Schattenblick → INFOPOOL → PARLAMENT → FAKTEN


BUNDESTAG/6522: Heute im Bundestag Nr. 275 - 27.04.2017


Deutscher Bundestag
hib - heute im bundestag Nr. 275
Neues aus Ausschüssen und aktuelle parlamentarische Initiativen

Donnerstag, 27. April 2017, Redaktionsschluss: 09.35 Uhr

1. Expertenstreit über Pflegedetails
2. Hinterbliebenengeld wirft Fragen auf
3. Schranken für Zwangsbehandlung gesucht


1. Expertenstreit über Pflegedetails

Gesundheit/Anhörung

Berlin: (hib/PK) Der Gesundheitsausschuss des Bundestages hat sich am Mittwochabend in einer Expertenanhörung mit einem Gesetzentwurf (18/11488) der Bundesregierung zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen befasst. Die im Grundsatz unstrittige Vorlage beinhaltet neben dem eigentlichen Thema noch diverse sachfremde Regelungen, die in 21 Änderungsanträgen der Regierungsfraktionen eingebracht wurden und im "Omnibusverfahren" mit verabschiedet werden sollen. Hier sind Detailregelungen, etwa aus dem Bereich der Pflege, unter den Experten teilweise umstritten, wie aus den schriftlichen Stellungnahmen hervorgeht.

Zu den umstrittenen Punkten im Bereich der Pflegeversorgung gehören die über Änderungsanträge eingebrachten "Maßstäbe und Grundsätze zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität", die Kompetenzen des Qualitätsausschusses, die Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen, die Vergütungskürzung bei Personalunterdeckung in stationärer Pflege sowie die Modellvorhaben.

Besonders kritisch äußerte sich der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), der von einer "permanenten und nachhaltigen Diskreditierung der Branche" sprach, die nicht nachzuvollziehen sei. Mit der Einführung des Qualitätsausschusses würden die Beteiligungs- und Eingriffsrechte sowie Genehmigungsvorbehalte und Kontrollfunktionen der zuständigen Ministerien gegenüber der Selbstverwaltung erheblich ausgebaut. Hier dränge sich fälschlicherweise der Eindruck auf, die Selbstverwaltung würde ihren gesetzlichen Anforderungen nicht gerecht.

Auch die Regelung zur Vergütungskürzung sei "unnötig, unbegründet und unverhältnismäßig". Es bestehe weder eine Regelungslücke noch ein Kontrolldefizit. Dem Verband lägen zudem keine Hinweise auf eine strukturelle Unterbesetzung in den Pflegeeinrichtungen vor.

Sozialverbände und der Deutsche Pflegerat begrüßten hingegen die geplanten Veränderungen, weil sie in der Praxis Vorteile brächten. Der Caritasverband erklärte, es sei richtig, dem Qualitätsausschuss die Entscheidungen etwa zu Auftragsvergaben zu übertragen, weil die jetzigen Regelungen dazu führten, dass die Vertragsparteien und der Qualitätsausschuss inhaltsgleiche Abstimmungsprozesse zu durchlaufen hätten, was unnötige Bürokratie verursache. Allerdings sei die jetzt geplante Regelung nicht ausreichend, um Doppelstrukturen zu vermeiden.

Mit der geplanten Vergütungskürzung werde Bezug genommen auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. September 2012, wonach solche Sanktionen auch unabhängig von Qualitätsmängeln erlaubt sind, wenn die Pflegeeinrichtung die vereinbarte Personalmenge vorsätzlich über längere Zeit erheblich unterschritten hat. Nach Ansicht der Caritas ist es "absolut sachgerecht, vorsätzliches Handeln, das eine Schädigung von Personen bewusst ins Kalkül zieht, scharf zu sanktionieren." Der Verbraucherzentrale Bundesverband monierte, die Neuregelung lasse Fragen offen und laufe ins Leere, solange es keine verbindliche Berechnungsmethode für den Personalbereich gebe.

Mit dem Gesetz soll auch die Finanzierung der Stiftung "Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen" neu geregelt werden mit dem Ziel einer langfristig vom Bund garantierten Hilfe. So soll der Bund ab 2019 die Finanzierung der HIV-Stiftung allein übernehmen. Bislang werden die Stiftungsgelder vom Bund, den Ländern, mehreren Pharmafirmen und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) aufgebracht.

Die Betroffenen sollen lebenslang von der Zuwendung profitieren, die künftig regelmäßig an die höheren Kosten angepasst werden soll (Dynamisierung). Der Bund will dazu bis zu zehn Millionen Euro jährlich zur Verfügung stellen. In den 1980er Jahren waren nach Angaben der Deutschen AIDS-Hilfe in Deutschland rund 1.500 Menschen durch verseuchte Blutprodukte mit HIV infiziert worden. Mehr als 500 der Betroffenen leben noch und sind auf Unterstützung angewiesen.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen sowie die Deutsche Hämophiliegesellschaft zur Bekämpfung von Blutungskrankheiten begrüßten die Neuregelung nachdrücklich und verwiesen auf die immensen Leiden der Betroffenen. Beide Fachverbände wiesen darauf hin, dass seit Errichtung der Stiftung 1995 kein Inflationsausgleich in die Leistungen einberechnet worden sei. Die Entschädigungshöhe entspreche somit schon lange nicht mehr der damals für notwendig erachteten Größenordnung. Nötig sei ein rückwirkender Inflationsausgleich.

Mit den sachbezogenen Neuregelungen will die Bundesregierung unter anderem die Versorgung mit Blut- und Gewebezubereitungen sowie Arzneimitteln für neuartige Therapien verbessern. Nach Angaben der Regierung sollen bestimmte Vorschriften an die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen angepasst werden. Zugleich werden Genehmigungsverfahren vereinfacht, damit spezielle Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products /ATMP) wie Gen- oder Zelltherapeutika schneller verfügbar sind.

*

2. Hinterbliebenengeld wirft Fragen auf

Recht und Verbraucherschutz/Anhörung

Berlin: (hib/PST) Ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zur Einführung eines Hinterbliebenengeldes (18/11397, 18/11615) ist bei einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses auf teils grundsätzliche, teils spezifische Bedenken gestoßen. Das Hinterbliebenengeld soll nahestehenden Personen beim fremdverschuldeten Tod eines Menschen zustehen. Bisher können Hinterbliebene nur Schmerzensgeld vom Verursacher des Todes eines Angehörigen verlangen, falls sich eine gesundheitliche Beeinträchtigung als Folge des Todesfalls, ein sogenannter Schockschaden, medizinisch nachweisen lässt. Der Gesetzentwurf sieht nun "im Fall der fremdverursachten Tötung für Hinterbliebene, die zu dem Getöteten in einem besonderen persönlichen Näheverhältnis standen, einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Geld für das zugefügte seelische Leid gegen den für die Tötung Verantwortlichen" vor.

Bei der Anhörung nannte das Präsidiumsmitglied des Deutschen Richterbundes Kim Martin Jost seine Haltung zu dem Gesetzentwurf "ein bißchen zwiespältig". Bisher kenne das deutsche Recht nur Entschädigungen für konkret benennbare Schäden. Ein allgemeiner Anspruch auf eine Zahlung beim fremdverschuldeten Tod einer nahestehenden Person sei "rechtsethisch problematisch", weil er eine "Kommerzialisierung von persönlichem Leid" bedeute.

Auch Christian Katzenmeier, Professor für Medizinrecht an der Kölner Universität, äußerte grundsätzliche Bedenken. Angesichts der Schwierigkeit einer Bewertung seelischen Leids sei ein finanzieller Ausgleich nicht möglich. Zwar gehe es im Gesetzentwurf um Anerkennung, nicht Ausgleich seelischen Leids, doch werde das "in der Bevölkerung anders empfunden werden".

Dagegen begrüßte Georg Maier-Reimer vom Deutschen Anwaltsverein den Gesetzentwurf im Grundsatz, da die geltende Rechtslage "als Gerechtigkeitslücke empfunden" werde. Allerdings plädierte er dafür, einen Betrag für das Hinterbliebenengeld festzuschreiben und dessen Bemessung nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, den Gerichten zu überlassen. Sonst könnte es darüber zu Auseinandersetzungen beispielsweise der Versicherung des Verursachers mit den Hinterbliebenen kommen, die "als würdelos empfunden" werden könnten. Eine "rechtssichere Regelung" wünschte sich auch Bernahrd Gause vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, um unkompliziert regulieren zu können.

Die ehemalige Vizepräsidentin des Bundesgerichtshofs Gerda Müller sieht "noch viel deutlicher als beim Schmerzensgeld" ein Problem darin, die Höhe des Hinterbliebenengeldes angemessen zu bewerten. Sie geht aber davon aus, dass sich durch die Rechtsprechung "im Lauf der Zeit Fallgruppen herausbilden", von denen dann die Gerichte je nach Einzelfall nach oben oder unten abweichen würden. . Der Gesetzgeber solle deshalb keine Regelbeträge festschreiben.

Allgemein begrüßt wurde von den Sachverständigen, dass der Gesetzentwurf das Näheverhältnis zum Verstorbenen nicht an formalen Verwandtschaftsgraden festmachen will. Allerdings könnte dies, wie der Berliner Rechtsprofessor Hans-Peter Schwintowski zu bedenken gab, "zu Beweisschwierigkeiten führen". Er plädierte deshalb dafür, ein "tatsächlich gelebtes Näheverhältnis" zur Grundlage zu nehmen und nicht ein "vermutetes", wie es im Gesetzentwurf heißt. Ganz grundsätzlich begrüßte Schwintowski das Hinterbliebenengeld und verwies auf ein Urteil im Soldatenrecht, das eine Entschädigung für den miterlebten Tod eines Soldaten zugesprochen habe.

Sein Berliner Kollege Gerhard Wagner verwies darauf, dass Hinterbliebene schon jetzt anspruchsberechtigt bei Vermögensschäden seien. Er sehe nicht, warum das nicht auch für immaterielle Schäden gelten solle. Auch "eine Geldzahlung kann eine gewisse Anerkennung für Leid sein", gab er zu bedenken. Allerdings hielte er es für besser, sowohl den Kreis der Anspruchsberechtigten als auch die Höhe des Hinterbliebenengeldes im Gesetz genauer zu regeln.

*

3. Schranken für Zwangsbehandlung gesucht

Recht und Verbraucherschutz/Anhörung

Berlin: (hib/PST) Medizinische Zwangsbehandlungen per Gesetz auf das unabdingbare Maß zu beschränken ist offenbar schwierig. Das ergab eine öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (18/11240) "zur Änderung der materiellen Zulässigkeitsvoraussetzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen und zur Stärkung des Selbstbestimmungsrechts von Betreuten". Obwohl die Sachverständigen diesen Gesetzentwurf im Grundsatz ganz überwiegend begrüßten, zweifelten sie doch an seiner Wirksamkeit. Die stellvertretende Vorsitzende des Betreuungsgerichtstags, Annette Loer, äußerte sogar die Sorge, er könne ungewollt "neue Türen für Zwang öffnen".

Das Gesetz soll eine vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2016 festgestellte Regelungslücke schließen. Es geht dabei, wie die Bundesregierung ausführt, um betreute Personen, "die einer ärztlichen Maßnahme mit natürlichem Willen widersprechen, obgleich sie auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können", die aber "ohne die medizinisch indizierte Behandlung einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden erleiden oder sogar versterben".

Nach geltendem Recht kann der Betreuer eine solche Zwangsbehandlung "nur im Rahmen einer freiheitsentziehenden Unterbringung", also in einer geschlossenen Anstalt, veranlassen, . In den Fällen, in denen der Betreute nicht in der Lage oder willens ist, sich durch Flucht zu entziehen, eine "freiheitsentziehende Unterbringung" also nicht geboten ist, kann auch die notwendige Behandlung nicht erzwungen werden, führt die Regierung aus. Das Bundesverfassungsgericht habe nun entschieden, "dass diese Schutzlücke mit der grundgesetzlichen Schutzpflicht des Staates unvereinbar ist". Daher soll nun "die Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme von der freiheitsentziehenden Unterbringung entkoppelt" werden.

Es gebe aber, wie verschiedene Sachverständige ausführten, viele Zwangsbehandlungen, die auch dem geltenden Recht widersprächen. Unter anderem läge das an unzureichenden Gutachten, auf die Betreuungsrichter ihre Entscheidungen gründeten. Der Göttinger Rechtsprofessor Volker Lipp verwies darauf, dass bei körperlichen Erkrankungen die psychiatrischen Gutachter nicht immer qualifiziert seien, die Notwendigkeit einer Zwangsbehandlung zu beurteilen. Das Gesetz müsse für solche Fälle einen zweiten, fachmedizinischen Gutachter verlangen. Peter Fölsch vom Deutschen Richterbund führte aus, dass einem Richter 104 Minuten Bearbeitungszeit für die Entscheidung über eine Zwangsbehandlung zugestanden werde. Dies sei für eine fundierte Entscheidung viel zu wenig. "In der Praxis", sagte Antje Welke, Justiziarin der Bundesvereinigung Lebenshilfe, "läuft vieles anders, als es im Gesetz steht". Sie fürchte, dass das auch bei dem neuen Gesetz so bleibe.

Positiv bewertete Welke, wie auch andere Sachverständige, den im Gesetzentwurf vorgesehenen ausdrücklichen Vorrang von Patientenverfügungen, mit dem das Selbstbestimmungsrecht von Betreuten gestärkt werden soll. Der Leiter einer psychiatrischen Klinik in Berlin, Andreas Heinz, wies allerdings auf das Problem bei Menschen hin, die in ihrer Patientenverfügung eine Unterbringung in der Psychiatrie ablehnen. Hierzu fehle eine Regelung im Gesetzentwurf. Die Betreuungsrichterin Annette Loer forderte, auch Behandlungsvereinbarungen in das Gesetz aufzunehmen, und nannte diese "ein gutes Mittel den Willen von Patienten festzustellen. Auch die Vorsitzende des Bundesverbands der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, Gudrun Schliebener, außerte für ihren Verband diesen Wunsch. Daneben beklagte Schliebener das Fehlen belastbarer Zahlen über das Ausmaß von Zwangsbehandlungen in Deutschland. Sie forderte deshalb die Einrichtung eines bundesweiten Registers zu Zwangsmaßnahmen.

Chefarzt Martin Zinkler von der psychiatrischen Klinik in Heidenheim kritisierte als einziger Sachverständiger grundsätzlich den zentralen Inhalt des Gesetzentwurfs, nämlich die Schließung der vom Bundesverfassungsgericht festgestellten "Schutzlücke". Menschen, die das Krankenhaus nicht verlassen könnten, seien besonders schutzbedürftig, argumentierte Zinkler. "Der Gesetzentwurf schwächt aber deren Schutz", indem er auch bei ihnen Zwangsbehandlungen zulasse. In seiner Klinik, berichtete Zinkler, sei seit 2011 nur eine einzige Zwangsbehandlung durchgeführt worden. In allen anderen Fällen hätten die Patienten von notwendigen Behandlungen überzeugt werden können. Um auf Zwang zu verzichten, brauche man aber "Nerven, Zeit und Personal". Und daran fehle es in der deutschen Psychiatrie weithin.

*

Quelle:
Heute im Bundestag Nr. 275 - 27. April 2017 - 09.35 Uhr
Herausgeber: Deutscher Bundestag
PuK 2 - Parlamentskorrespondenz
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: +49 30 227-35642, Telefax: +49 30 227-36191
E-Mail: mail@bundestag.de
Internet: www.bundestag.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang