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SCHLESWIG-HOLSTEIN/2129: Von der "hinkenden Trennung" von Staat und Kirche zur multireligiösen Gesellschaft (Landtag)


Der Landtag - Nr. 01 / März 2016
Die Parlamentszeitschrift für Schleswig-Holstein

Von der "hinkenden Trennung" von Staat und Kirche zur multireligiösen Gesellschaft
Oder: Warum sich die deutsche Politik mit religiöser Vielfalt so schwer tut

Von Prof. Thomas Großbölting


Als im März 2012 Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt wurde, kursierte in den Tageszeitungen wie auch im Netz eine Karikatur, die einen islamischen Geistlichen im Gespräch mit einem Taliban zeigte. Sagt der Taliban: "Ein Pastor als Bundespräsident und eine Pastorentochter als Kanzlerin." Sagt der Mullah: "Ein Gottesstaat, Respekt!"

Über diesen Bilderwitz kann man ebenso lachen wie den Kopf schütteln. Natürlich, erst einmal liegt die Karikatur völlig falsch: Laut Grundgesetz ist die Bundesrepublik ein säkularer Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern die individuelle Religionsfreiheit ebenso garantiert wie er dafür Sorge trägt, dass in Deutschland Menschen auch frei von Religion leben können. "Es besteht keine Staatskirche", so heißt es im Artikel 140 des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik ein "Gottesstaat"? Nein, laut Verfassung sicher nicht.

Schaut man allerdings genauer hin, dann spießt die Karikatur gerade in ihrer Überspitzung doch ein wichtiges Charakteristikum der politischen Kultur in der Bundesrepublik auf. Nicht nur mit Blick auf das politische Spitzenpersonal, sondern auch darüber hinaus sind Staat und Religionsgemeinschaften - in der Regel sind das die beiden christlichen Großkonfessionen - eng miteinander verbunden:

  • Die Parteien als Organisatoren der Politik und letztlich auch der Regierungsgewalt pflegen einen zwar unterschiedlich temperierten, aber doch immer regen Kontakt.
  • Der staatliche Einzug der Kirchensteuer wird begleitet von einer Reihe von zusätzlichen Staatsleistungen, die Ansprüche der Kirchen von Beginn des 19. Jahrhunderts abgleichen.
  • Die sogenannte freie Wohlfahrtspflege ist in ihren Anforderungen so weit auf die Kirchen zugeschnitten, dass in manchen Regionen Deutschlands die Kirchen den Großteil der Kindergärten, Kranken- und Pflegeeinrichtungen wie auch viele Schulen betreiben. Damit akkumulieren Caritas und Diakonie nicht nur Marktmacht, sondern machen diese auch zum größten privaten Arbeitgeber in Europa.
  • In den Schulen und an staatlichen Universitäten haben die Kirchen umfassende Möglichkeiten, ihre eigenen Überzeugungen an Schüler und Schülerinnen zu vermitteln. Auch in den öffentlichen wie in vielen privaten Medien ist den Kirchen die Mitsprache über Sitz und Stimme in Aufsichtsgremien und Beiräten garantiert.
  • Das juristische Konstrukt, welches dieses alles ermöglicht, ist das der Körperschaft des öffentlichen Rechts, nach dem die Kirchen in manchen Belangen an Staates Stelle agieren können.

Um zu verstehen, wie es zu dieser "hinkenden Trennung" von Kirche und Staat kam, ist ein Blick auf die Anfänge der Bundesrepublik hilfreich: Unmittelbar nach Kriegsende setzten nicht nur die Kirchen, sondern auch die Politik und große Teile der Gesellschaft auf eine umfassende "Rechristianisierung". Der Krieg war verloren, die Nation zerbrochen und langsam griff auch das Wissen um sich, welche schweren Verbrechen in Deutschland mit der Verfolgung und Ermordung vor allem der Juden begangen wurden. Was lag da näher, als auf die Institutionen zurückzugreifen, die den Nationalsozialismus scheinbar unbeschadet überstanden hatten? Insbesondere die katholische Kirche avancierte auf diese Weise zur Siegerin in Trümmern und ähnlich wie die evangelischen Landeskirchen zu einer hoch respektierten und einflussreichen Institution im politischen Geflecht der jungen Bundesrepublik. In einer Gesellschaft, in der weit über 90 Prozent der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen angehörte, war die "hinkende Trennung" eine Win-win-Situation: Die Kirchen boten die ideelle Basis, auf der die hoch diskreditierte Gesellschaft neu starten konnte. Im Gegenzug gewährte die Politik weitgehende Rechte und Einflussmöglichkeiten. In Sachen öffentlicher Moral und bei den Vorstellungen davon, was sich ziemt und was nicht, gingen Politik und Kirchen oftmals Hand in Hand.

Mit den Jahren und Jahrzehnten wuchs aber der Preis, der für diese besondere Konstellation zu zahlen war. Auf der einen Seite schmolz die christliche Fundierung der Gesellschaft, die dieses Arrangement plausibel gemacht hatte. Aktuell sind nur noch zwei Drittel der Deutschen Mitglied einer der christlichen Kirchen, Tendenz fallend. Auf der anderen Seite wuchs nicht nur mit der Wiedervereinigung, sondern auch in den Folgejahrzehnten der Anteil derjenigen, die sich keiner religiösen Überzeugung verbunden fühlen oder einer nichtchristlichen Religion angehören. Nicht allein die steigenden Flüchtlingszahlen der vergangenen Jahre, sondern die Einwanderung qua Globalisierung lassen die religiöse Pluralisierung ansteigen. Insbesondere für in Deutschland nicht-etablierte Religionsgemeinschaften wie den Islam bietet aber die - man höre und staune! - vom Staatskirchenrecht abgeleitete politische Praxis nur wenig Möglichkeiten zu einer gleichberechtigten Integration. Die Vorstellung davon, was "richtige" Religion ist, ist in Deutschland massiv von der engen Verbindung von Staat und christlichen Kirchen vorgeprägt.

Im Moment scheint es so, als ob das Winwin-Modell der 1950er Jahre zur Belastung der aktuellen Religionspolitik wird. Entgegen einer "hinkenden Trennung" von Staat und christlichen Kirchen wird sich die Politik stärker als bisher als ein Gegenüber profilieren müssen, welches allen Religionsgemeinschaften gegenüber gleiche Distanz oder Nähe wahrt. Und die Kirchen selbst täten ebenfalls gut daran, über ihren Status als staatsnahe Institutionen nachzudenken. Zwar sind Bistümer und Landeskirchen gut ausfinanziert und gesellschaftlich hervorragend integriert. Ihre Attraktivität aber für religiös Suchende scheint das nicht zu befördern, im Gegenteil: Momentan ist nicht zu erkennen, dass sich der Säkularisierungstrend der vergangenen Jahrzehnte grundlegend umkehrt.


ZUM AUTOR:

Thomas Großbölting, Jahrgang 1969, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er hat in Köln, Bonn, Rom und Münster Geschichte, katholische Theologie und Germanistik studiert. Aktuell befasst er sich mit dem religiösen Wandel im Nachkriegsdeutschland. 2013 erschien sein Buch "Der verlorene Himmel. Glauben in Deutschland seit 1945".

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Quelle:
Der Landtag, Nr. 01 / März 2016, S. 6-7
Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers:
Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtages
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2016

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