, der schon am 16.12. zur Niederlage Pakistans und zur Abtrennung Ostpakistans als unabhängigem Staat unter dem Namen Bangladesch führte. Diese Kriegsereignisse verhinderten die zuvor vereinbarten weiteren Treffen auf höchster Ebene. Erst mit der Amtsübernahme Zulfikar Ali Bhuttos am 20. Dezember 1971 als neuem Ministerpräsident Pakistans kam es vom 28. Juni bis 2. Juli 1972 zu einem Zusammentreffen zwischen der indischen Ministerpräsidentin Indira Gandhi und Z.A. Bhutto in Simla (Nordindien). Indira Gandhi und Ali Bhutto verpflichteten sich am 2. Juli 1972 im Abkommen von Simla, den Kaschmir-Konflikt auf friedlichem Weg lösen zu wollen.(13) Gleichzeitig leitete Bhutto das pakistanische Atomprogramm ein, wovon er sich einen Abschreckungseffekt Indien gegenüber erhoffte und eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses bezüglich der Lösung des Kaschmirproblems.(14)

Im Herbst 1959 führte China einen Nacht-und-Nebel-Krieg gegen Indien und besetzte den nordöstlichen Teil von Jammu und Kaschmir.(15) In einem weiteren Grenzkrieg besetzte China 1962 beträchtliche Gebiete im Nordosten Indiens, gliederte sie in seine Provinz Sinkiang ein und nannte sie Aksai Chin. Während die indischen Regierungen sich an die Vereinbarungen von Taschkent und Simla hielten, provozierten die pakistanischen Regierungen Indien u.a. mit der Forderung der Durchführung eines Plebiszits. Denn "obwohl es zynisch klingen mag, es war und ist der alles andere überlagernde Konflikt mit Indien, der Pakistan und seine divergierenden politischen und ideologischen Kräfte zusammengehalten hat."(16)


Der Kargil-Konflikt

Im Februar 1992 begann von Muzaffarabad, der autonomen Zone Azad Jammu Kashmir (wirtschaftlich und militärisch Bestandteil Pakistans) der Marsch auf Srinagar. Dazu aufgerufen hatte Amanullah Khan, der Chef der "Befreiungsfront von Jammu und Kaschmir" (JKLF), um unter Nichtachtung der indischen Grenze die Unabhängigkeitsforderung für ganz Kaschmir zu unterstreichen. Da sich auf beiden Seiten der Grenze die Militärs in höchster Alarmbereitschaft befanden, musste diese Provokation aufgegeben werden. Diese Aktion wurde von der indischen Regierung als "Staatsterrorismus" bezeichnet; sie beschuldigte Pakistan, in Kaschmir einen Stellvertreterkrieg zu führen.(17) Im Oktober 1993 verschärfte sich der Konflikt in Kaschmir weiter, als muslimische Separatisten über die Lautsprecher der Minarette der Hazratbal-Moschee zu Versammlungen aufriefen. Bei einer Auseinandersetzung kam Khalil ul Rahman, Chef einer der drei größten muslimischen Separatistengruppen in Kaschmir, ums Leben. Beobachter gingen davon aus, dass sich in der Hazratbal-Moschee auch Söldner aus Afghanistan und dem Mittleren Osten befanden.(18) Unmittelbar nach ihrer Vereidigung im Oktober 1993 erhielt Ministerpräsidentin Benazir Bhutto eine Einladung ihres indischen Kollegen P.V. Narasimha Rao zu einem möglichst baldigen Gespräch. Man erwartete von Bhutto eine flexiblere Außenpolitik, was anscheinend der militärische Geheimdienst, Inter Service Intelligence (ISI) verhindern wollte, denn er hatte die Krise um die Moschee bewusst inszeniert, um Bhutto von einem anvisierten Treffen mit der indischen Regierung abzuhalten.(19)

In Kaschmir nahm Anfang Oktober 1996 eine neue Regierungskoalition ihre Arbeit auf. Sie kündigte an, dass sie für Frieden und Normalität in Kaschmir sorgen will. Nach dem überwältigenden Wahlsieg der Nationalkonferenz (NC) keimte erneut Hoffnung für friedliche Verhältnisse in Kaschmir auf Dieser Optimismus basierte darauf, dass die NC und ihr langjähriger Führer Dr. Farooq Abdullah, zuvor zweimal Chefminister des Bundesstaates Kaschmir, nicht unter dem Einfluss von Islamisten standen. Die indische Regierung versprach ein "maximales Maß an Autonomie", entsprechend der Forderung von Dr. Abdullah. Da die Autonomiefrage nur am Ende einer Kette von Maßnahmen stand, sollte der Wiederherstellung des Friedens, der Bekämpfung des Terrorismus, von Korruption und Nepotismus, von Armut und Arbeitslosigkeit sowie dem Wiederaufbau der nahezu zerstörten wirtschaftlichen Basis, der Bildungseinrichtungen und des Verwaltungsapparates Priorität eingeräumt werden. Angestrebt wurden eine ausgewogene Entwicklung der drei Regionen Jammu, Kaschmir und Ladakh sowie die Rückkehr der etwa 300.000 aus dem Kaschmir-Tal vertriebenen Hindus. Des weiteren die strikte Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und eine Amnestie für inhaftierte, nicht an schweren Verbrechen beteiligte Jugendliche.(20)

Diese Adhoc-Maßnahmen entsprachen genau der Vorstellung der Bevölkerung Kaschmirs, die seit langem auf den ersehnten Frieden wartete. Nach Meinung von Dr. F. Abdullah ist die Durchführung dieser Maßnahmen allerdings ohne Sicherheit nicht möglich, auf die Islamisten hinweisend, die Kaschmir mit Gewalt Pakistan angliedern oder Unabhängigkeit erzwingen wollen.(21) Die Gespräche scheiterten jedoch; sie wurden im März 1997 fortgesetzt. Außenminister Gujral kündigte an, ohne Vorbedingungen in die Verhandlungen zu gehen. Der neu gewählte Ministerpräsident Nawaz Sharif musste in der Lage sein die wirtschaftlichen und Probleme zu lösen, deren Kernstück die riesigen Militärausgaben im Kashmirkonflikt waren, die den Haushalt belasteten. Die Militärs meldeten sich zu Wort: "Es kann keine Normalisierung des Verhältnisses mit Indien geben, wenn die Kaschmir-Frage nicht geklärt wird. Sie muss den zentralen Punkt eines jeden Gespräches mit Indien darstellen,"(22) so der ehemalige pakistanische Generalstabchef Aslam Beg. Der Außenminister Gohar Ayub unterstützte die Hardliner. Schließlich drohten Nawaz Sharif und der stellvertretende Außenminister Shamshad Ahmad damit "bei einer Ausweitung des Konfliktes alle ihnen zur Verfügung stehenden Waffen einsetzen"(23) zu wollen. Am 2.8.1999 schleuste das Militär bewaffnete Gruppen in Kaschmir ein, die den blutigen Kargil-Konflikt provozierten. Eine von der indischen Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung des Krieges um Kargil enthüllte im April 2000,(24) dass die pakistanische "Northern Light Infantry" ihre Stellungen entlang der Waffenstillstandslinie in Kaschmir bereits im Oktober 1998 auf einer Länge von 150 km aufgebaut hatte, wobei auf dem Höhepunkt zwei Brigaden mit 4.000 bis 5.000 Soldaten mit Bunkerbauen beschäftigt waren.(25) Hatte Pakistan eventuell einen Krieg gegen Indien geplant? Eine bewaffnete Auseinandersetzung könnte aber nach Einschätzung von Robin L. Raphel, damalige Unterstaatssekretärin im US-Außenministerium für "South Asian Affairs" von einem "regionalen Konflikt zum Krieg mit nuklearen Waffen eskalieren, mit verheerenden Konsequenzen für die Region und darüber hinaus."(26) Der pakistanische Ministerpräsident Sharif wurde nach Washington zitiert, wo US-Präsident Bill Clinton ihn aufforderte, seine Rebellen und Militärs aus Kaschmir zurückzuziehen.(27) Auf diesen massiven Druck der USA hin begann die pakistanische Regierung mit dem Rückzug ihrer Kämpfer aus der Kargil-Region.(28) Obwohl Bill Clinton während seiner einwöchigen Südasienreise Indien deutlich sichtbar den Vorzug gab, während er Pakistan demonstrativ nur einen Kurzbesuch abstattete und "seine harten Worte an die Adresse des Militärregimes"(29) richtete,(30) gingen die pakistanischen Interventionen in Kaschmir dennoch weiter. Bei mehreren Massakern islamistischer Rebellen wurden mehr als 80 Menschen, darunter hinduistische Pilger, ermordet.(31) Ein Ende des Konfliktes war und ist immer noch nicht in Sicht.(32)


Seit 2001 bis heute verstärkter Dialog

Die Suche nach einer politischen Lösung des Konfliktes wird deshalb immer dringlicher! Der damalige indische Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee hat den pakistanischen Militärmachthaber Pervez Musharaf(33) am 24.5.2001 zu Friedensgesprächen eingeladen, wobei es in erster Linie um eine Lösung des Kaschmir-Konfliktes gehen soll. Musharaf nahm die Einladung in einem Brief an den indischen Ministerpräsidenten vom 29. Mai offiziell an und wies darin auf die Bedeutung guter Beziehungen für die wirtschaftliche Entwicklung hin. Er griff die Kernaussage des indischen Ministerpräsidenten auf, indem er die Armut als den gemeinsamen Feind beider Völker bezeichnete. Pakistan sei an einem stabilen, prosperierenden Indien, das in Frieden mit seinen Nachbarn lebe, interessiert und sei bereit über den Kaschmir-Konflikt hinaus auch über alle anderen ungeklärten Fragen in den bilateralen Beziehungen zu sprechen.(34) Im Herbst 2003 einigte man sich auf einen institutionalisierten Dialog zwischen beiden Ländern. 2005 verständigten sich der indische Ministerpräsident Manmohan Singh und Präsident Musharraf auf Grundzüge für eine mögliche Lösung des Kaschmirkonflikts. 2006 wurden Grenzübergänge zu Srinagar geöffnet, auf der sportlichen Ebene tauschte man Kricketsportler aus. Die Anschläge islamistischer Gruppen in Indien haben zwar die Gespräche immer wieder unterbrochen, trotzdem wurden sie weitergeführt. Im November 2008 meinte der neu gewählte Ministerpräsident Zardari, dass er den Kurs seines Vorgängers beibehalten wolle.


Möglichkeiten für eine politische Lösung des Konfliktes

Auf der Tagesordnung sollten folgende Punkte stehen:

1. Die völlige Demilitarisierung ganz Kaschmirs, d.h. des von der VR China und des von Pakistan besetzten sowie des von Indien regierten, aber von Pakistan beanspruchten Teils als Voraussetzung für eine mögliche Lösung des Konflikts.

2. Es muss sichergestellt werden, dass alle Beteiligten absolute Zurückhaltung bezüglich Kaschmirs an den Tag legen und keine weiteren Versuche unternehmen, die Situation ihren Gunsten zu verändern.

3. Vertrauensbildende Maßnahmen wie Gefangenenaustausch, Reiseerleichterungen (z. B. Aufhebung der Visumspflicht) für alle Kaschmiri, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit, gemeinsame Radio- und Fernsehsendungen usw. sollten vereinbart und durchgeführt werden. Vordringlich muss auch die Lösung der enormen sozialen Probleme, die nicht zuletzt durch den Konflikt verursacht worden sind, ernsthaft in Angriff genommen werden. In weiteren Verhandlungen müsste es um die Wiedervereinigung der getrennten Teile Kaschmirs, eingeschlossen die Rückgabe des von der VR China besetzten Gebietes, Vereinbarung einer Autonomie für ganz Kaschmir zunächst im Rahmen der Verfassung der Republik Indien gehen. Am Ende sollte ein Referendum unter internationaler Aufsicht über die Selbstbestimmung Kaschmirs in einem angemessenen Zeitraum stattfinden. Ein Referendum am Anfang dieses ganzen Prozesses in einem jahrelang politisch vergifteten Klima würde mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Separierung Kashmirs zur Folge haben. Dies würde keinesfalls zum Frieden in Kaschmir und auf dem indischen Subkontinent beitragen.

4. Wenn es zur Zeit auch unrealistisch erscheinen mag, so sollte doch im Ergebnis der vertrauensbildenden Maßnahmen langfristig auf eine Union zwischen Afghanistan, Indien und Pakistan hingearbeitet werden. Vermittler in einem Verhandlungsszenario, in Punkt 1 bis 3 dargelegt, wären laut Verfasser am besten die Blockfreien Staaten aber auch die Bundesrepublik Deutschland bzw. die Europäische Union, die seit langem gute Beziehungen zu den Ländern Indien und Pakistan pflegen.

Eine Vermittlerrolle der Vereinten Nationen wäre in diesem Fall eher kontraproduktiv. Denn sowohl die China als unmittelbar am Konflikt Beteiligte als auch die USA würden als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates durch ihre eindeutig pro-pakistanische Position die Hardliner in Pakistan zu einer unversöhnlichen Haltung ermutigen, wodurch eine Lösung des Kaschmir-Konfliktes zumindest erschwert, wenn nicht beinahe gänzlich unmöglich wäre. Es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass in der US-Strategie bezüglich Pakistan und Indien seit kurzem ein neuer Akzent gesetzt worden ist.

Während pakistanische Stammesgebiete an der afghanischen Grenze seit ca. eineinhalb Jahren im Rahmen des "Antiterrorkrieges" bombardiert werden, wurde Indien durch die Bush-Administration als Atommacht anerkannt. Die künftige US-Administration unter Barack Obama müsste folglich eine Rolle bei der friedlichen Beilegung des Konfliktes spielen. Der Ruf der kaschmirischen Völkerschaften nach Frieden wird dringlicher. Deren Freude über eine ernente faktische Grenzöffnung zwischen Indien und Pakistan am 21. Oktober 2008 war unüberhörbar.


Matin Baraki, lehrt internationale Politik an der Universität Marburg.


Anmerkungen

(1) Rösel, Jakob: Die Entstehung des Kaschmirkonflikts, in: Draguhn, Werner (Hrsg.): Indien 1999, Hamburg 1999, S. 161.

(2) Ali, Tariq: Pakistan, ein Staat zwischen Diktatur und Korruption, München 2008, S. 53 f.

(3) Geiger, Rudolf: Kaschmir: Vier Jahrzehnte eines Konflikts, in: Vereinte Nationen, Koblenz, Jg, 36, 1988, Nr. 2, S. 53.

(4) Vgl. Henseleit, Ulrich: Das Kaschmir-Problem, in: Deutsche Außenpolitik, Berlin, Jg. 1, H. 5, 1956, S. 465.

(5) Vgl. ebenda und Geiger, R.: Kaschmir: Vier Jahrzehnte eines Konflikts, a.a.O., S. 54.

(6) Geiger, R.: Die Kaschmirfrage im Lichte des Völkerrechts, Berlin 1970, S. 246.

(7) Rothermund, Dietmar: Die politische Willensbildung in Indien 1900-1960, Wiesbaden 1965, S. 232.

(8) Seit dem 20.8.1959 nach dem Austritt Iraks am 24.3.1959, CENTO.

(9) Baraki, M.: Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland, 1945-1978, dargestellt anhand der wichtigsten entwicklungspolitischen Projekte der Bundesrepublik in Afghanistan, Frankfurt/M. 1996, S. 83.

(10) Vgl. Weidemann, Diethelm: Kaschmir - Knotenpunkt indisch-pakistanischer Konfliktlinien, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, Jg. 41, H. 9, 1996, S. 1100.

(11) Fisch, Hans: Kaschmir - ein Bestandteil der Indischen Union, in: Deutsche Außenpolitik, Berlin, Jg. 2, 1957, H. 4, S. 313.

(12) Vgl. Chaudhry, Mohammed Saeed, Der Kaschmirkonflikt, München 1976 (in 3 Bdn.), Bd. III, S. 361, deutsche Fassung, siehe: Europa-Archiv, Bonn, 1965, S. D 111.

(13) Text des Vertrages, siehe: Europa-Archiv, Bonn, 1972, S. D 358.

(14) Vgl. Subramanian, V. Negarajan: Ein nuklearer Schatten über Kaschmir, in: Le Monde diplomatique, Beilage zur Tageszeitung (TAZ), Berlin, Juli 1999, S. 8.

(15) Da diese Besetzung heimlich geschah, kann ein genaues Datum nicht ermittelt werden. Selbst die Encyclopaedia Britannica schreibt von der im Laufe des Jahres bekannt gewordenen Besetzung Nordosten Kaschmirs durch die VR-China. Vgl. Encyclopaedia Britannica, Chicago, Vol. 12, 1973, S. 869.

(16) Weidemann, D.: Kaschmir - Knotenpunkt indisch-pakistanischer Konfliktlinien, a.a.O., S. 1099. Seit 1980 kam noch der Afghanistan-Konflik hinzu, der nicht nur dem Zusammenhalt Pakistans sondern auch seiner internationalen Position, dem Staatsbudget sowie den korrupten Politikern und Militärs zu gute kam.

(17) Vgl. Venzky, G.: Kaschmir: Der "Marsch der Selbstmörder", in: Frankfurter Rundschau (FR) 12.2.1992, S. 3.

(18) Vgl. Imhasly, Bernard: Krieg in der asiatischen Schweiz, in: TAZ, 26.10.1993, S. 3; Abgleiten Kaschmirs in den Bürgerkrieg, in: NZZ, 28.10.1993, S. 5; Haubold, Erhard: Tod in Kaschmir, in. FAZ, 4.9.1993, S. 3.

(19) Vgl. Venzky, G.: Kurz vor der Zerreißprobe, in: FR, 22.10.1993, S. 5.

(20) Vgl. Farooq Abdullah: "I won't walk into the traps of the past", in: India today, New Delhi, 31.10.1996, S. 33-36.

(21) Vgl. ebenda, S. 36.

(22) Germund, Willi: Zwei alte Feinde unternehmen einen neuen Anlauf; in: FR, 11.3.1997, S. 5.

(23) Subramanian, V.N.: Ein nuklearer Schatten über Kaschmir, a.a.O. vgl. auch: Rao, Padmar und Zuber, Helene; Aufmarsch im Paradies, in: Der Spiegel, Nr. 23 vom 7.6.1999, S. 191; Pakistan droht dem Nachbarn Indien mit Atomwaffeneinsatz, in: Oherhessische Presse, Marburg/L., 1.7.1999.

(24) India, Kargil Review Committee (Hrsg.): From Surprise to Reckoning. The Kargil Review Committee Report, 15.12.1999, New Delhi 2000.

(25) Vgl. Haubold, E.: "Sie kletterten in ihren sicheren Tod", in: FAZ, 12.4.2000, S. 8.

(26) Haubold, E.: Der ewige Brandherd Kaschmir, a.a.O.

(27) Vgl. Pakistan und USA wollen Kaschmir-Konflikt beilegen, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), 6.7.1999, S. 7.

(28) Imhasly, B.: Rückzug der pakistanischen Kämpfer aus Kargil, in: NZZ, 13.7.1999, S. 1.

(29) Imhasly, B.: Keine amerikanische Vermittlung in Kaschmir, in: NZZ, 27.3.2000.

(30) Damit leitete die US-Administration zum ersten Mal ein Strategiewechsel gegenüber Pakistan ein.

(31) Vgl. Bäuziger, Andreas: Kaschmir-Rebellen ermorden hinduistische Pilger, in: SZ; 3.8.2000, S. 4 und S. 7.

(32) Angesicht der vorhandenen Fakten muss Pakistan nach indischer Auffassung als Terrorstaat eingestuft werden. Nach den Kriterien der US-Regierung müsste eigentlich Pakistan auf die Liste der sogen. "Schurken-Staaten", nicht zuletzt wegen der Unterstützung der Entführung eines indischen Airbus nach Qandahar in Afghanistan, wodurch die Freilassung islamischer Terroristen erpresst wurde. Vgl. Indien: Pakistan ist "Terrorstaat" in: TAZ, 4.1.2000, S. 5; Imhasly, B.: Heiliger Krieg für Kaschmir, in: TAZ, 27.2.1999, S. 5; Minen-Anschlag in Kaschmir fordert 17 Todesopfer, in: NZZ, 4.1.2000.

(33) Am 20.6.2001 ließ er sich zum Präsidenten Pakistans vereidigen.

(34) Vgl. Indien lädt zum Dialog, in: TAZ, 25.5.2001, S. 9; Adam, W.: Armut ist der wirkliche Feind, in: FAZ, 28.5.2001, S. 16.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 56, Winter 2008

Gastkommentar
- Islam-Bashing: Nur eine Mode oder Mobilisierung von rechts?

Pakistan
Wegmarken einer turbulenten Geschichte
Teilung des Landes: die Gründung von Bangladesch
Hüter und Herr der Nation: die Armee
Kann Asif Zadari Pakistan retten?
Die Richterbewegung in Pakistan -
Wieviel gewonnen oder wieviel verloren
Die Außen- und Atompolitik Pakistans
Aufstieg und Fall einer Dynastie: Die Bhutto-Saga
Ein Kampf an vielen Fronten: Die politische Partizipation der Frauen
Der Kaschmir-Konflikt
Reden oder bombardieren? -
Die Taliban-Frage ist ein Regionalproblem
Pakistan in Berlin

USA-Iran
- Am 20. März 2008 haben die USA dem Iran den Krieg erklärt

Algerien
- Die Nationale Befreiungsfront Algeriens (FLN) 1954-1962

Tunesien
- Nachruf auf Georges Adda

Westsahara
- Wo eigentlich liegt Marokko?
  Wer rührt an die Grenzen in Nordwestafrika?

Piraterie
- Moderne Enterhaken - Piraterie in Südostasien

Antisemitismus
- Zwischen Antisemitismus und Islamophobie

Wirtschaftskommentar
- Peak oil?: Ölversorgung und Akkumulation

Zeitensprung
- Das Massaker in Kafr Qasim

Ex libris
- Unter der Oberfläche / Verlassen / Israel: Ein Staat sucht sich selbst /
 NGOs in Palestine / Perspectives beyond war ...?

Nachrichten//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 56, Jahrgang 14, Winter 2008, Seite 28 - 32
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009