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INTERVIEW/039: Pränataldiagnostik - Interessensausgleich und Wertebalance ...    Sigrid Graumann im Gespräch (SB)


Gespräch am 16. Juni 2018 in Essen

Sigrid Graumann ist Professorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und Pflege an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Seit April 2016 ist sie Mitglied im Deutschen Ethikrat und dort mit Stellungnahmen zu maßgeblichen, den sozialen und technologischen Fortschritt regulierenden Normen und Werten befaßt. Auf der Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Essen war sie zu einem Podiumsgespräch geladen, in dem über Möglichkeiten der politischen Einflußnahme auf die geplante Aufnahme des Praenatestes in die medizinische Regelversorgung diskutiert wurde. Anschließend beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer Arbeit im Deutschen Ethikrat und bei der Vermittlung ethischer Kompetenz in Heil- und Pflegeberufen wie auch der Sozialen Arbeit.


Bei der Podiumsdiskussion - Foto: © 2018 by Schattenblick

Sigrid Graumann
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie wurden heute als jemand vorgestellt, der sozusagen mit drei Hüten auftritt. Können Sie diese verschiedenen Felder, auf denen Sie tätig sind, erläutern?

Sigrid Graumann (SG): Als erstes trete ich natürlich für unsere Evangelische Hochschule als Wissenschaftlerin auf. Ich bin Philosophin und Humangenetikerin und habe bei uns die Professur für Ethik in der Heilpädagogik und in der Pflege inne. Der zweite Hut meint die Wissenschaftlerin, die zur UN-Behindertenrechtskonvention arbeitet, und der dritte Hut steht für die ehrenamtlich Engagierte in diversen Politikberatungsgremien. Allerdings bin ich inzwischen nur noch im Deutschen Ethikrat tätig.

SB: Können Sie in allen drei Bereichen Ihre persönliche Position verwirklichen, die ja auch biographisch gewachsen ist?

SG: Ja, ich vertrete meine Position in allen drei Bereichen und habe bisher nicht die Erfahrung gemacht, daß ich mich irgendwo unterordnen oder anpassen müßte.

SB: Der Deutsche Ethikrat gibt auf ganz verschiedenen Feldern Empfehlungen ab. Welches Thema lag der jüngsten Stellungnahme zugrunde?

SG: Wir haben eine Stellungnahme zu Big Data im Gesundheitswesen gemacht, an der ich auch beteiligt war, allerdings nicht maßgeblich, weil ich eine andere Arbeitsgruppe federführend leite, aber ich stehe hinter dieser Stellungnahme. Wir haben kein Sondervotum abgegeben, denn ich finde, daß es eine gute Stellungnahme ist. Wie alles, was der Ethikrat macht, war es eine Kompromißstellungnahme, weil natürlich Leute mit ganz unterschiedlichen Positionen drin sind. Wir müssen uns irgendwie zusammenraufen, aber in der Regel gelingt das auch.

SB: Die wichtige Stellungnahme zum Zwischengeschlecht betrifft eher einen soziokulturellen Faktor, andere Themen sind dagegen auch von ökonomischen Interessen geprägt. Man kann den Eindruck gewinnen, daß der Ethikrat geschlossener auftritt, wenn es um kulturelle Fragen geht, die an Rechtsgrundlagen wie der Menschenwürde und dem Gleichheitsprinzip orientiert sind. Könnte es sein, daß es dem Ethikrat bei Fragen von ökonomischer Bedeutung schwerer fällt, zu einer einheitlichen Linie zu gelangen?

SG: Ja, das ist schon richtig, wobei ich mich bisher nicht gefragt habe, wie groß die Rolle ökonomischer Interessen dabei ist. Wenn es um biomedizinische Forschungsfragen oder Bioethik geht, gibt es natürlich starke Lobbyinteressen. Wir haben aber auch ganz starke Kontroversen in weltanschaulichen und ethischen Fragen. Das sind dann Themen, wo der Ethikrat nicht mit einer Stimme spricht, sondern wo es in der Regel Gabelvoten oder Minderheitenvoten gibt. Seitdem ich dem Ethikrat angehöre, war das in dem Maße nicht der Fall. Zu Big Data im Gesundheitswesen gibt es zwar auch ein Minderheitenvotum, aber da geht es nicht um eine Riesenkontroverse.

Wir arbeiten im Moment an einer Stellungnahme zu wohltätigem Zwang, also Zwangsmaßnahmen in verschiedenen Praxisfeldern, die mit einem Beitrag zum Wohlergehen der Betroffenen gerechtfertigt werden. Das betrifft Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, in der Kinder- und Jugendhilfe und in der Pflege- und Behindertenhilfe. In einer solchen Stellungnahme gibt es natürlich im Detail kontroverse Positionen, aber ich würde sagen, daß der ganze Ethikrat dafür einsteht, daß die Praxis dringend reformbedürftig ist. Deshalb haben wir uns auf die Grundlage geeinigt, daß Zwangsmaßnahmen grundsätzlich nicht zulässig sind bei Menschen, die frei verantwortlich handeln und Entscheidungen treffen können. Nur dann, wenn die Fähigkeit zu freiem verantwortlichen Handeln eingeschränkt ist bzw. es sehr starke Indizien dafür gibt, können Zwangsmaßnahmen unter bestimmten Bedingungen gerechtfertigt sein, die wir zudem sehr eng formuliert haben. Das ist eine Stellungnahme, die aus meiner Sicht wenig mit ökonomischen Interessen zu tun hat. Nun könnte man einwenden, daß die Pharmaindustrie ja Medikamente verkaufen will, was durchaus stimmt, aber sie sagt nicht, daß sie zwangsweise verabreicht werden müssen. In Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, in denen intensivpädagogische Maßnahmen mit Zwangselementen angewendet werden, gibt es vielleicht bestimmte ökonomische Fehlanreize. Aber das sind nicht die großen Fragen ökonomischen Interesses, die Sie vielleicht im Blick haben.

SB: Deckt sich die Stellungnahme des Ethikrats mit der entsprechenden UN-Konvention?

SG: Wir beziehen uns in der Stellungnahme an einigen Stellen auf die UN-Behindertenrechtskonvention, nur daß wir nicht die Radikalposition beziehen, daß jede Form von Zwangsbehandlung Folter darstellt. Diese Position vertritt der Ethikrat definitiv nicht. Das vertreten andere.

SB: Werden etwa bei biomedizinischen Fragen ethische Normen a priori gesetzt, oder handelt es sich eher um Reaktionen auf technologische Entwicklungen, zu denen man sich in irgendeiner Form verhalten muß?

SG: Ich unterrichte Berufsethik in der Heilpädagogik und in der Sozialen Arbeit. Bei der Einführung in die Ethik werden verschiedene Theorien und Grundbegriffe gelehrt, um deutlich zu machen, was gute und was schlechte Argumente sind, also solche, die auf einer guten Begründungsbasis und solche, die auf einer problematischen Begründungsbasis stehen. Uns ist erst einmal wichtig, daß unsere Studierenden lernen, überall dort im Berufsfeld, wo sie moralische Skrupel haben, wo sie mit anderen in Konflikte über Werthaltungen geraten, diskursfähig zu sein. Sie sollen in der Lage sein, ihre eigene Position zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen bzw. zu vertreten, um auch zu sehen, wo die Stärken und Schwächen ihrer eigenen Position und ihrer Argumentation liegen. Das wollen wir ihnen zuerst beibringen.

Pragmatik spielt an dieser Stelle weniger eine Rolle. Es geht erst einmal darum, welche Normen verbindlich sind, und es geht um Haltung, also eigentlich auch einen tugendethischen Aspekt. Mit Biomedizin haben unsere Studierenden direkt nicht so viel zu tun. Das spielt nur an bestimmten Punkten eine Rolle. Ich gebe einmal ein Beispiel: Die Frage, inwieweit Pränataldiagnostik Entscheidungsdruck auf werdende Eltern aufbaut und mit der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in Verbindung gebracht werden muß, ist relevant für diejenigen, die in der Heilpädagogik arbeiten, weil sie es mit solchen Fragen auch in der Praxis zu tun bekommen. Sie müssen sich dazu positionieren und eine Haltung entwickeln. Das betrifft auch Leute aus der Sozialen Arbeit, die in Beratungskontexte wollen, wo das eine Rolle spielt.

Um noch einmal auf das Thema Zwangsmaßnahmen zurückzukommen: Wir haben eine Renaissance von, ich würde mal sagen, pädagogischen oder Erziehungskonzepten, die auf Konditionierung setzen und sich häufig stark auf neurobiologische Erkenntnisse stützen. Ich biete immer ein Seminar zu Neuroethik an, wo wir uns damit auseinandersetzen, was Neurowissenschaften tatsächlich aussagen können, also schon zu fragen, ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Daneben spielen auch erkenntnistheoretische Fragen eine große Rolle, so daß die Studierenden, wenn beispielsweise ein Lernprogramm auf neurobiologischen Kenntnissen aufbaut, auch lernen, diese Kenntnisse in ihrer Aussagekraft, aber auch in den Grenzen der Aussagekraft einschätzen zu können und nicht annehmen, daß ein bestimmtes Erziehungskonzept, nur weil es eine neurowissenschaftliche und damit auch eine positiv wissenschaftliche Grundlage hat, per se ein gutes Konzept sein muß. Nur weil dies mit entsprechenden Darstellungen irgendwelcher Reiz-Reaktionsmuster nachgewiesen werden kann und jemand in einem solchen Erziehungskonzept vielleicht hinterher ein bestimmtes konditioniertes oder angepaßtes Verhalten zeigt, heißt das noch nicht, daß es zu einem akzeptablen Lebensvollzug beiträgt. Diese Differenzierung versuchen wir in der Ethik zu vermitteln.

SB: Die Aussichten, die Zulassung des Praenatests zu verhindern, sind nicht so gut. Die Aktivistinnen hier auf der Tagung treten mit viel Aufwand und Mühe für etwas ein, das nicht unbedingt von Erfolg gekrönt sein wird. Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, sich dennoch dafür einzusetzen?

SG: Es geht hier um eine notwendige Diskussion über Werte und Normen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben steuern, und nicht ausschließlich darum, ob der Praenatest als Kassenleistung zugelassen wird oder nicht. Es geht um die Frage, welche Haltung eigentlich dahintersteckt, denn dieser Test ist ganz klar selektiv und von der Seite der Ethik her gegen Menschen mit Down-Syndrom gerichtet, indem er Entscheidungen über einen Schwangerschaftsabbruch ermöglicht. Es geht um das Bild von Behinderung in unserer Gesellschaft. Wenn wir einen solchen Test entwickeln und zulassen, dann stecken zum einen die ökonomischen Interessen derjenigen dahinter, die den Test anbieten, aber sie können diese nur darauf aufbauen, was als gesellschaftlich wünschenswert gilt und was nicht. Sie würden keinen Test anbieten, den niemand in Anspruch nimmt. Da dieser Test nur als Kassenleistung Sinn macht, was neutral und nicht wertend gemeint ist, muß gewährleistet sein, daß ihn Menschen auch haben und nutzen wollen.

Im Test spiegelt sich im Grunde ein bestimmtes Verständnis von Behinderung als etwas, was es zu verhindern gilt, notfalls auch um die Verhinderung der Existenz von Menschen mit einer Behinderung. Das scheint eine gesellschaftliche Überzeugung zu sein, die zumindest viele in der Gesellschaft teilen. Das heißt nicht, daß sie von allen geteilt wird, sondern es gibt einen Wertekonflikt. Nun gibt es aber auch Menschen mit Behinderung, die sich in ihrer Existenzberechtigung dadurch in Frage gestellt fühlen, und zwar durch die Haltung, die hinter diesem Phänomen steckt, daß dieser Test entwickelt und in der Praxis etabliert werden konnte und jetzt als Kassenleistung zugelassen werden soll. Es gibt Eltern, die Kinder mit Behinderung haben, die damit ihren Einsatz für ihr Kind und ihre Liebe zu ihrem Kind in Frage gestellt sehen. Ich denke, daß es wichtig ist, das zu thematisieren. Es geht jetzt nicht primär um Einzelpraktiken und noch weniger darum, einzelne Entscheidungen im Sinne von für und wider zu beurteilen. Es geht darum, auf eine Wertedebatte in der Gesellschaft zu bestehen und sie auch mitzubestimmen. Dafür stehe ich.

SB: Frau Graumann, vielen Dank für das Gespräch.


Am Tisch mit Mikros auf der Bühne - Foto: © 2018 by Schattenblick

Podiumsdiskussion mit Holger Jeppel, Claudia Heinkel, Sigrid Graumann und Brigitte Faber
Foto: © 2018 by Schattenblick


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31. Juli 2018


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