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INTERVIEW/041: Pränataldiagnostik - der große Unterschied ...    Kirsten Achtelik im Gespräch (SB)


Gespräch am 16. Juni 2018 in Essen


Kirsten Achtelik [1] ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin und lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem feministische Theorien und Bewegungen, Schnittstellen mit anderen sozialen Bewegungen wie vor allem der Behindertenbewegung und Kritik der Gen- und Reproduktionstechnologien. Außerdem recherchiert sie zu AbtreibungsgegnerInnen und "Lebensschutz"-Bewegung.

Seit Juni 2017 arbeitet sie an einer Promotion (HU Berlin). Ihr 2015 erschienenes Buch "Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung" [2] wird Teil einer kumulativen Promotion mit dem Arbeitstitel "Überschneidungen und Gegensätze. Zum Verhältnis von feministischer, behindertenpolitischer und 'Lebensschutz'-Bewegung".

Im März 2018 ist das Buch "Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der 'Lebensschutz'-Bewegung", das sie zusammen mit Eike Sanders und Ulli Jentsch vom apabiz geschrieben hat, beim Verbrecher Verlag erschienen. [3]

Sie arbeitet beim Gen-ethischen Netzwerk und ist dort für die Bereiche Reproduktionstechnologien und Pränataldiagnostik verantwortlich.

Im Rahmen der Jahrestagung 2018 des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik, die zum Thema "Was hat die UN-Behindertenrechtskonvention mit Pränataldiagnostik zu tun?" vom 15. bis 17. Juni in Essen stattfand, bot Kirsten Achtelik zusammen mit Silke Koppermann die Arbeitsgruppe "Pränataldiagnostik und Lebensschutz. Wer bestimmt den Diskurs?" an. Im Anschluß daran beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Schattenblick (SB): Welche Kontroversen zwischen den verschiedenen feministischen Strömungen sind aus deiner Sicht im Zusammenhang der Pränataldiagnostik besonders relevant?

Kirsten Achtelik (KA): Die feministische Kontroverse im Kontext der Pränataldiagnostik spielt sich zwischen einer sehr deutlichen Pro-Choice-Strömung, die das Selbstbestimmungsrecht der Frau über alles stellt, und einer anderen Strömung ab, die Pränataldiagnostik kritisiert und das Selbstbestimmungsrecht nicht verabsolutiert. Letztere setzt eher an der in den 80er Jahren entwickelten Kritik an, in der ihrerseits verschiedene Strömungen zum Tragen kamen: Antikapitalistisch, antieugenisch, die NS-Zeit aufarbeitend, solidarisch mit den Frauen in der "Dritten Welt" und eben die Kritik von Feministinnen mit Behinderung.

Auf großen Konferenzen wurde diskutiert: Wie wichtig ist der Selbstbestimmungsbegriff, was bedeutet das überhaupt? Wer kann sich unter welchen Bedingungen autonom verhalten und wessen Selbstbestimmung schränkt möglicherweise die anderer ein? Es ist offenbar nicht nur eine graduelle Frage, welchen Feminismus wir wollen. Ich würde jetzt nicht so weit gehen, den Selbstbestimmungsfeministinnen Neoliberalismus vorzuwerfen, da viele durchaus Linke sind. Aber sie halten eben auch aus anderen strategischen Erwägungen diesen Selbstbestimmungsbegriff für den entscheidenden Hebel sowohl gegen die "Lebensschutz"-Bewegung als auch gegen die patriarchalen Zumutungen und betonen immer sehr dieses Vertrauen in die Frau, doch blenden sie dabei aus, welche Implikationen das hat.

Heute findet ja parallel zu unserer Tagung der "Marsch für das Leben" in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge statt. Dagegen mobilisiert das queer*feministische Bündnis Pro Choice Sachsen, das den Selbstbestimmungbegriff explizit im Namen trägt, aber über die Jahre die Kritik an pränataler Diagnostik und der in dieser enthaltenen Behindertenfeindlichkeit aufgenommen hat.

Selektive Pränataldiagnostik hat ja mit Selbstbestimmung gar nicht so viel zu tun, unter anderem weil man von Selbstbestimmung erst dann sprechen könnte, wenn man weiß, was man entscheidet, also auch die Folgen absehen kann. Das ist heute trotz Beratung kaum der Fall, weil meist nur der nächste Untersuchungsschritt besprochen wird und wenig über die mögliche Dynamik aufgeklärt wird. Manche feministische Gruppen wie das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung in Berlin vermeiden es weitgehend, kritisch über pränatale Diagnostik zu diskutieren, weil sie das kontraproduktiv finden.

SB: Wäre es ungeachtet aller ideologischen Differenzen möglich, die Frage zu stellen, wo eine Aktionseinheit möglich ist? Siehst du in dieser Diskussion solche Schnittmengen oder vertieft sich die Spaltung in verschiedene Fraktionen?

KA: Die Bündnisse arbeiten schon an vielen Stellen zusammen. In Berlin gibt es sogar Gruppen, die in beiden Bündnissen vertreten sind. Es sind ja insgesamt nicht so wahnsinnig viele Aktivist*innen, daß man von einer regelrechten Spaltung sprechen könnte. Es handelt sich eher um eine partielle ideologische Frage, über die man sich nicht einig ist.

Ich versuche meinesteils überhaupt nicht, eine Spaltung voranzutreiben, sondern mache Leuten, die an dem Selbstbestimmungsbegriff festhalten wollen, seit Jahren Gesprächsangebote. Ich analysiere selektive Pränataldiagnostik als behindertenfeindlich, aber darüber muss es ja keinen Konsens geben. Ich fände es einen guten Startpunkt, wenn man sich darauf einigen könne, dass die Praxis so, wie die Pränataldiagnostik heute angeboten wird, nicht viel mit selbstbestimmten Entscheidungen zu tun hat. Wenn man das als Problem benennen würde, gäbe es ja eine Grundlage, man könnte in diesen Gesprächsprozeß reingehen.

SB: Ist das ein individueller oder ein kollektiver Begriff von Selbstbestimmung, der da hochgehalten wird?

KA: Was ist ein kollektiver Begriff von Selbstbestimmung? Ich kann historisch herleiten, daß es den einmal gab. Das sagen auch die Feministinnen, die in den 70er und 80er Jahren aktiv waren, daß sie einen kollektiven Begriff von Selbstbestimmung hatten. Aber ich habe keine eigene Vorstellung davon, was damit wirklich gemeint ist, wer dieses Kollektiv sein soll. Es gibt heute so viele Feminismen und so viele feministische Gruppen, die teilweise in die unterschiedlichsten Richtungen gehen, und dieses kollektive Subjekt Frau hat sich ja nun auch für die meisten Feministinnen aufgelöst. Darauf kann man sich jetzt nicht mehr berufen, das würde ich auch nicht wiederherstellen wollen. Ich würde den Selbstbestimmungsbegriff im Unterschied zu anderen Leuten nicht verwerfen, weil ihn Leute brauchen, die sich in ihrem individuellen Emanzipationsprozeß befinden, sei es im Coming out, sei es gegenüber den Eltern: Was sie mit ihrem Körper machen wollen, entscheiden sie und niemand sonst. Von daher ist dieser Begriff in solchen Zusammenhängen wichtig.

Wir haben hier beim Netzwerk diese beiden gesellschaftlich relevanten Gruppen, Behindertenbewegung und Frauenbewegung, als Referenzrahmen, und in der Behindertenbewegung ist der Selbstbestimmungsbegriff ja auch noch einmal sehr wichtig. Wobei der Begriff "Selbstbestimmung" im Deutschen in beiden Fällen derselbe ist. Im Englischen gibt es hingegen zum einen Pro Choice, zum anderen Independent Living als zentrale Begriffe. Im angloamerikanischen Raum sind es also ganz andere Begriffe, die dann auch unterschiedlich behandelt werden. In Deutschland erweckt der gleiche Begriff den Eindruck, es ginge um das gleiche. Das zeigt, daß man in den Selbstbestimmungsbegriff alles mögliche reinpacken kann, der kann sich halt nicht wehren. Es besteht die Gefahr, daß dieser Begriff individualisiert verwendet wird, aber er ist nicht per se nur individuell, weil man sich ja auch auf eine Gruppe bezieht und auf das, was die Gruppe schon an Rechten erkämpft hat. Daß man sich auf kollektive Rechte bezieht, ist überindividuell, egal, welches Recht jeweils gemeint ist.

SB: Wie schätzt du die Möglichkeiten der Behindertenbewegung und der Frauenbewegung ein, sich als maßgebliche Akteure einer Veränderung auf diesem Feld zusammenzuschließen und wirksam zu werden?

KA: Es kommt immer darauf an, um welche Frage es jeweils geht. Wenn wir von Pränataldiagnostik sprechen, steht das einfach nicht oben auf der Agenda der Behindertenbewegung. Der Riesenkampf um das Bundesteilhabegesetz hat in den letzten Jahren sehr viele Kräfte gebunden, und die Umsetzung soll ja auch kritisch begleitet und beobachtet werden. Es engagieren sich nicht sehr viele Aktivist*innen in diesem Bereich und zudem hat sich in diesem Zusammenhang eine Menge institutionalisiert - wie ja in der Frauenbewegung auch. Es ist schön, wenn Holger Jeppel vom Bundesverband für Körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) hier bei uns auf dem Podium sitzt, aber wie er selber sagt, steht dieses Thema zwar irgendwo auf ihrer Agenda, ist aber nicht ihr wichtigstes Betätigungsfeld. Deswegen würde ich als nicht behinderte Feministin immer umgekehrt argumentieren und fragen: Wo waren die feministischen Gruppen bei den Kundgebungen gegen das Bundesteilhabegesetz? Wo waren die feministischen Blogs, die dazu aufgerufen und darüber informiert haben? Es waren ganz, ganz wenige. Da sind die Feministinnen meines Erachtens immer noch mehr in der Bringschuld, als daß sie von der Behindertenbewegung Unterstützung erwarten sollten.

Zudem bewegen sich nicht nur zwei, sondern drei Bewegungen auf diesem Themenfeld. Es ist das Dreieck aus sogenannter Lebensschutzbewegung, behindertenpolitischer Bewegung und feministischer Bewegung. Anders als in den 80er Jahren sind die meisten behindertenpolitischen Aktivist*innen aber relativ klar in der Position, den Grundsatz des Rechts auf Abtreibung oder zumindest den Status quo zu erhalten, also den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht zu erschweren und die pränatale Diagnostik zu kritisieren. Die sogenannte Lebensschutzbewegung geht da aus einer ganz anderen Perspektive heran, wobei auch sie keine Verschärfung des Paragraphen 218 fordert. Da sind die maßgeblichen Akteur*innen so realpolitisch und clever, daß sie manchmal harmloser aussehen, als sie es tatsächlich sind.

SB: Inwieweit würdest du die Lebensschutzbewegung von der politischen Rechten abgrenzen? Gibt es da klare Trennlinien?

KA: Es gibt Überschneidungen zwischen der "Lebensschutz"-Bewegung und der konservativen oder extremen Rechten. Aber es gibt auch Widersprüche, so daß in anderen Bereichen keine Übereinstimmung möglich ist. Beispielsweise ist Beatrix von Storch als wichtige AfD-Politikerin in unterschiedlichen Funktionen unterwegs. Sie ist beim Marsch für das Leben 2014 und 2015 in der ersten Reihe mitgelaufen, hat aber auch keine Rede gehalten. 2016 kam ihre Aussage, daß zur Grenzsicherung auf Frauen und Kinder geschossen werden dürfe, wofür sie heftig kritisiert wurde. In den folgenden Jahren war sie beim Marsch für das Leben nicht mehr in der Frontreihe zu sehen. Beim Marsch im September 2017 ging es insbesondere um Migration, und alle hohen kirchlichen Würdenträger haben sehr betont, daß diesen Menschen geholfen werden müsse. Da gehen die Rechten nicht mehr mit. Beim Thema Pränataldiagnostik interessieren sich extreme Rechte auch eher für die "Volksgesundheit" und sind der Auffassung, daß die nicht alle geboren werden müssen. Religiös-fundamentalistische "Lebensschützer" wollen dagegen "das Leben von Anfang an schützen" und damit meinen die schon alle befruchteten Eizellen. Da gibt es Bereiche, in denen die Diskurse ziemlich anders verlaufen. In der sogenannten Lebensschutzbewegung taucht "das Volk stirbt im Mutterleib" auch mal auf, aber mit einer anderen Gewichtung als in der Demographiedebatte der AfD. Von daher gibt es Berührungspunkte, aber man muß wirklich sagen, daß die Leute, die in den wichtigen großen Lebensschutzbewegungen das Sagen haben, versuchen, das Bild einer gemäßigten Gruppe abzugeben und wie die Mitte der Gesellschaft auszusehen. Das schlägt manchmal aus, weil sie es nicht immer kontrollieren können, wie schwulenfeindlich sie sind und wie eklig sie Feministinnen finden, aber daß man nicht einfach mit Nazis kuscheln kann, ist ihnen klar.

SB: Gehen auf dem Feld der Biopolitik rechte und staatliche Interessen Hand in Hand, um verdeckt oder offen einem verschärften Zugriff den Weg zu bereiten?

KA: Die CDU/CSU ist in der Bundesregierung. Insofern sind da politisch rechte und staatliche Interessen in Personalunion vertreten. In biopolitischen und ethischen Debatten wird sehr viel verschleiert, zumal die beteiligten Akteur*innen oftmals selbst keine klar definierten Interessen haben und einbringen. Ein Beispiel: Was den nicht invasiven Bluttest betrifft, hat niemand wirklich Interesse daran, daß es weniger Menschen mit Trisomie 21 gibt. Das würde nicht nur niemand sagen, das will auch eigentlich niemand. Allerdings wird gegen die Effekte der Diagnostik und der Schwangerschaftsabbrüche, dass schon weniger Menschen mit bestimmten Behinderungen geboren werden, auch politisch nichts unternommen, denn mehr Menschen mit Behinderung ist auch kein politisches Ziel. Im Unterschied dazu wollen Nazis und die extreme Rechte in der AfD ganz offensichtlich, daß es weniger Menschen mit Behinderung gibt.

SB: Kirsten, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnoten:

[1] www.kirsten-achtelik.net

[2] Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 224 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 9783957321206

[3] Eike Sanders, Kirsten Achtelik, Ulli Jentsch: Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der "Lebensschutz"-Bewegung, Verbrecher Verlag, Berlin 2018, 160 Seiten, 15,00 Euro, ISBN: 9783957323279


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