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INTERVIEW/038: Pränataldiagnostik - Verdaulichkeit und Wechselwert ...    Anne Leichtfuß im Gespräch (SB)


Gespräch am 17. Juni 2018 in Essen


Anne Leichtfuß ist Simultandolmetscherin für Leichte Sprache und arbeitet als Journalistin unter anderem für das Kulturmagazin für Menschen mit Down-Syndrom "Ohrenkuss". Auf der Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Essen hielt sie einen Vortrag zu der dort diskutierten Frage, wie sich Forderungen nach barrierefreierer Kommunikation und Leichter Sprache in der Arbeit des Netzwerkes umsetzen lassen.

Dabei erfuhren die AktivistInnen, daß die Bundesrepublik bei der Beseitigung von Barrieren in der Kommunikation auch laut dem Staatenbericht der UN-Behindertenrechtskonvention im Vergleich zu anderen europäischen Staaten zurückliegt. Zwar gilt seit 2014 für die Bundesregierung, den BürgerInnen auch Angebote in Leichter Sprache zu machen. Doch in Finnland beispielsweise ist Leichte Sprache schon seit den 1970er Jahren verfügbar. Buchläden bieten entsprechende Texte in eigenen Regalen an, und es gibt eine Tageszeitung und tägliche Fernsehnachrichten in Leichter Sprache, während in der Bundesrepublik lediglich einmal in der Woche ein Nachrichtenüberblick in Leichter Sprache angeboten wird.

Bei den in Frage kommenden AdressatInnen für Leichte Sprache stellen Menschen mit Lernschwierigkeiten den größten Teil der Zielgruppe. Weiterhin wird sie von funktionalen AnalphabetInnen, von Menschen mit Demenz oder Aphasie, von prälingualen Gehörlosen, fachfremden Laien und Menschen mit Deutsch als Fremdsprache in Anspruch genommen. Für letzere gibt es noch die Einfache Sprache. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Angeboten besteht darin, daß in Leichter Sprache mit Prüfgruppen gearbeitet wird. Mindestens zwei Personen aus der jeweiligen Zielgruppe untersuchen die ihnen zugedachten Texte zuvor mit einem kritischen Blick auf ihre Verständnisfähigkeit hin und machen gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge. Eine solche an den NutzerInnen orientierte Prüfung einzelner Texte findet bei der Einfachen Sprache nicht statt.

Insgesamt, so erklärt Anne Leichtfuß, gebe es für Angebote in Leichter Sprache große Zielgruppen mit teilweise sehr unterschiedlichen Rezeptionsbedürfnissen. Je nachdem wie komplex ein vorgetragener Text sei, nähmen auch viele Menschen ihre Simultanübersetzung in Anspruch, die ursprünglich nicht zu der jeweiligen Zielgruppe gerechnet wurden.

Zu den wesentlichen von ihr vorgestellten Regeln für Leichte Sprache gehört das Bilden kurzer Sätze, die jeweils nur eine Information enthalten. Fremdwörter und Fachbegriffe sind entweder zu vermeiden, zu erklären oder durch einfachere Begriffe zu ersetzen. Sie stelle sich immer die Frage, inwiefern diese Begriffe überhaupt benötigt werden, um das jeweilige Thema zu verstehen. Für schriftliche Texte gilt, für jeden Satz eine eigene Zeile zu nutzen.

In politischer Rhetorik werde häufig zwischen den Zeilen geredet, während für die Leichte Sprache klare und eindeutige Aussagen benötigt werden. Da komplexe Sprachmanöver mitunter dazu dienen, sich bedeckt zu halten und nicht auf eine Weise Stellung zu beziehen, die unerwünschte Konsequenzen haben könnte, kann das bei Vortragenden zu Irritationen führen. Sie kommentieren Übersetzungen in Leichte Sprache mitunter mit den Worten, sie hätten es schon so gemeint, wollten es aber nicht so deutlich aussprechen. Das ergebe eine interessante Dynamik, so Leichtfuß, die angibt, noch niemals mit einem Thema konfrontiert gewesen zu sein, das sie nicht in Einfache Sprache übersetzen konnte. Man kann alles übersetzen, es muß nur verständlich sein, könnte das Credo der Simultandolmetscherin lauten, die dem Schattenblick nach ihrem Vortrag noch einige Fragen zur Leichten Sprache beantwortete.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Anne Leichtfuß
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Was hat dich dazu bewogen, diesen speziellen Berufsweg als Dolmetscherin für Leichte Sprache einzuschlagen?

Anne Leichtfuß (AL): Ich habe Online-Redakteurin in Köln studiert. Ein kleiner Teil dieses Studiums befaßt sich auch mit Aspekten der Barrierefreiheit. So bin ich zum ersten Mal der Leichten Sprache begegnet. Dann habe ich meine Bachelor-Arbeit darüber geschrieben, wie Websites aufgebaut sein müssen, damit Menschen mit Down-Syndrom sie gut nutzen können. Die Leichte Sprache war ein Teilaspekt davon. Im Zuge dessen habe ich mich mit dem Regelwerk beschäftigt und gemerkt, daß mir die Arbeit mit Leichter Sprache total liegt und ich Spaß daran habe. Meine Bachelor-Arbeit habe ich in zwei Varianten geschrieben - in einer komplexen Variante und einmal in Leichter Sprache. Das konnte ich sogar als Arbeitsmittel nutzen, denn wenn ich noch keine stimmige Version in Leichter Sprache gefunden hatte, war der Rest auch noch schwammig. So habe ich angefangen.

Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen mit Down-Syndrom, mit denen ich zusammenarbeite. Das heißt, ich habe viel in gesprochener Leichter Sprache kommuniziert. Daraus etwas Berufliches zu machen war zunächst gar nicht meine Absicht. Aber dann bin ich von zwei Veranstaltern angesprochen worden, die einen Fachtag planten, wo alle alles verstehen können. Es gab aber keine Dolmetscher in Leichter Sprache. Daher sagten sie zu mir, laß uns das ausprobieren, es ist ein Experiment, das noch nie jemand gemacht hat. Damit habe ich meine Tätigkeit begonnen.

SB: Du erwähntest in deinem Vortrag, daß die Simultanübersetzung in Leichte Sprache von der zeitlichen Dauer her durchaus eins zu eins ausfallen kann. Das klingt erstaunlich, wenn man bedenkt, daß bei einem Fachvortrag beispielsweise über Rechtsfragen fast jeder zehnte Begriff noch einmal extra erklärt werden müßte, was eigentlich länger dauern sollte.

AL: Das stimmt. Ich erkläre Begriffszusammenhänge, und das dauert länger, aber an anderen Stellen gibt es in der gesprochenen Sprache viele Füllwörter, Floskeln und Worthülsen, die eigentlich inhaltslos sind. Wenn ich diese einspare, hole ich wieder auf zu dem, was vorne am Podest gesprochen wird.

SB: Wie bestimmst du das Niveau der Übersetzung? Es geht ja nicht nur um eine pauschale Übersetzung von Fremdwörtern, weil auch alltägliche Begriffe wie zum Beispiel "Recht" im gewissen Sinne erklärungsbedürftig sein können.

AL: Auf jeden Fall. Ich entscheide das tatsächlich bei jedem Begriff und gerade bei Worten, die nichts mit der Fachdisziplin zu tun haben. Wenn jemand zum Beispiel das Wort "transparent" oder "Reflexion" benutzt, entscheide ich, ob ich es fürs Textverständnis brauche oder es durch etwas Verständlicheres ersetzen kann wie im Falle von "Reflexion" beispielsweise durch "Nachdenken". Das ist eine einfache Lösung, die ich dann nicht zu erklären brauche. Natürlich kommt es auch immer darauf an, wer meine Zielgruppe ist oder was ich vielleicht an Vorwissen bzw. schulischer Bildung voraussetzen kann, welche Begriffe aus einer Fachdisziplin sind, die ich möglicherweise nicht kenne oder von denen ich nur eine vage Vorstellung habe, ohne es konkret zu wissen. Die wähle ich aus und erkläre sie.

Das Ganze ist natürlich auch ein Ergebnis der Zusammenarbeit mit meinen Prüfern und Prüferinnen. Am Anfang war ich nicht immer sicher, welche Begriffe eine Erläuterung brauchen, aber dadurch, daß ich jeden meiner schriftlichen Texte prüfen lasse, bekomme ich ein Feedback. Simultan geht das natürlich nicht, aber über die Jahre lernt man, was man noch erklären muß.

SB: Deutsch ist eine sehr dynamische Sprache, wo etwa Nebensatzkonstruktionen nicht wie im Englischen einen seriellen Charakter haben, sondern eine inhaltliche Hierarchie aufweisen. Läßt sich ein komplexer Satz für dich zufriedenstellend zerlegen?

AL: Ja, ich benutze fast keine Nebensätze, und in der Regel kann ich solche Hierarchien auch mit einzelnen Sätzen oder mit einer Reihenfolge, vielleicht noch mit einer graphischen Unterstützung abbilden, indem ich beispielsweise an einer bestimmten Stelle eine Aufzählung verwende.


Anne Leichtfuß im Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Leichte Sprache gut erklärt
Foto: © 2018 by Schattenblick

SB: Sprache ist ja auch ein Herrschaftsmittel, was etwa im Verhältnis von Wissenschafts-, Technokraten- und Verwaltungssprache zur Umgangssprache zum Tragen kommt. Wie gelingt es dir, den direkten Charakter des barrierefreien Sprechens beispielsweise der bewußten Absicht, Menschen auszuschließen, entgegenzuhalten?

AL: Es gibt ganz viele Punkte, die Vortragende über Sprache transportieren, die über einen reinen Wissenstransfer weit hinausgehen. Ich definiere mich über Sprache. Wie ich sie verwende, sagt etwas über meinen Bildungshintergrund aus, oder ich mache verständlich, ob ich mit jemandem über ein Thema reden möchte oder nicht bzw. ob es mir egal ist, daß der andere bei dem, was ich sage, mitkommt. Wenn man sich die Historie des Dolmetschens anschaut, dann ging es darum, daß die Herrschenden sich verständlich machen. Was jene sagten, deren Gebiete sie besetzt hatten, war ihnen total egal. Beim Dolmetschen gab es also nur eine Richtung. Das sind alles Aspekte, die ich auf dem Schirm habe. In diese mitunter lange bestehenden Hierarchien greift die Leichte Sprache ein, indem Prozesse und Inhalte verständlicher werden, und auch dadurch, daß ich durch diese Form von Sprache ein Meinungsbild von Personen einholen kann, für die sich jahrzehntelang niemand interessiert hat. Faszinierenderweise verändert sich das, je mehr Menschen erreicht werden.

SB: Es gibt Literatur und Bildungstexte für Kinder, die speziell für sie verfaßt werden, um ihnen zum Beispiel etwas über Natur und Umwelt beizubringen. Gibt es aus deiner Sicht einen Unterschied zwischen einer kindgerechten und der Leichten Sprache?

AL: Wenn es eine gute Übersetzung ist für Kinder, dann funktioniert das sprachlich oft auch für Menschen aus der Zielgruppe für Leichte Sprache, aber der Inhalt ist natürlich nicht konform. Ich kann in Leichter Sprache zum Beispiel über pränatale Diagnostik sprechen, mit einem Kind geht das nicht. Die Inhalte sind der Unterschied. Gleichwohl nervt das kindgerechte Design oft meine erwachsenen Kolleginnen und Kollegen, die nicht selten in einer Rechtfertigungssituation sind, für Kinder gehalten und geduzt werden. Wenn dann noch irgendwelche hopsenden Mäuse auf dem Papier zu sehen sind, macht es das nicht besser. (lacht)

SB: Verfolgst du in deiner Arbeit auch ein pädagogisches Ziel, beispielsweise, daß die Menschen dadurch eine andere Form des Verständnisses zur Sprache entwickeln?

AL: Ich habe keinen pädagogischen Anspruch, sondern biete lediglich eine Dienstleistung an. Ob eine Person das in Anspruch nimmt, um dieses oder jenes zu erreichen, will nicht ich entscheiden, das überlasse ich bewußt meinem Gegenüber.

SB: In deinem Vortrag erwähntest du, daß Herr Professor Böhme, ein Mitarbeiter vom Museum König in Bonn, gut rüberkommt, auch wenn er sich nicht bewußt in Leichter Sprache ausdrückt, also eine Kommunikation benutzt, die nicht nur über Text- und Wortkonstrukte läuft, sondern im Grunde genommen mehrdimensional ist. Inwieweit spielt der Einsatz von Gestik oder die Intensität, mit der ein Mensch spricht, eine Rolle in der Leichten Sprache?

AL: Museumsführungen sind ein gutes Beispiel dafür, weil man es immer mit verschiedenen Charakteren zu tun hat, die auf sehr unterschiedliche Art Informationen vermitteln. Ja, Gestik oder eine lebendige Sprache hilft beim Verständnis und auch dabei, die Person direkt anzusprechen und einen Bezug herzustellen, was das mit einem selbst zu tun hat. Es hilft auch dabei, am Ball zu bleiben. Wichtig ist auch die eigene Begeisterung.

SB: Ein Rechtsanspruch auf Übersetzungen in Leichter Sprache existiert nicht. Gibt es dennoch Bestrebungen von Behindertenverbänden, so etwas zu etablieren und für die Kostenerstattung bei Veranstaltungen zu sorgen?

AL: Das ist eine Riesenbaustelle. Es gibt meines Wissens keine aktiven Bestrebungen, an der Rechtslage etwas zu verändern, weder an der Finanzierung noch an den Ausbildungsmöglichkeiten. Es gibt keine Ausbildungsgänge fürs Simultandolmetschen in Leichte Sprache. Bundesweit können das im Moment nur drei Personen. Jahrelang war ich die einzige. Aktuell gibt es, soweit ich weiß, keine Bestrebungen, das breiter aufzustellen in Deutschland, obwohl es im Staatenbericht der UN-Behindertenrechtskonvention angemahnt wurde.

SB: Wenn du unser Gespräch nimmst, wäre es möglicherweise als Lesetext zugänglich für Menschen, die Leichte Sprache benötigen, oder müßte man es herunterbrechen?

AL: Ich glaube, das meiste ist verständlich, aber ich hätte mehr Beispiele verwendet. Sprache als Machtstruktur kann man jetzt nicht unbedingt aus dem Stand einsortieren. Mit eingestreuten Beispielen kommt man, denke ich, besser klar.

SB: Anne, vielen Dank für das Gespräch.


Netzwerktagug in Essen - Foto: © 2018 by Schattenblick

Barrierefreiheit für eine breite Mobilisierung
Foto: © 2018 by Schattenblick


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