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PRESSEKONFERENZ/1415: Merkel nach dem informellen Treffen der 27 EU-Staats- und Regierungschefs, 10.03.2017 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Im Wortlaut
Mitschrift der Pressekonferenz in Brüssel - Freitag, 10. März 2017
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach dem informellen Treffen der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultanübersetzung)


BK'in Merkel: Wir haben heute unter den 27 Mitgliedstaaten eine umfangreiche Diskussion zur Vorbereitung der Erklärung von Rom gehabt. An dieser Diskussion haben sich alle Mitgliedstaaten ausführlich und konstruktiv beteiligt. Wir haben heute keine Textberatung gemacht; vielmehr wird auf der Grundlage der Elemente, die wir heute beraten haben, die endgültige Textfassung dann noch mit Hilfe der Sherpas erarbeitet werden. Die Sitzung in Rom selber wird keine Beratungssitzung sein, vielmehr wird der Text dort an historischer Stätte verabschiedet werden. Es war also eine Orientierungsdebatte, und alle waren sich einig, dass wir die 60 Jahre Römischer Verträge mit einer solchen Erklärung würdigen sollten.

In dieser Erklärung werden natürlich erst einmal die Fragen dessen, was wir erreicht haben, noch einmal genannt werden. Mir war hier sehr wichtig, deutlich zu machen, dass bei allen Problemen, die wir haben, die Europäische Union ein gelungenes Modell ist, bei dem wirtschaftliche Stärke und soziale Sicherheit in einem Maße verwirklicht werden, wie man das auf der Welt selten findet.

Wir wollen - darüber bestand bei allen Einigkeit - ein Signal der Gemeinsamkeit und der Geschlossenheit abgeben, und wir haben dazu auch schon Vorarbeiten in den verschiedensten Runden getroffen. Ich möchte mich ganz besonders bei der maltesischen Präsidentschaft und dem Ministerpräsidenten Joseph Muscat bedanken, genauso wie beim italienischen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni, der ja Gastgeber sein wird, sowie bei Donald Tusk und bei Jean-Claude Juncker, die in der Vorbereitung ebenfalls eine wesentliche Rolle gespielt haben.

Wir haben ausdrücklich gesagt, dass wir heute keine Diskussion über das Weißbuch führen, das die Kommission vorgelegt hat; diese Diskussion wird später erfolgen. Das Motto oder die gedankliche Überschrift war, dass wir geeint sind, aber auch in Vielfalt geeint. Dieser Gedanke ist auch in den letzten sechs Jahrzehnten immer wieder deutlich geworden. Ich habe noch einmal darauf hingewiesen, dass Vitalität und Unterschiedlichkeit auch dadurch gewährleistet sein müssen, dass kreative Fähigkeiten und Innovationskraft gerade auch aus den Regionen und aus dieser Vielfalt entstehen können.

Wir haben deutlich gemacht, dass es uns um Wettbewerbsfähigkeit und die Vollendung des Binnenmarktes geht und dass wir die internationalen Herausforderungen, die Globalisierung, die Digitalisierung gestalten wollen - zum Wohl der Menschen, zum Wohle von Arbeitsplätzen, zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger.

Wir haben darüber gesprochen, dass sich nationale Zugehörigkeit und Eintreten für die Europäische Union nicht sozusagen ausschließen - wir sagen in Deutschland ja oft, dass das zwei Seiten ein- und derselben Medaille sind. Wir haben auch sehr deutlich gemacht, dass die Europäische Union ein einzigartiges Friedenswerk ist und dass das, was vor 20 Jahren noch ganz selbstverständlich erschien, heute in unserer Nachbarschaft immer wieder neu erarbeitet werden muss. Wir haben gestern ja auch ausführlich über die Situation auf dem westlichen Balkan gesprochen, wo wir in den 90er-Jahren ja in unserer Nachbarschaft sehr kriegerische Auseinandersetzungen gesehen haben.

Europa muss immer weiter gestaltet werden, und auch die Art und Weise, in der wir das tun wollen, hat heute eine sehr große Rolle gespielt. Es ist sehr ausführlich über das Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten gesprochen worden. Hier sind Befürchtungen geäußert worden, dass das bedeuten könnte, dass es sozusagen verschiedene Klassen von Europa gibt. Ich habe aber, wie viele andere auch, noch einmal deutlich gemacht, dass eine solche Unterschiedlichkeit in der Einheit Europas in unseren Verträgen ja bereits angelegt ist und wir das ja schon heute als gelebte Realität haben. Jean-Claude Juncker hat das eben auch noch einmal in sehr eindrucksvoller Form an vielen Beispielen dargestellt.

Wir kennen das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit, wir kennen das Instrument der strukturierten Zusammenarbeit. Auch die Zusammenarbeit im Bereich von Sicherheit und Verteidigung hat heute eine große Rolle gespielt. Wir haben in der Diskussion auch darauf hingewiesen, dass in der Erklärung von Rom unsere Nachbarschaft Erwähnung finden sollte, und zwar sowohl die östliche Nachbarschaft als auch unser Nachbar Afrika, mit dem wir ja nicht nur durch die Fragen der Migration, sondern auch durch die Nachbarschaft mit Blick auf das Mittelmeer engstens verbunden sind.

So gibt es, würde ich sagen, noch ein ganzes Stück Arbeit zu leisten. Man kann aber auch sagen: Was die Grundstruktur betrifft, die uns heute von Malta, Italien, Jean-Claude Juncker und Donald Tusk vorgegeben wurde, so wurden die grundsätzlichen Fragen alle sehr positiv beantwortet. Insofern bin ich recht optimistisch, dass es uns gelingen wird, eine solche gemeinsame Erklärung auch zu verabschieden.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, alle Staats- und Regierungschefs waren ja von der Ratspräsidentschaft oder von den Verfassern dieses Entwurfs aufgefordert, Elemente zu identifizieren, mit denen sie Schwierigkeiten haben. Welche Elemente außer dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten stellen eine Schwierigkeit dar? Wie zufrieden sind Sie mit diesem Papier, das ja doch sehr allgemein gehalten ist? Eigentlich kann man da doch gar keine Elemente finden, die schwierig sind, oder?

BK'in Merkel: Mir ging es in der heutigen Diskussion erst einmal darum, zu sagen, dass wir mit der Grundstruktur sehr zufrieden sind. Ich habe von meiner Seite noch einige Wünsche zur Erweiterung vorgebracht. Ich glaube, dass der Gesamtton in Bezug auf das, was wir erreicht haben, durchaus selbstbewusst und optimistisch sein kann.

Ich habe darauf hingewiesen, dass wir Globalisierung nicht nur als etwas begreifen sollten, vor dem wir uns schützen müssen, sondern dass wir sie aktiv gestalten wollen.

Ich glaube, dass der Klimaschutz eine Rolle spielen sollte.

Andere Mitgliedstaaten haben darauf hingewiesen, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau gerade auch im Zusammenhang mit der sozialen Frage eine Rolle spielen sollte. Das Thema der sozialen Frage hat auch eine Rolle gespielt, weil die Kompetenz hierfür ja durch die Verträge begrenzt ist. Einige Mitgliedstaaten haben darauf hingewiesen, dass sie sich sehr zu der sozialen Dimension in Europa bekennen, weisen allerdings auch auf die Kompetenz von Mitgliedstaaten hin. Wir haben ja keine vergemeinschaftete Arbeits-, Renten-, Pflege- oder Gesundheitspolitik - das ist ja bekannt -, und trotzdem ergänzen sich diese Elemente.

Wir haben auch noch einmal über die Notwendigkeit von Sicherheit und Verteidigung gesprochen und dann eben über die Nachbarschaft.

Ein großer Teil der Diskussion war also im Grunde, vielleicht auch noch zusätzliche Elemente anzuregen. Insgesamt gab es aber eine sehr positive Einstellung zu dem, was die genannten vier uns vorgelegt haben.

Dass eine solche Erklärung allgemein gehalten ist, liegt ja in der Natur der Sache. Wir machen ja jetzt keine Richtlinienarbeit. Wenn Sie sich die Erklärung von Berlin zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge anschauen, dann sehen Sie, dass das auch eine allgemeine Erklärung war. Wir wollten jetzt keine neuen 100 Seiten über unsere nächsten Arbeitsplanungen verfassen, sondern es ging um eine Bestandsaufnahme, um eine Grundausrichtung, um Einigkeit und auch um Konzentration auf wesentliche Dinge. Einen breiten Raum hat die Frage der Kohäsion eingenommen, also die Frage: Wie sehr wachsen wir zusammen, und wie können wir das durch Vielfalt, Kreativität und Innovationskraft in Zukunft auch noch besser hinbekommen?

Frage: Frau Bundeskanzlerin, der polnische Außenminister Waszczykowski hat im Zusammenhang mit der Wiederwahl von Herrn Tusk von einem "Berliner Diktat" gesprochen. Ähnlich hat sich Parteichef Kaczy'nski geäußert. Verbitten Sie sich solche Äußerungen? Kann man in so einem Klima vernünftig über die Zukunft der Europäischen Union sprechen? Rechnen Sie damit, dass angesichts des Verhaltens der polnischen Regierung und solcher Töne die Bereitschaft in Deutschland und Deutschlands abnimmt, sich finanziell solidarisch gegenüber Polen zu zeigen?

BK'in Merkel: Ich will jetzt keinerlei Drohungen in Form von Finanzen machen; das steht zurzeit nicht zur Debatte. Wir haben eine finanzielle Vorausschau für die nächsten Jahre, und auf dieser Basis arbeiten wir.

Für mich zählt das, was gestern stattgefunden hat. Es haben sich 27 Mitgliedstaaten für die weitere Amtszeit von Donald Tusk ausgesprochen, und das sind 27 selbstbewusste Mitgliedstaaten. Einer davon war Deutschland, 26 davon waren nicht Deutschland.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, eine Frage zum Zeitplan: Wie würden Sie das Jahr 2017 einschätzen? Wenn jetzt in den Römischen Verträgen quasi die Ziele genannt werden, wird dann die eigentliche, inhaltliche Arbeit erst nach der französischen und der deutschen Wahl beginnen, also wahrscheinlich 2018?

Zweite Frage zu einem anderen Thema: Haben Sie hier eigentlich mit Ihren holländischen und österreichischen Kollegen darüber gesprochen, wie man gemeinsam mit der Türkei umgeht, weil man sich ja da die Frage stellen kann, warum diese Konflikte eigentlich immer bilateral und nicht im Verbund europäischer Staaten gehandelt werden?

BK'in Merkel: Die Arbeit findet ja laufend statt. Ich meine, es gibt permanent Wahlen - wir werden im März Wahlen in Bulgarien haben, wir haben jetzt Wahlen in den Niederlanden -, und deshalb können wir nicht jedes Mal auf Wahlen Rücksicht nehmen.

Wenn wir uns einmal anschauen, was wir zwischen dem Sommer und heute im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschafft haben - ausgehend von einer deutsch-französischen Initiative, aufbauend auf die vertragliche Möglichkeit der strukturierten Zusammenarbeit, und vor wenigen Tagen wurde beschlossen, dass man bereits eine strukturierte Einheit bildet, aus der heraus dann zivile und militärische Einsätze kombiniert geplant und durchgeführt werden können -, dann würde ich sagen, dass wir jetzt in einigen Teilen eine sehr hohe Geschwindigkeit erreicht haben, genauso auch beim Aufbau einer europäischen Grenzschutzpolizei. Ich hoffe, dass auch die Beratungen zum einheitlichen europäischen Asylrecht vorankommen.

Das heißt, die Wahlen werden nicht sozusagen jeden Fortschritt aufhalten. Aber die grundsätzliche Diskussion über das Weißbuch - das habe ich jedenfalls deutlich gemacht - sollte etwas länger als nur bis zum Ende des Jahres 2017 dauern können. Aber das Weißbuch stand heute nicht zur Debatte. Die Ziele, die wir uns jetzt in der römischen Erklärung vorgeben, werden fortlaufend und permanent bearbeitet.

Ich habe am Rande kurz mit dem holländischen Ministerpräsidenten über die Situation in der Türkei gesprochen. Ich habe auch darauf hingewiesen, dass wir uns, wenn die Bewertung der Venedig-Kommission jetzt kommen wird, vonseiten des Rates wünschen, dass die Europäische Kommission auch mit dem Europarat zusammenarbeitet, um die Bewertungen gemeinsam vorzunehmen. Wir haben ja immerhin eine Parlamentarische Versammlung des Europarats auf der einen Seite und zum anderen eben auch die europäischen Institutionen. Ansonsten muss und wird jeder sicherlich auch einzeln mit den jeweiligen Gegebenheiten umgehen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, in wenigen Tagen werden Sie in die USA fliegen. Dort wird die Europäische Union ja sicherlich auch Gesprächsthema sein. Welches Bild vom Zustand der EU und von der Notwendigkeit dieses Zusammenschlusses wollen Sie Ihrem Gesprächspartner dabei vermitteln?

BK'in Merkel: Ich glaube, die Diskussion über das, was wir in Rom sehr komprimiert in der Erklärung darstellen wollen, war ja heute auch durchaus für eine Bestandsaufnahme dessen, wo wir stehen, hilfreich. Ich werde als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland natürlich darauf hinweisen, dass für uns Nationalstaat und Mitgliedschaft in der Europäischen Union zwei Seiten ein und derselben Medaille sind und dass es Kompetenzen gibt, die vergemeinschaftet sind, also durch die europäischen Verträge von der Kommission für die Mitgliedsstaaten wahrgenommen werden, darunter die Kompetenz in Fragen des Handels.

Ansonsten möchte ich den Gesprächen nicht vorgreifen. Wir werden daran arbeiten, zu versuchen, die Interessen unserer Länder, der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands - Deutschland ist eingebunden in die Europäische Union -, zu besprechen und möglichst auch Gemeinsamkeiten zu identifizieren.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, was wird nach der Deklaration in Rom der Unterschied zwischen dem Europa verschiedener Geschwindigkeiten und dem Europa, das wir jetzt haben, sein - in einem Sinne, den die Bürger verstehen können?

Eine zweite Frage, wenn ich darf: Stimmen Sie mit ihrer Kollegin Theresa May überein, dass Russland eine negative Rolle auf dem Balkan spielt? Sie hat konkret über den angeblichen Coup d'État in Montenegro gesprochen. - Danke.

BK'in Merkel: Wir haben heute schon ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Das ist, wie ich es eben schon gesagt habe, auch in den Verträgen angelegt: Nicht alle Mitgliedsstaaten sind im Euro. Nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gehören zum Schengen-Raum, also dem Raum der Freizügigkeit der Bewegung. Wir haben bereits einen Unterschied in der Frage der Innen- und Justizpolitik. Da gibt es Opt-out-Regeln. Das heißt, es ist nichts Neues. Wir haben im europäischen Patentrecht, im europäischen Scheidungsrecht und jetzt wahrscheinlich auch bei der europäischen Staatsanwaltschaft immer schon einige Mitgliedsstaaten, die dabei mitmachen.

Jetzt geht es eigentlich nur noch einmal darum, in Rom deutlich zu machen, was sozusagen der Geist ist, in dem wir das tun. Der Geist ist, dass das für jedes Mitgliedsland offen ist. Es ist also kein Ausschluss. Es sind nicht etwa, wie heute jemand fragte, konzentrische Kreise, wobei der eine zu dem einen Kreis gehört und der andere fest zu dem anderen Kreis, sondern es sind Projekte, für die sich Mitgliedsstaaten entscheiden können. Zum Beispiel gibt es bei der Finanzmarkttransaktionssteuer zurzeit zehn Länder, die an so etwas arbeiten, wobei aber - und das ist das Kennzeichen unserer Zusammenarbeit - innerhalb der Familie der Mitgliedsstaaten jedes Familienmitglied, wenn Sie so wollen, Zugang zu diesem Projekt hat, aber nicht jedes Familienmitglied davon Gebrauch machen muss.

Wir haben gestern Abend die Situation auf dem westlichen Balkan diskutiert. Wir haben deutlich gemacht, dass die europäische Perspektive, das heißt, auch die Beitrittsperspektive für die Mitgliedsländer, die wir als westliche Balkanländer bezeichnen, natürlich da ist, dass sie natürlich auch konditioniert ist und dass wir sehen, dass auch andere Länder - das ist Russland, das ist aber auch die Türkei - durchaus ihre Interessen in dieser Region wahrnehmen. Umso mehr fühlen wir uns veranlasst, unsere Bemühungen sehr kohärent, sehr gemeinschaftlich und auch sehr projektbezogen durchzuführen. Genau dafür haben wir ja auch die Konferenzen des westlichen Balkans, die in diesem Jahr von Italien und im nächsten Jahr von Großbritannien ausgetragen wird.

Ich denke, es ist ganz wichtig, dass auf der einen Seite deutlich wird, dass wir als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union uns für diese Region nicht nur interessieren, sondern dass wir helfen wollen, sie Schritt für Schritt an die Europäische Union heranzuführen - die eigentliche Arbeit muss natürlich von den Ländern geleistet werden -, und dass wir auf der anderen Seite auch deutlich machen, dass diese Länder miteinander zusammenarbeiten müssen und sollten, weil daraus natürlich auch ein Mehrwert für ihre wirtschaftliche Entwicklung entsteht.

Frage: Auf Englisch, bitte. - Frau Bundeskanzlerin, als die Berliner Erklärung 2007 verabschiedet wurde, war das ja eine großartige Sache in Berlin. Aber dahinter stand natürlich auch ein bestimmter Zweck. Sie haben es, glaube ich, auch Reformvertrag genannt. Der Lissabon-Vertrag sollte nach den französischen und holländischen Referenden 2005 wieder auf die Schiene gesetzt werden. Wenn man sich das ansieht, was man heute gehört hat, dann klingt das alles ein bisschen leer, nach einer Lernformel, die sehr allgemein und ohne wirkliche konkrete Ziele ist. Wenn man von verschiedenen Geschwindigkeiten spricht, war das eine Idee, die man hatte. Es geht also irgendjemand voran, zum Beispiel schreitet die Eurozone voran. Aber im Moment scheint es so, also ob die Eurozone immer gespaltener ist. Auch die Deutschen und die Franzosen können sich nicht mehr einigen. Das ist doch in vielerlei Hinsicht sehr viel anders als die Berliner Erklärung. Es scheint wirklich kein echtes Ziel darin zu geben.

BK'in Merkel: Das finde ich nicht. Wir haben damals in der Tat eine sehr konkrete Situation gehabt, in der wir an der Fortführung der Vertragsverhandlungen gearbeitet haben, die den Verfassungsvertrag ersetzen sollten, und haben uns auch ein Zeitziel gesetzt, bis zu dem wir die Arbeit beenden wollen.

Wir wollen dieses Mal wieder einen Zeitraum benennen, nämlich die nächste Dekade. Wir haben einen Ausgangspunkt für eine solche Erklärung. Der Ausgangspunkt ist ein aus meiner Sicht leider negativer, nämlich die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens, zu sagen, dass sie die EU verlassen wollen. Das heißt, wir treffen uns zu siebenundzwanzigst und nicht zu achtundzwanzigst - so viele Mitglieder der Europäischen Union sind wir ja noch.

Auch wenn wir sagen, dass nicht alle Argumente, die für Großbritannien gelten, auch für alle anderen gelten - die Situation ist dort unserer Meinung nach eine andere -, nehmen wir diese Entscheidung der Briten doch als einen Weckruf, uns auch zu fragen: Wie effizient sind wir?

Es ist heute in der Diskussion auch sehr häufig gesagt worden, dass es in einer solchen Erklärung nicht nur um große Worte geht, sondern vor allen Dingen darum, dass man nach ein, zwei, drei oder fünf Jahren sagen kann: Das, was wir da aufgeschrieben haben, haben wir auch erreicht, und das können wir mit Tatsachen, Handlungen und Ergebnissen unterlegen.

In diesem Geist findet diese Diskussion sehr stark statt. Das heißt, wir sagen: Wir müssen uns auf das konzentrieren, was heute wirklich wichtig ist. Wir haben dabei interessanterweise neue Elemente wie die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die jahrelang nicht eine solche Rolle gespielt hat. Alle, auch die mittel- und osteuropäischen Länder, sagen Ja zu dieser Sicherheits- und Verteidigungspolitik, vor allen Dingen auch mit Blick auf die Nato als Komplementär, also als ergänzend, nicht als dagegen stehend. Das ist auch eine sehr wichtige Aussage. Das ist insofern sehr interessant, auch mit einem Blick auf die Römischen Verträge, weil ja die Verteidigungsunion in den 50er Jahren schon einmal gescheitert ist. Sie war eigentlich einmal ein Nukleus der europäischen Idee. Sie hat dann Jahrzehnte gebraucht, ehe sie wieder aufgerufen wurde und ist dann relativ verschämt im Lissaboner Vertrag als die Möglichkeit der strukturierten Zusammenarbeit gesehen worden. Ehrlich gesagt war ein Mitgliedsland wie Großbritannien immer sehr dagegen.

Frankreich hat seine Gegnerschaft über die Jahrzehnte aufgegeben. Jetzt ist plötzlich wieder der Zeitpunkt da, wo man sagen kann: An dieser Stelle können wir weiterarbeiten. Ich glaube, im Blick auf Afrika, auch im Blick darauf, einen gemeinschaftlichen Ansatz zu fahren, also zivile Instrumente wie Entwicklungshilfe plus militärische Elemente zusammenzubringen - Stichwort unsere Migrationspartnerschaften -, ist das aus meiner Sicht schon einmal ein qualitativer Sprung. Dazu kommt, dass wir jetzt eine gemeinsame Grenzsicherungsanstrengung haben.

Also ich sehe schon einige doch sehr neue Elemente, die in kurzer Zeit - zum Teil auch aus der Notwendigkeit heraus - entstanden sind. Wenn Sie sich einmal anschauen, was wir in den letzten Jahren bezüglich der Wirtschafts- und Währungsunion geschafft haben - auch notwendigerweise durch die Eurokrise -, dann sind wir im Grunde jetzt dabei, zwei Integrationsschritte, die wir bereits gegangen waren, nämlich die Währung und die Freizügigkeit - Stichwort Schengen-Raum -, krisenfest auszugestalten und uns gleichzeitig gemeinschaftlicher auch in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzusetzen. Das sind wesentliche Dinge, die aus meiner Sicht noch sehr viel bedeutsamer sind als jetzt die letzte Ausgestaltung des Binnenmarktes, die auch wichtig sein kann.

Dazu kommt die ganze Herausforderung durch die Digitalisierung, die nach meiner Ansicht in diesem Textvorschlag für die Römische Erklärung noch etwas stärker gemacht werden soll. Denn sie wird unser Arbeitsleben, aber auch unser gesellschaftliches Leben stark verändern.

Die Frage von Datenschutz auf der einen Seite und Datenfreiheit und Big-Data-Management auf der anderen Seite wird eine Rolle spielen. Die Frage, wie wir da die Balance zwischen individueller Freiheit und Schutz finden - auch im Geist der sozialen Marktwirtschaft -, ist natürlich eine sehr spannende, auf die es genauso eine eigenständige europäische Antwort geben wird, wie es sie auf die Frage der sozialen Sicherheit und wirtschaftlichen Stärke in Form dessen, was wir in Deutschland als soziale Marktwirtschaft bezeichnen, gibt.

Frage: Frau Kanzlerin, auch noch eine Frage zu der Rom-Erklärung. Trägt eigentlich die polnische Regierung nach dem Streit von gestern diese Erklärung mit? Wird die Erklärung ein klares Wording zu den Bereichen Demokratie und Rechtsstaat haben? Dritte Frage in dem Komplex: Fürchten Sie nicht, dass sozusagen pünktlich zu diesem Rom-Gipfel die offizielle Austrittserklärung Großbritanniens kommt, sodass dann der Brexit das Ganze doch wieder überschattet?

BK'in Merkel: Nein. Ehrlich gesagt, dass der Brief aus Großbritannien im Laufe des März kommt, ist uns ja bekannt. Das heißt, da wir uns jetzt schon im März befinden, überrascht uns an keinem Tag der Eingang dieses Briefes. Wir haben auch Vorsorge getragen, dass wir dann einen Sonderrat Anfang April haben werden, um darüber zu diskutieren. Kommt der Brief nächste Woche, wird der Sonderrat am 6. April sein. Kommt er später als nächste Woche, werden wir dann noch einmal jenseits des 6. April einen Termin finden müssen. Also da sind wir völlig vorbereitet und werden mit Interesse warten. Welcher Tag im März das nun genau ist, das ist jetzt nicht von so großer Bedeutung.

Die Erklärung von Rom ist ja in gewisser Weise auch eine Antwort der 27 auf die Zukunft, weil wir damit deutlich machen: Wir wollen uns jetzt die nächsten zwei Jahre nicht nur mit Austrittsverhandlungen eines Mitgliedstaates befassen, sondern wir wollen vor allen Dingen auch auf die Herausforderungen, die Europa zu bewältigen hat - Arbeitsplätze, Politik für die Bürgerinnen und Bürger zu machen -, antworten. Deshalb ist das sozusagen: Die Austrittsverhandlungen und der eingehende Brief sind die eine Seite, und die Zukunft der 27 Mitgliedstaaten ist die andere Seite.

Ich habe mich dafür ausgesprochen, dass auch die Grundwerte Demokratie, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit noch einmal sehr deutlich benannt werden, weil das ja das Wertefundament ist, auf dem die Europäische Union aufbaut. Die polnische Ministerpräsidentin hat sich heute eindeutig zu dem Ziel bekannt, eine solche gemeinsame Erklärung abzugeben. Sie hat darauf verwiesen, dass die Visegrád-Staaten ja einen eigenen Beitrag zur Erarbeitung einer solchen Erklärung geleistet haben und dass sie als polnische Ministerpräsidentin diesen Entwurf voll unterstützt, sodass ich davon ausgehe, dass wir hier sehr eng zusammenarbeiten mit dem Ziel, dass sich 27 Mitgliedstaaten zu dieser Erklärung bekennen können.

Freitag, 10. März 2017

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Quelle:
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach dem informellen Treffen
der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, 10. März 2017
https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2017/03/2017-03-10-informelles-treffen-eu.html
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2017

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