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NORDRHEIN-WESTFALEN/2265: "Kohle ist der Schlüssel zu allem" (Li)


Landtag intern 8/2016
Informationen für die Bürgerinnen und Bürger

"Kohle ist der Schlüssel zu allem"

Von Michael Zabka


Mittwoch, 2. Oktober 1946, die Oper zu Düsseldorf. Das Orchester der Stadt unter Leitung von Generalmusikdirektor Heinrich Hollreiser spielt Beethovens Coriolan-Ouvertüre. Es ist kurz nach 14.30 Uhr und ein besonderer Tag in der Geschichte Nordrhein- Westfalens: Der Landtag kommt zu seiner ersten, der konstituierenden Sitzung zusammen.


Ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs liegen die Städte an Rhein und Ruhr in Schutt und Asche. Die Menschen hungern, es fehlt an Allem. Nach 12 Jahren nationalsozialistischer Diktatur und 6 Jahren Krieg wächst aber auch die Hoffnung auf einen demokratischen Neuanfang. Dass der Landtag in der Düsseldorfer Oper zu seiner ersten Sitzung zusammenkommt, hat einen naheliegenden Grund: Kein anderes Gebäude in der neuen Landeshauptstadt kommt für einen solch feierlichen Anlass noch infrage.

Bereits am 24. Juli 1946 war Dr. Rudolf Amelunxen von der britischen Militärregierung zum Ministerpräsidenten ernannt und mit der Bildung eines Kabinetts beauftragt worden. Auch die Abgeordneten waren nicht gewählt, sondern ernannt.

In seiner Begrüßungsansprache sagt Amelunxen: "Gerechtigkeit und Wahrheit sind nach einem Wort des deutschen Rechtslehrers Christian Wolf die Grundlagen des Staates, nach deren Verlust der Staat in Trümmer geht. Für diese Lehre wurde Christian Wolf von dem damaligen König von Preußen unter Bedrohung mit dem Strang seines Lehrstuhls enthoben und aus dem Lande verjagt. Aber drei Jahrhunderte deutscher Geschichte haben uns von der Richtigkeit dieser Lehre überzeugt. Zwölf Jahre Nazitum, Militarismus und Despotie haben den Beweis erbracht, dass ein Staat auf längere Zeit nicht existieren kann, wenn er Geistesfreiheit und Menschenwürde mit Füßen tritt."

"Wir wissen", sagt er weiter, "dass eine Demokratie (...) in einem verstörten, verbitterten und hungernden Volk nicht über Nacht errichtet werden kann. Volksherrschaft erfordert Volksreife, sonst wird die Volksherrschaft zur Pöbelherrschaft. Die Menschenrechte können weder in Proviantwagen der Armeen importiert, noch in professoralen Studierzimmern effektuiert werden. Nur wenn jeder Droschkenkutscher auf der Straße wieder weiß, dass der Staat nicht Sache der Regierung, sondern seine eigene Sache ist, wenn die breiten Schichten des Volkes vom Gedanken der Demokratie zutiefst überzeugt sind, wenn alle willigen Kräfte am Aufbau teilnehmen können, wird der Versuch gelingen."

Man wolle an Rhein und Ruhr eine "humane Demokratie" aufbauen, "in der alle Gewalt und alles Recht, alle Wünsche und Fahrziele tatsächlich vom Volke ausgehen, in der niemand nach Geburt oder Stellung, jeder nach Leistung und Moral bewertet und behandelt wird". Ziel sei "ein von nobler Duldsamkeit getragenes Gemeinschaftsleben, in dem es keine politischen Feinde, sondern nur politische Gegner gibt".

Sir William Sholto Douglas, Marschall der Royal Air Force und Oberbefehlshaber der britischen Zone, weist in seiner Ansprache ein Gerücht zurück. Es stimme nicht, dass Kohle aus der britischen Zone als Reparationsleistung ausgeführt werde. Ein Teil der Ruhrkohle werde tatsächlich ins Ausland verkauft, erklärt er. Aber: Den Erlös investiere man in Nahrungsmittel, die Deutschland dringend brauche. "Kohle ist der Schlüssel zu allem", erklärt Douglas, die Steigerung der Produktion sei von größter Wichtigkeit: "Wenn die Förderung nicht erhöht werden kann, dann kann es auch keine Erholung des deutschen Wirtschaftslebens geben, ja, die Lage mag sich sogar noch verschlechtern." Der Bergarbeiter trage eine schwere Last, sagt er, "er trägt das deutsche Volk auf seinen Schultern und verdient bevorzugte Behandlung".


"Sorge für den Bergmann"

Ministerpräsident Amelunxen sieht das genauso. Es gelte, alle "verfügbaren Kräfte anzuspannen und alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Kohlenproduktion zu steigern. Die erste Voraussetzung hierfür ist die verständnisvolle Sorge für den Bergmann und seine Familie. Der Beruf des unter Tage arbeitenden Bergmanns ist der schwerste und die Arbeit des Bergmanns volkswirtschaftlich die wichtigste". Bergmänner müssten mit ihrem Lohn deshalb endlich an der Spitze der Arbeiterschaft stehen. Ihre ausreichende Ernährung müsse unbedingt sichergestellt werden, ihre Wohnverhältnisse seien so zu gestalten, "dass sie ihm Entspannung und Wohlbehagen nach seiner harten Arbeit zu bieten vermögen". Es sei auch zu überlegen, "ob wir nicht viele Bergarbeiter in den Besitz eines Eigenheims bringen können".

Ein weiteres Thema der Sitzung ist die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln. "Mehr als das Geld interessiert unser Volk das Brot", meint Ministerpräsident Amelunxen. Die Landesregierung sei Tag und Nacht bemüht, "die Lebensmittelzuteilungen, namentlich für die Industriebevölkerung an Rhein und Ruhr, unter allen Umständen zu sichern, mag es sich dabei um die Anlieferung von Einkellerungskartoffeln oder die Lenkung anderer Lebensmitteltransporte handeln".

"Unsere ständige Sorge gilt den Flüchtlingen und Ausgewiesenen, die aus den Ostgebieten in unser Land eingeströmt sind, die ohne Hab und Gut vor einem Nichts sich befinden und in ihrer Not nur aufgerichtet werden können, wenn die gesamte Bevölkerung zur Hilfe bereit ist", erklärt Amelunxen. Mit den anderen Länderchefs der britischen Zone habe er den Kontrollrat in Berlin darum gebeten, "den weiteren Zustrom von Vertriebenen in unsere Zone zu unterbinden". Und: "Wir fordern ein überzonales Flüchtlingsamt, dessen Aufgabe es sein soll, die Flüchtlinge in vernünftigem Ausgleich unter Beachtung der örtlichen Aufnahmefähigkeit auf alle Zonen zu verteilen.

Auch die Hilfe für Schwerkriegsgeschädigte und ihre Angehörigen liege der Regierung am Herzen. Man rechne in NRW mit mindestens 10.000 Hirnverletzten und 1.000 Kriegsblinden. Dann das Thema Bildung: "Wir werden Wege finden, wissenschaftlich begabten Arbeitern das Hochschulstudium zu ermöglichen." Der Erwachsenenbildung, den Hochschulen und Volksbüchereien werde man "Fürsorge und Liebe angedeihen lassen". Zum ersten Landtagspräsidenten hatten die Abgeordneten zuvor einstimmig den Sozialdemokraten Ernst Gnoß gewählt.


Sämtliche Zitate sind dem Protokoll der Eröffnungssitzung entnommen. Der vollständige "Stenographische Bericht" ist auf den Internetseiten des Landtags nachzulesen
(www.landtag.nrw.de, dann: Dokumente & Recherche, Dokumentenabruf, Plenarprotokolle 1946-1947, Dokumenten-Nr. 1).


Am Anfang stand die "Operation Marriage"

Das Land NRW verdankt seine Entstehung der "Operation Marriage" (Operation Hochzeit). So lautete 1946 der Codename der britischen Militärregierung für ihren Plan, die früheren preußischen Provinzen Nordrhein und Westfalen zu einem neuen Bundesland zu "verheiraten". Die britische Regierung billigte diesen Plan. Am 23. August 1946 wurde er umgesetzt.

Der erste Landtag wurde nicht gewählt, sondern von der britischen Militärregierung ernannt. Er setzte sich aus 100 Mitgliedern des nordrheinischen Landesteils und weiteren 100 Mitgliedern des früheren westfälischen Provinzialrates zusammen. Die Sitzverteilung orientierte sich an den Ergebnissen der preußischen Landtagswahl und den beiden Reichstagswahlen aus dem Jahr 1932: SPD 71, CDU 66, KPD 34, Zentrum 18, FDP 9, Unabhängige 2.

Zum Kabinett gehörten neben Ministerpräsident Dr. Rudolf Amelunxen folgende Minister: Dr. Walter Menzel (Inneres), Franz Blücher (Finanzen), Dr. Erik Nölting (Wirtschaft), Dr. Fritz Stricker (Verkehr), Dr. Hermann Heukamp (Ernährung), August Halbfell (Arbeit), Heinz Renner (Wohlfahrt), Dr. Wilhelm Hamacher (Kultus), Hugo Paul (Wiederaufbau), Eduard Kremer (Justiz).

Die erste Landtagswahl fand am 20. April 1947 statt. Zuvor war ein dritter Partner in das Bindestrichland Nordrhein-Westfalen aufgenommen worden: Am 21. Januar 1947 wurde das Land Lippe mit NRW vereinigt - alle drei Landesteile finden sich im NRW-Wappen: der Rhein für das Rheinland, das Ross für Westfalen und die Rose für Lippe.

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Quelle:
Landtag intern 8 - 47. Jahrgang, 11.10.2016, S. 12-13
Herausgeberin: Die Präsidentin des Landtags Nordrhein-Westfalen,
Carina Gödecke, Platz des Landtags 1, 40221 Düsseldorf
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Internet: www.landtag.nrw.de, www.landtagintern.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2016

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