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INTERVIEW/036: Pränataldiagnostik - offen sprechen ...    Judith Hennemann im Gespräch (SB)


Gespräch am 15. Juni 2018 in Essen


Die Beratungsstelle Cara [1] in Bremen wurde 1990 als das bundesweit erste medizinunabhängige, psychosoziale Beratungsangebot mit Schwerpunkt auf pränataldiagnostische Verfahren für schwangere Frauen gegründet. Die Gründerinnen aus der Frauen- und Gesundheitsbewegung wollten damit ein durchaus auch gesellschaftspolitisch gemeintes Angebot machen, war es ihnen doch ein Anliegen, Pränataldiagnostik als selektive Methode kritisch zu hinterfragen. Heute begleiten dort die Diplompädagoginnen Judith Hennemann und Gabriele Frech-Wulfmeyer schwangere Frauen mit ihrer ergebnisoffenen Beratungstätigkeit bei der schwierigen Entscheidung, in welchem Ausmaß und ob überhaupt sie die diagnostischen und prognostischen Angebote der prädiktiven Geburtsmedizin in Anspruch nehmen wollen. Zudem bieten sie als Expertinnen für Pränataldiagnostik umfassende Informationen im Fall vorliegender Befunde an.

Auf der Jahrestagung des Netzwerkes gegen Selektion durch Pränataldiagnostik in Essen, an der die beiden Beraterinnen von Cara Bremen teilnahmen, beantwortete Judith Hennemann dem Schattenblick einige Fragen zu ihrer Tätigkeit.


Im Gespräch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Judith Hennemann
Foto: © 2018 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Judith, könntest du in ein paar Worten die Tätigkeit eurer Beratungsstelle darstellen?

Judith Hennemann (JH): Wir sind auch eine anerkannte Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle, aber unser Schwerpunkt ist die Beratung zu Pränataldiagnostik vor und nach Inanspruchnahme, wenn ein Befund vorliegt. Zu unserem Aufgabenfeld gehört auch die Begleitung von Frauen, die entweder einen Abbruch gemacht oder sich vielleicht doch für das Leben mit einem behinderten oder kranken Kind entschieden haben. Das Feld ist ziemlich weit.

SB: Inwiefern spielt die Frage des Schwangerschaftsabbruchs eine Rolle in eurer Beratungsarbeit?

JH: Vor Inanspruchnahme heißt bei uns, bevor sie sich überhaupt in dieses Räderwerk der Pränataldiagnostik begibt. Das sind unsere allerliebsten Beratungen, wenn noch gar nicht klar ist, ob die Klientin einen Bluttest oder überhaupt Ultraschall macht und wir Aufklärungsarbeit leisten können. So können wir vermitteln, was genau bei der Pränataldiagnostik passiert und wie sicher die Aussagekraft der daraus resultierenden Ergebnisse überhaupt ist. Wenn die Frauen allerdings mit einem Befund oder Verdacht zu uns kommen, geht es tatsächlich immer um das Thema Abbruch, also um die Frage ja oder nein.

SB: Ihr habt eine kritische Einstellung zu prändataldiagnostischen Verfahren, beratet aber prinzipiell ergebnisoffen?

JH: Genau. Wir gucken, was braucht diese Frau oder dieses Paar - meistens kommen sie zu zweit. Ergebnisoffen steht bei uns ganz oben, und in diesem Sinne sind wir auch darum bemüht, so etwas wie eine Begleitung in der Entscheidungsfindung und vielleicht auch ein bißchen Puffer zu sein nach dem Schock der Befundmitteilung.

SB: Für Frauen, die mit einem Befund auf Trisomie zu euch kommen, muß quasi eine Welt zusammenbrechen. Wie kann man sich das vorstellen? Löst das eine existentielle Krise aus?

JH: Die Frauen, die zu uns kommen, befinden sich fast alle in einem absoluten Schockzustand. Das ist das schlimmste, was passieren kann. Sie sind total verunsichert und oftmals gar nicht in der Lage, wirklich zu rekonstruieren, was gewesen ist und was sie konkret erfahren haben. Wenn sie mit einem positiven Befund kommen, findet von unserer Seite her immer auch ein wenig Krisenintervention statt. In Bremen gibt es die Besonderheit, daß wir ein relativ gut funktionierendes Netzwerk von allen Berufsgruppen haben, die mit dem Thema Pränataldiagnostik befaßt sind. Die Frauen werden häufig direkt von der pränataldiagnostischen Praxis an uns weitervermittelt, so daß sie manchmal ein paar Stunden oder ein, zwei Tage nach der Diagnose bei uns sind. Viel Zeit liegt also nicht dazwischen, und Zeit ist ohnehin ein ganz wesentlicher Punkt in der Beratungspraxis, weil Frauen oder Paare das Gefühl haben, sie müßten jetzt schnell eine Entscheidung treffen, was gar nicht stimmt, aber das Gefühl ist einfach da.

SB: Stimmt das nicht bezogen auf die Dreimonatsfrist?

JH: Ich will ein typisches Beispiel schildern: Die Frau bekommt vom Arzt den Befund und zugleich mitgeteilt, daß drei Tage lang sowieso nichts geschieht. Ab Mitteilung des Befundes müssen drei Kalendertage vergehen, bevor man überhaupt weitere Maßnahmen wie einen Abbruch oder eine Fruchtwasseruntersuchung ergreifen kann. Die Frau kommt zu uns und denkt, sie hat nur drei Tage Zeit, bis dahin muß die Entscheidung gefallen sein. Das ist zumindest das, was sie gehört hat. Unsere Aufgabe ist es dann, diesen Druck herauszunehmen und dem Paar zu sagen, nehmt euch so viel Zeit, wie nötig ist, das ist eine ganz wichtige, vielleicht die wichtigste Entscheidung in eurem Leben, laßt uns das Ganze in aller Ruhe besprechen und versuchen, in alle Richtungen, die es gibt, zu schauen.

SB: Haben eine Frau oder ein Paar mit Befund auf Trisomie 21 deiner Erfahrung nach eher ein Problem damit, überhaupt einen Menschen zur Welt zu bringen, der "nicht normal" ist, oder dominieren eher die Bedenken, was das soziale Umfeld dazu sagt?

JH: Ich glaube, das vermischt sich, das kann man gar nicht so eindeutig sagen. Aus unserer Erfahrung entscheiden sich die meisten Paare bei der Diagnose Trisomie 21 für einen Abbruch. Dafür gibt es ganz verschiedene Gründe, zum Beispiel die Vorstellung, nicht mehr arbeiten zu können. Sie können sich nicht vorstellen, quasi das Leben aufzugeben, das sie angestrebt haben. Ganz oft wird das Leiden des Kindes angegeben, sie möchten ihrem Kind so ein Leben nicht zumuten. Sie wissen ja gar nicht, wie sich das Kind entwickelt. Häufig wird gesagt, ja, wenn wir wüßten, daß es nur eine leichte Form der Abweichung hätte, aber das kann uns keiner sagen. Da kommt sehr viel zusammen. Es ist ein wahnsinniges Gedankenkarussell, das die Leute nicht mehr aussteigen läßt.

SB: Was ist euer persönliches Interesse an dieser Arbeit, jetzt einmal unabhängig davon, daß man einen Job hat. Wo würdest du den Sinn dieser Arbeit für dich verorten?

JH: Für mich ist das wirklich mein Traumjob. Ich mache ihn sehr gerne und aus der Überzeugung heraus, diesen Frauen in dieser Zeit irgendwie zur Seite zu stehen und ihnen das zu geben, was sie vielleicht brauchen. Ich habe nur einen ganz kleinen Anteil an dieser Geschichte. Es geht darum, einfach da zu sein, zuzuhören und Verständnis zu zeigen. Zu meiner persönlichen Motivation möchte ich noch sagen, daß ich selber eine Tochter mit Downsyndrom habe und ursprünglich aus der Selbsthilfe komme. Ich möchte im Sinne der Aufklärung dazu beitragen, den Menschen andere Wege aufzuzeigen, weil das in der Beratung so nicht vorkommt. Ich sage ja nicht "ich habe übrigens ein Kind mit Downsyndrom", aber wir begegnen uns ja alle als Menschen, und ich glaube, man strahlt auch etwas aus.

Wenn nach meinem Wissen gefragt wird, dann biete ich das auch an, ohne jetzt unbedingt zu erklären, woher es stammt. Einmal hatte ich ein Paar, das völlig überwältigt war von dem Befund Trisomie 21, was halt am häufigsten vorkommt. Sie wollten alles wissen. Ich habe gesagt, okay, ihr könnt alles fragen, was ihr wissen wollt und ich werde versuche, eure Fragen bestmöglich zu beantworten. Sie haben mich anderthalb Stunden wirklich im Detail ausgefragt, ohne zu hinterfragen, woher dieses Wissen kommt. Sie interessierten sich gar nicht für mich persönlich, und so konnte ich quasi etwas anbieten. Man kann entweder Verständnis zeigen oder, wenn sie im Schuldgefühl stecken, auch sagen, ja, es ist schrecklich und auch schmerzhaft, das auszuhalten. Manchmal hat man auch die Gelegenheit, Wissen, das man sich angeeignet hat, anzubieten, und das macht dann meine Zufriedenheit im Job aus.

SB: Die Tagung hier dreht sich um das Thema Behindertenkonvention und Pränataldiagnostik, was einen kritischen Ansatz enthält. Was wünscht du dir im gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die nicht der allgemein erwarteten Norm entsprechen?

JH: Das ist die große Frage und überhaupt das, was uns immer wieder beschäftigt, nämlich der Wunsch nach einer gesellschaftlichen Anerkennung von Anderssein. Ich glaube, darum geht es. Wir beraten ja in einem gewissen Rahmen, der gesetzlich vorgegeben ist. Theoretisch kann man bis zum Ende der Schwangerschaft abtreiben, das ist einfach so. Und da denke ich manchmal, daß man auch an die eigenen Grenzen gelangt und fragt, ob das gut ist und was es über uns als Menschen und als Gesellschaft aussagt. All das hinterfragen und überdenken wir hier auch in Hinsicht darauf, politische Entwicklungen anzustoßen.

SB: Judith, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnote:

[1] https://www.cara-bremen.de


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