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AFRIKA/1381: Kenia - Religion und Radikalisierung (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 151/März 2016
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Religion und Radikalisierung

In Kenia hat Extremismus keine politischen oder ökonomischen Ursachen

von Anselm Rink


Kurz gefasst: In einer Analyse der religiösen Spannungen zwischen Muslimen und Christen in Kenia werden zahlreiche Theorien überprüft, die den jüngsten Anstieg von religiöser Radikalisierung zu erklären versuchen. Die Umfrage unter unterschiedlich stark radikalisierten Christen und Muslimen zeigt, dass Radikalisierung kaum durch Makro-Faktoren, also politische oder wirtschaftliche Missstände, bedingt ist. Vielmehr geht Radikalisierung mit psychischen Faktoren, beispielsweise schwachen sozialen Beziehungen, und prozessualen Faktoren, insbesondere religiöser Identifikation und Kontakt mit radikalen Netzwerken, einher.


Seit den Pariser Terroranschlägen im November 2015 ist religiöser Extremismus auch in Europa ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Warum radikalisieren sich junge Menschen und verüben Gewalttaten? Das Phänomen ist global: Gewalt im Namen von Religion trifft verschiedenste Länder. Nigeria wird von der Terrormiliz Boko Haram terrorisiert, Kenia von Al-Shabaab und Syrien vom Islamischen Staat (IS). Etliche Experten sehen religiösen Extremismus mittlerweile als zentrales Sicherheitsrisiko des 21. Jahrhunderts an. Wie ist diese Radikalisierung zu verstehen? Ist die Religion nur Vorwand für Extremisten, die sich durch andere Ideologien austauschen ließe?

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Sozialwissenschaftler viele Theorien aufgestellt, die erklären, warum Menschen sich radikalisieren. Auf der Mikroebene verweisen Psychologen beispielsweise daraufhin, dass Traumata und psychische Störungen Radikalisierung begünstigen. Auf der Mesoebene argumentieren Soziologen, dass Netzwerke und ideologische Faktoren, wie zum Beispiel starke Religiosität, extreme Einstellungen vorantreiben. Zuletzt gibt es Politikwissenschaftler, die auf der Makroebene ökonomische und politische Umwälzungen als Treiber von Radikalisierung ausgemacht haben.

Diese Theorien wurden bisher nicht vollständig empirisch überprüft. Ein Manko ist, dass vorhandene empirische Studien sich meist auf Profile von kleinen Gruppen beschränken. Auch wenn solche Studien eine wichtige Informationsquelle sind, um Hypothesen zu bilden, werfen sie Probleme auf, weil sie selten eine Vergleichsgruppe haben. Studien, die nur radikalisierte Personen untersuchen, können schwer zeigen, welche Faktoren zur Radikalisierung geführt haben, da der Vergleich zu moderaten Personen fehlt. Darüber hinaus eignen sich Studien mit kleinen Stichproben nicht dafür, systematisch viele konkurrierende Hypothesen zu testen.

Die vorliegende Studie setzt daher andere Akzente. In einer Stichprobe mit 600 Personen habe ich zusammen mit Kunaal Sharma von der Columbia University (New York) die extremen religiösen Spannungen in Kenia untersucht. Der erste Anschlag von Al-Qaida, der zum Symbol für den Konflikt wurde, war die Bombardierung der US-Botschaft in Nairobi 1998. In den folgenden Jahren weckten weitere Anschläge die Aufmerksamkeit der internationalen Medien - fast alle gehen auf das Konto der somalischen islamistischen Terrororganisation Al-Shabaab. Die Gruppe nutzt die Präsenz kenianischer Streitkräfte im Rahmen der Friedensmission der Afrikanischen Union in Somalia als Rechtfertigung für ihre Anschläge. Ziel ist es, die "christliche" kenianische Armee zu bekämpfen, um das "muslimische" Land Somalia zu retten.

Al-Shabaab macht sich in seinen hasserfüllten Taten die historischen Auseinandersetzungen zwischen kenianischen Christen und Muslimen zunutze. Während der Kolonialherrschaft hatten die britischen Verwalter Kenias muslimischer Gemeinde erhebliche rechtliche Autonomie gewährt, weil diese lange Zeit unter der Herrschaft des omanischen Sultanats Zanzibar gestanden hatte. Im Zuge der Unabhängigkeit Kenias im Jahre 1963 forderten kenianische Muslime daraufhin ein paralleles islamisches Rechtssystem. Kenias christliche Führung widersprach den Forderungen, da ein solches System den Status des Landes als säkularer Staat untergraben hätte. Die folgenden Jahrzehnte verliefen zwischen Muslimen und Christen weitgehend friedlich. Konflikte innerhalb Kenias spielten sich vor allem entlang ethnischer Grenzen ab - forciert durch eine politische Klasse, die Ethnizität politisch instrumentalisierte. Zu den ethnischen Trennlinien gesellten sich jedoch zunehmend religiöse Konflikte. Kenias Muslime, die vor allem an der Küste wohnen, beschwerten sich insbesondere, dass die "christliche" Regierung ihre Region de jure und de facto marginalisiere. Die sich in den letzten 15 Jahren verschärfenden Spannungen boten der Terrormiliz Al-Shabaab einen Nährboden, um Jugendliche für radikale Zwecke zu instrumentalisieren. Aggressive Polizeieinsätze, massenhafte Verhaftungen von Muslimen, die vermeintlich mit Al-Shabaab in Kontakt stehen, sowie das gezielte Töten von radikalen Predigern seitens der Staatsmacht haben die Situation zugespitzt.

Obwohl das Ausmaß der Radikalisierung mittlerweile bekannt ist, zeigten unsere qualitativen Experten-Interviews mit religiösen Führern, Politikern und Professoren, dass zwar jeder seine eigene Erklärung für das Phänomen hat, jedoch wenig Einigkeit herrscht. In unserer Studie haben wir daher acht zentrale Radikalisierungsthesen getestet und sie nach ihrem Bezug zur Mikro-, Meso- und Makroebene klassifiziert. Auf der Mikroebene waren dies unter anderem schwache soziale Beziehungen und negative Lebensereignisse wie der Tod von Eltern oder Freunden. Auf der Mesoebene ging es um den Kontakt mit radikalen Netzwerken und um Konvertierungsprozesse. Auf der Makroebene schauten wir uns größere Faktoren wie politische Exklusion und ökonomische Marginalisierung an. Jede dieser acht Thesen wurde mithilfe von Fragestellungen eruiert. Schwache soziale Netzwerke wurden beispielsweise gemessen, indem Teilnehmer gefragt wurden, wie eng die Beziehungen zu Mutter, Vater und Freunden sind. Politische Exklusion wurde gemessen, indem Teilnehmer gefragt wurden, wie zufrieden sie mit dem politischen Prozess sind.

Die 600 Teilnehmer der Umfrage wurden im Eastleigh-Distrikt Nairobis ausgewählt. In Eastleigh gibt es seit Jahren erhebliche Spannungen zwischen Christen und Muslimen. Al-Shabaab hat eine starke Präsenz vor Ort und nutzt den Distrikt zur Rekrutierung zukünftiger Terroristen. Gleichzeitig hat die kenianische Polizei Hunderte von Personen im Bezirk verhaftet - oft aufgrund einer dünnen Beweislage. Gemeinsam mit einem Team von Assistenten, die vorher ein spezielles Sicherheitstraining absolvieren mussten, um sie nicht zu gefährden, interviewten wir Menschen unter 35 Jahren. Das Projekt unterschied sich dabei nicht nur im Umfang von vorherigen Studien, sondern auch darin, dass gezielt Frauen und Männer sowie Muslime und Christen ausgewählt wurden.

Radikalisierung wurde gemessen, indem Muslime gefragt wurden, inwieweit sie die Gewalt des IS befürworten. Christen fragten wir, inwieweit sie militante christliche Priester an der kenianischen Küste unterstützten. Wenn auch beide Fragen nicht direkt vergleichbar sind, stellen sie doch ein Mittel dar, Radikalisierung realistisch zu messen. Im zweiten Schritt wurden dann Fragen zu den Hypothesen gestellt.

Nach Beendigung der Umfrage wurde die Radikalisierungs-Frage mit den acht erklärenden Variablen korreliert. Das Ergebnis zeigt: Radikalisierung steht kaum mit traditionellen Erklärungen auf der Makroebene in Verbindung. Wirtschaftliche und politische Marginalisierung erklärt nicht, ob eine Person radikalisiert ist. Zweitens gehen weitere populäre Extremismus-Hypothesen, die oft in den Medien kursieren, ebenso wenig mit Radikalisierung einher: Weder das Alter noch das Geschlecht noch die Religion sagen voraus, welche Person radikalisiert war.

Antworten, warum sich Menschen radikalisieren, lassen sich in Kenia auf der Mikro- und Mesoebene finden. Auf der Mikroebene sind es vor allem psychologische Erklärungen wie schwache soziale Beziehungen, die vorhersagen, welche Person radikale Gruppen unterstützt. Auf der Mesoebene geben vor allem prozessuale Erklärungen Aufschluss. Dazu gehören religiöse Praktiken und der Kontakt mit Personen, die selbst radikalisiert sind. Dieses Ergebnis ist überraschend, da viele Experten davon ausgehen, dass Radikalisierung einzig mit ökonomischer Benachteiligung einhergeht. Unsere Ergebnisse zeigen aber, dass Radikalisierung von Variablen abhängt, die auf der Mikro- und Mesoebene agieren und Religiosität dezidiert beinhalten.

Die Ergebnisse bedeuten zweierlei. Erstens ist Radikalisierung kein monokausaler Prozess: Verschiedene Variablen interagieren. Die Erklärung gibt es nicht. Zweitens sollten De-Radikalisierungsmaßnahmen deutlich stärker das Thema Religion in den Blick nehmen. Interventionen, die alleine wirtschaftliche oder politische Veränderung zum Ziel haben, sind vermutlich weniger effizient als solche, die radikale religiöse Meinungen aufweichen. Die These, dass Radikalisierung wenig mit Religion zu tun hat, ist in Kenia nicht aufrecht zu erhalten.


Anselm Rink ist Doktorand an der Columbia University, New York und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung. Seine Forschungsthemen sind religiöse Missionierung und Radikalisierung sowie experimentelle Methoden.
anselm.rink@wzb.eu


Literatur

Botha, Anneli: "Political Socialization and Terrorist Radicalization among Individuals Who Joined al-Shabaab in Kenya". In: Studies in Conflict & Terrorism, 2014, Vol. 37, No. 11, pp. 895-919.

Brubaker, Rogers: "Religious Dimensions of Political Conflict and Violence". In: Sociological Theory, 2015, Vol. 33, No. 1, pp. 1-19.

Juergensmeyer, Mark: Terror in the Mind of God: The Global Rise of Religious Violence. University of California Press 2003.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 151, März 2016, Seite 39-41
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2016

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