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BUNDESTAG/9937: Heute im Bundestag Nr. 630 - 18.06.2020


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 630
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Donnerstag, 18. Juni 2020, Redaktionsschluss: 10.08 Uhr

1. Unrechtmäßige Inhaftierung
2. Europäischem Tourismus droht Pleitewelle
3. Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme
4. AfD: Emissionshandel abschaffen
5. FDP fordert bunte Wasserstoff-Strategie


1. Unrechtmäßige Inhaftierung

Recht und Verbraucherschutz/Anhörung

Berlin: (hib/MWO) Für eine deutliche Erhöhung der Entschädigung für rechtswidrige Strafverfolgungsmaßnahmen haben sich die Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz am Mittwoch ausgesprochen. Anlass der Anhörung waren Gesetzentwürfe des Bundesrates (19/17035) und der AfD-Fraktion (19/15765) sowie Anträge der FDP-Fraktion (19/17744) und der Linksfraktion (19/17108) vor.

Rechtsanwalt Stefan Conen, Mitglied im Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins (DAV), begrüßte, dass nach Initiativen der Länder Hamburg, Thüringen und Bayern das rechtsstaatlich drängende Thema angemessener Haftentschädigung für zu Unrecht inhaftierte Menschen nunmehr auch vom Bundesrat auf die rechtspolitische Tagesordnung gesetzt werde. Die Initiative der Länder reiche jedoch nicht aus. Der DAV fordere eine Erhöhung der Entschädigungssumme auf mindestens 100 Euro pro Tag. Die Verbesserung der Rechtslage zu Unrecht Inhaftierter könne sich jedoch nicht nur in der Erhöhung der Pauschale erschöpfen. So müsse zur Unterstützung eines zu Unrecht Inhaftierten bei Wiedereingliederung und bei der Verfolgung seiner Ansprüche staatliche Unterstützung gewährt werden.

Bernd Müssig, ebenfalls Mitglied im Strafrechtsausschuss des DAV, erklärte, es entspräche der Selbstbeschreibung und den Ansprüchen eines humanen Rechtsstaats, Menschen für zu Unrecht erlittene Haft angemessen und unkompliziert zu entschädigen und ihnen für den Weg zurück in die Gesellschaft Hilfen anzubieten. Die bisherigen Regelungen zur Haftentschädigung für zu Unrecht inhaftierte Menschen in Deutschland erwiesen sich für die Betroffenen als kleinlich, wenn nicht gar hartherzig, jedenfalls aber als maßgeblich fiskalisch orientiert. Zu Unrecht inhaftierte Menschen hätten keine Lobby.

Auch für die Hamburger Rechtsanwältin Iris-Maria Killinger ist die seit 2009 gezahlte Entschädigungssumme von 25 Euro "unangemessen niedrig". Die im Gesetzentwurf vorgesehene Erhöhung auf 75 Euro sei zu begrüßen. Sie biete allen Beteiligten Rechtssicherheit. Allerdings wäre eine noch höhere Entschädigungssumme, wie von der Opposition gefordert, besser. Dies würde sich auch auf Haftentscheidungen auswirken, sagte Killinger. Eine hohe Entschädigungssumme könne die Dauer von Untersuchungshaft verkürzen und Entschädigungsverfahren vereinfachen.

Axel Dessecke, stellvertretender Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, erklärte in seiner Stellungnahme, dass Informationen zu der Thematik aus den amtlichen Statistiken nur in sehr eingeschränktem Umfang zur Verfügung stünden. Trotzdem bestehe ein weitgehender rechtspolitischer Konsens darüber, dass es mit einer geringfügigen Erhöhung etwa in der Größenordnung von Inflationsraten der letzten Jahre nicht getan sei. Mit einer Erhöhung der Pauschale mindestens um den Faktor 3 würde der Gesetzgeber deutlich machen, so Dessecke, dass die persönliche Freiheit ein hohes Gut ist und die Höhe entsprechender Entschädigungen in Geld nicht vorrangig von fiskalischen Erwägungen abhängen darf. Die Gesetzesänderung solle möglichst bald in Kraft treten.

Der Koblenzer Staatsanwalt Simon Pschorr von der Neuen Richtervereinigung (NRV) schlug eine gestaffelte Entschädigung vor. Danach solle der Paragraf 7 Absatz 3 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) eine Entschädigung von 100 Euro für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung bis einschließlich zum sechzigsten Tag der Freiheitsentziehung, von 150 Euro bis einschließlich zum einhundertzwanzigsten Tag der Freiheitsentziehung, von 200 Euro bis einschließlich zum einhundertachtzigsten Tag der Freiheitsentziehung und von 250 Euro ab dem einhunderteinundachtzigsten Tag der Freiheitsentziehung vorsehen. Mit dieser Neuregelung könnte sowohl dem bestehenden Pauschalierungsbedürfnis als auch der Kompensation zunehmender Haftfolgen Rechnung getragen werden.

Der Richter am Bundessozialgericht Bernhard Joachim Scholz vom Deutschen Richterbund befasste sich in seiner Stellungnahme mit sozialrechtlichen Fragestellungen, die der Gesetzentwurf der AfD aufwerfe. Die darin vorgeschlagene Regelung zur gesetzlichen Rentenversicherung sei abzulehnen, weil ein Anspruch auf Ersatz eines materiellen Schadens - auch in Form einer haftbedingt geringeren Rentenhöhe - bereits jetzt bestehe.

Die Abgeordneten begrüßten die breite Zustimmung zu den Entwürfen und Anträgen und wollten unter anderem wissen, wie lange es dauere, bis ein zu Unrecht Inhaftierter eine Entschädigung erhalte und was dies für Auswirkungen habe, wie die Praxis in anderen Ländern aussehe und wie eine bessere Betreuung nach der Entlassung sichergestellt werden könne.

Laut Entwurf des Bundesrates soll der Entschädigungsbetrag für immaterielle Schäden auf 75 Euro pro Hafttag angehoben werden. Eine Verdreifachung des mit 25 Euro als zu gering kritisierten Satzes sei erforderlich, aber auch ausreichend, um dem Genugtuungs- und Anerkennungsgedanken von Paragraf 7 Absatz 3 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen angemessen Rechnung zu tragen, heißt es darin. Der Gesetzentwurf der AfD-Fraktion und die Anträge der FDP und der Linken sehen noch höhere Haftentschädigungen vor. Die AfD will den Entschädigungsanspruch auf 100 Euro und, falls die Freiheit länger als ein Jahr unrechtmäßig entzogen wurde, auf 200 Euro je angefangenen Tag der Freiheitsentziehung erhöhen, FDP und Linke schlagen in ihren Anträgen eine Tagespauschale von 150 Euro von Anfang an vor.

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2. Europäischem Tourismus droht Pleitewelle

Tourismus/Ausschuss

Berlin: (hib/WID) Als Folge der Corona-Krise droht einer Million Unternehmen der europäischen Reiseverkehrswirtschaft die Pleite. Dies sagte Kerstin Jorna, Generaldirektorin für Binnenmarkt und Industrie der Europäischen Kommission, am Mittwoch dem Tourismusausschuss. Nach ihren Worten könnten europaweit sechs Millionen Beschäftigte der Branche den Arbeitsplatz verlieren, wenn die EU nicht energisch gegensteuere. Dabei komme es insbesondere auf Deutschland an, das Jorna die "Brennstoffzelle" des europäischen Tourismus nannte. Nicht allein sei Deutschland selber ein attraktives Reiseziel, sondern zugleich Herkunftsland der meisten Besucher in allen anderen EU-Staaten. Nach Zahlen von 2018 gingen in Europa 108 Millionen Übernachtungen auf das Konto deutscher Touristen. Die zweitplatzierten Franzosen brachten es nur auf 53 Millionen Übernachtungen.

Der Corona-Schock habe das Hotelgeschäft in Europa um die Hälfte reduziert, berichtete Jorna. Die Reisebüros hätten 85 Prozent ihres Umsatzes verloren, die Zahl der Kreuzfahrtbuchungen sei um 90 Prozent, die der Museumsbesuche um 70 Prozent eingebrochen. Wenn man bedenke, dass von den 2,3 Millionen Unternehmen der Branche 99 Prozent kleine und mittelgroße Betriebe seien, werde die Dimension der Herausforderung deutlich. Weltweit behaupte Europa derzeit noch eine Spitzenposition im Tourismusgeschäft mit einem Anteil von 40 Prozent der globalen Ankünfte und 30 Prozent der Ausreisen. Es sehe sich aber einer "heftigen Konkurrenz" von Mitbewerbern vor allem im asiatischen und pazifischen Raum gegenüber. Konzepte für die Zukunft des europäischen Tourismus seien ein dringendes Erfordernis.

Die EU-Kommission, erklärte Jorna, versuche der Krise auf dreierlei Weise zu begegnen, mit einem "Rettungsring" für bedrohte Unternehmen, Maßnahmen zur "Rettung der Sommersaison" und einer langfristigen Strategie für den europäischen Tourismus mit Blick auf das Jahr 2050. Zu den unmittelbar wirkenden Überbrückungshilfen zählte sie einen Acht-Milliarden-Investitionsfonds für kleine und mittelgroße Unternehmen, der zwar nicht ausschließlich, aber auch Firmen der Reiseverkehrswirtschaft zugute komme und "in Rekordzeit" abgerufen worden sei.

Die Kommission habe zudem die normalerweise restriktiven Beihilferegelungen "stark geöffnet", um den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, notleidenden Branchen aus eigener Kraft zur Seite zu stehen. Überdies seien Kohäsions- und Strukturfonds "sehr schnell frei verfügbar gemacht worden". Positiv gewirkt habe nicht zuletzt die Initiative "Sure" zur europaweiten Finanzierung von Kurzarbeit. Zu Beginn der Krise habe nur die Hälfte der EU-Mitgliedsstaaten das Instrument öffentlich subventionierter Kurzarbeit gekannt. Mittlerweile seien es alle.

Unter dem Stichwort "Rettung der Sommersaison" nannte Jorna die Bemühungen der Kommission um europaweit einheitlichen Standards für das Reisen unter Corona-Bedingungen. Sie habe entsprechende Empfehlungen für Verkehrsträger, das Hotelgewerbe und die Regelung von Grenzübertritten herausgegeben. Seit dieser Wochen sei zudem eine eigen Webseite (www.reopen.europa.eu) freigeschaltet, wo Reiseslustige sich über die unterschiedlichen coronabedingten Reglementierungen in allen Ländern und Regionen der EU kundig machen können.

Für die zweite Jahreshälfte unter deutscher Ratspräsidentschaft kündigte Jorna einen "Europäischen Tourismuskonvent" an als "Forum" für die Diskussion über langfristige Perspektiven.

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3. Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme

Parlamentarischer Beirat für nachhaltige Entwicklung/Ausschuss

Berlin: (hib/HAU) Das 21. Jahrhundert bietet aus Sicht der Transformationsforscherin Maja Göpel eine neue Realität, die die Ideen von erfolgreicher Entwicklung auf den Kopf stellt. "Wir brauchen dringend eine Transformation des Wirtschaftens, um die Versorgungssicherheit der Menschen langfristig sicherstellen zu können", sagte Göpel, Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung zu Globalen Umweltveränderungen, am Mittwochabend während einer öffentlichen Sitzung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung. Im 20. Jahrhundert sei es viel um Extraktion gegangen, sagte Göpel. Jetzt gehe es hingegen um Regeneration. "Mit Blick auf das Wachstum müssen wir uns klarmachen, was wachsen soll - nämlich das menschliche Wohlergehen."

Die Wissenschaftlerin sagte weiter, seit den 1950er Jahren habe das, was die Menschen der Erde entnommen haben, rasant zugenommen, was die Ökosysteme stark beeinträchtigt habe. Die Verantwortung, hier etwas zu ändern, liegt aus Sicht von Göpel zuallererst bei den "reichen" und als wirtschaftlich erfolgreich geltenden Ländern. Deutschland etwa sei im roten Bereich. "Wir nehmen mehr in Anspruch, als unsere Biokapazität umfasst". Im Jahr 2019 sei der 3. Mai der Tag in Deutschland gewesen, bis zu dem der Umfang in Anspruch genommen wurde, der eigentlich für das ganze Jahr gedacht gewesen ist, "wollten wir die Regenerationsfähigkeit der Ökosysteme erhalten".

Göpel machte vor den Abgeordneten deutlich, dass es eine übergeordnete Strategie brauche, die es mit dem Green Deal auf der europäischen Ebene auch gebe. Ganz wichtig sei es, wissenschaftsbasiert eine absolute Limitation dessen festzulegen, "was wir der Erde nehmen können". Dies sei mittelfristig als Ausgangwert zu nehmen, für das, "was wir dann als Anpassungsphasen definieren".

Daniela Kleinschmit von der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und zugleich Vizepräsidentin der International Union of Forest Research Organizations (IUFRO), sagte, Krisen, wie auch die Corona-Krise, würden von der Politik als Fenster verstanden, welche geöffnet werden könnten, um große politische Schritte zu machen. Solche Schritte, hin zu mehr Nachhaltigkeit, seien jetzt möglich. Kleinschmit verwies auf vorhandene Überlappungen zwischen der Kreislaufwirtschaft und der Bioökonomie - einer Wirtschaft, die zunehmend auf biobasierten Materialen beruht und in der fossile Stoffe abgelöst werden sollen. Dabei gehe es dennoch ganz stark um Wirtschaftswachstum - ähnlich wie bei der Kreislaufwirtschaft.

Die Corona-Krise, so machte sie deutlich, habe gezeigt, dass die internationalen Vernetzungen auch Probleme kreieren könnten. "Ein Blick auf die eigene Wirtschaft kann also nicht schaden sondern sollte geschärft werden", sagte Kleinschmit. Lagere man die Produktion irgendwohin international aus, lagere man auch den Gedanken der Nachhaltigkeit aus, sagte sie. Es brauche also einen Blick auf die Nachhaltigkeit "sowohl in der Bioökonomie als auch in der Kreislaufwirtschaft". Dabei müssten aber auch die Menschen mitgenommen werden. "Offene Fenster können nur genutzt werden, wenn die Menschen dazulernen und integriert sind", sagte die Umweltwissenschaftlerin.

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4. AfD: Emissionshandel abschaffen

Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit/Antrag

Berlin: (hib/LBR) Nach Ansicht der AfD-Fraktion ist ein nennenswerter Einfluss von CO2 auf das Klima der Erde weder erkennbar noch wissenschaftlich reproduzierbar nachgewiesen. Die Abschaffung des Treibhausgas-Emissionshandels und des Brennstoffemissionhandelsgesetzes würde Bürger und Unternehmen entlasten, Kaufkraft freisetzen und den Unternehmen finanzielle Spielräume geben, schreiben die Abgeordneten in einem Antrag (19/20075).

Darin spricht sich die Fraktion dafür aus, die wirtschaftlichen Schäden durch die verhängten Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 zu begrenzen und "wirkungslose beziehungsweise überflüssige Ausgaben einzusparen." Das Brennstoffemissionshandelsgesetz und das Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz sollten daher "schnellstmöglich vollständig und ersatzlos" gestrichen werden sowie die Umsetzung aller entsprechenden EU-Verordnungen und Richtlinien sofort beendet werden, fordert die Fraktion.

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5. FDP fordert bunte Wasserstoff-Strategie

Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit/Antrag

Berlin: (hib/LBR) Die FDP-Fraktion fordert, in der nationalen Wasserstoff-Strategie neben "grünem" Wasserstoff auch "blauen" und "türkisen" Wasserstoff als CO2-neutral zu klassifizieren. Diese stünden aufgrund der benötigten Menge und unterschiedlichen zeitlichen Realisierbarkeit nicht in Konkurrenz zueinander, schreiben die Abgeordneten in einem Antrag (19/20021). Insbesondere "blauer" Wasserstoff müsse der "Wegbereiter für die zukünftige Produktion und Nutzung grünen Wasserstoffs im großen Maßstab sein", schreiben die Abgeordneten im Antrag weiter.

Auch soll sich die Bundesregierung bilateral und auf der europäischen Ebene für weitere internationale Partnerschaften zum Import von CO2-neutralem Wasserstoff einsetzen und Technologieoffenheit sicherstellen. Die Abgeordneten schlagen vor, zur Finanzierung des zügigen Ausbaus der Infrastruktur bisher nicht abgerufene Mittel aus dem Energie- und Klimafonds zu nutzen.

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Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 630 - 18. Juni 2020 - 10.08 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2020

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