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INTERVIEW/020: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Freiraum, Pharma, Übergriffe, Matthias Seibt im Gespräch (SB)


Stoffwechselamöben im therapeutischen Staat

Interview am 22. November 2013 in der Universität Essen



Auf der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?", die am 22. und 23. November 2013 an der Universität Essen stattfand, berichtete Matthias Seibt vom Vorstand des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (LPE) NRW in einem Workshop über die Arbeit in einer betroffenengeführten Anlaufstelle in der Nähe des Hauptbahnhofs Bochum. Entstanden aus dem ursprünglichen Vorhaben, ein Weglaufhaus für Psychiatriegeschädigte anzubieten, mündete die Initiative eines Kreises Psychiatrieerfahrener schließlich in das heute auf zehn Jahre erfolgreiche Arbeit mit Patientinnen und Patienten zurückblickende Projekt. Wer sich in der Psychiatrie nicht gut aufgehoben fühlt, sondern dort eine Verschlimmerung seiner oder ihrer Situation erlebt, wer einmal einige Tage Abstand aus einer psychisch belastenden Lebenslage nehmen will, um eine aktuelle Krise zu überwinden, ist in der gemeinschaftlich betreuten Wohnung gut aufgehoben. So beherbergt die Anlaufstelle neben Büroeinrichtungen für den LPE NRW und den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) ein Krisenzimmer, das psychiatrisierte Menschen bis zu drei Monate dafür nutzen können, sich dem klinischen Alltag zu entwöhnen und bessere Voraussetzungen für ein "normales" Leben in der Gesellschaft zu schaffen.

Geführt wird die Einrichtung von teilzeitbeschäftigten und ehrenamtlich tätigen Menschen, die in den meisten Fällen selbst psychiatrieerfahren sind. Neben der Arbeit mit hilfesuchenden Patientinnen und Patienten, die aufgrund der umfassenden Begleitung in eine Lebenskrise geratener Menschen eine hohe Erfolgsquote aufweist, engagieren sich die Aktivistinnen und Aktivisten in der Vertretung der politischen Interessen Psychiatrieerfahrener, bieten Beratungen an, veranstalten Tagungen und beteiligen sich an Besuchskommissionen. Über die Förderung der Einrichtung hinaus erhalten sie, etwa für die Krisenbegleitung, kein Geld. Vor allem nehmen sie, was Matthias Seibt, der selbst Menschen berät, die von Neuroleptika abhängig sind und durch sie geschädigt werden, besonders wichtig ist, keine finanzielle Unterstützung der Pharmaindustrie an.

Die rund 400 im Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Nordrhein-Westfalen zusammengeschlossenen Menschen verfolgen den emanzipatorischen Ansatz, sich vom System der Psychatrie nicht weiter bevormunden zu lassen und sich der Passivität gesellschaftlicher Zuschreibungen wie der der Krankenrolle nicht zu unterwerfen [1]. Das gilt auch für Matthias Seibt, der aus eigener Erfahrung weiß, daß man mit sogenannter Verrücktheit auch anders umgehen kann, als sich in die Hände dafür zuständiger Expertinnen und Experten zu begeben. Am Rande der Konferenz bot sich die Gelegenheit, Matthias Seibt einige Fragen zu stellen.

Im Workshop - Foto: © 2013 by Schattenblick

Matthias Seibt
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Matthias, Du hast gesagt, daß 99 Prozent der Anwälte aus deiner Sicht auf der falschen Seite stehen und nicht die Interessen der Patienten vertreten.

Matthias Seibt: Ja, das gilt mindestens für den Bereich der Psychiatrie. Viele Anwälte übernehmen Mandate ohne die feste Absicht, den Psychiatrie-Patienten oder die Psychiatrie-Patientin vertreten zu wollen. Sie kassieren lediglich Anwaltsgebühren und machen sonst nichts. Nur ein Prozent der Anwälte akzeptiert die Psychiatrie-Patienten als normale Mandanten, so wie der Strafverteidiger einen Straffälligen als Mandanten akzeptiert. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, daß der Anwalt seinen Mandanten vertritt und nicht die Gegenseite oder die Interessen der Gesellschaft. Im Bereich der Psychiatrie ist das nicht so.

SB: Könntest du die Verflechtungen zwischen Anwälten und Richtern einmal näher erklären?

MS: Es gibt mehrere Interessenkonflikte. Wenn Anwälte selber Betreuungen übernehmen, werden sie nicht das Letzte geben, um ihre Klienten aus der Betreuung freizukämpfen. Ein Strafverteidiger, der nebenbei einen Knast betreibt, wäre undenkbar. Der nächste Interessenkonflikt betrifft die Richter, die zu den Anhörungen zur Unterbringung des Betroffenen in eine psychiatrische Anstalt Anwälte mitnehmen. Die Anwälte kassieren knapp 300 Euro fürs Nichtstun. Natürlich wird ein solcher Anwalt auch an anderer Stelle nicht im Interesse seines Klienten vernünftig arbeiten. Deswegen lohnt es sich, sich kundig zu machen bzw. in den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener einzutreten. Unseren Mitgliedern stehen ein paar engagierte Anwälte zur Seite. Es sind nicht viele, vielleicht zehn bundesweit, aber der Einsatz lohnt sich in jedem Fall. Der Anwalt muß nicht über viele hundert Kilometer anreisen. Es reicht, wenn er im Briefverkehr vernünftige Argumente bringt, um die Gerichte davon zu überzeugen, daß sein Klient im Recht ist.

SB: Heißt das, ein solcher Anwalt müßte die rechtlichen Druckmittel unter Bezugnahme auf Verfassungsgerichtsurteile so zu plazieren wissen, daß sein Antrag vor Gericht auch Wirkung erzielt?

MS: Ja, er muß die Rechtsprechung kennen und die entsprechenden Urteile zitieren können. Wichtig ist neben der Kenntnis der Akten letztlich, daß er sich für seinen Klienten engagiert. Den gegenteiligen Fall bekommen wir meistens erst dann mit, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Das ist insbesondere während der Gerichtsverhandlung eine Katastrophe, denn die Leute merken erst mit dem rechtskräftigen Urteil, daß sie, auch bei Bagatellstraftaten, lebenslänglich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden. Aber dann ist es zu spät. Immer wenn Forensik ins Spiel kommen könnte, sollte man sich unbedingt einen vernünftigen Anwalt und nicht den nächstbesten besorgen.

SB: Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener betreibt Aufklärung und Beratung. Ist es schon einmal vorgekommen, daß ihr Schwierigkeiten von der Gegenseite bekommen habt, weil ihr Informationen preisgebt, die unter der Decke bleiben sollen?

MS: Schwierigkeiten würde ich das nicht nennen. Die Psychiater und ihre Hilfsberufe sind natürlich hinsichtlich des Systems Psychiatrie anderer Ansicht als wir, was aber in einer Demokratie nichts Ungewöhnliches ist. Menschen haben eben verschiedene Meinungen. Die Hauptschwierigkeit bestand eher darin, daß sich unser Verband wie soviele andere Verbände nicht von der Pharmaindustrie kaufen ließ. Die Frage, ob wir dieses Blutgeld annehmen sollen oder nicht, hat uns die ersten Jahre sehr beschäftigt, aber inzwischen herrscht ein breiter Konsens darüber vor, daß wir kein Geld nehmen, an dem Blut klebt. Andersherum hatte das bei den übrigen Patientenorganisationen zur Folge, daß alle medizinkritischen Leute herausgingen, und damit waren sie nichts anderes als ein verlängerter Arm von Ärzteschaft und Pharmaindustrie. Ich will keine Namen nennen, aber ein Beispiel geben: Wenn in einem Heft einer Diabetes-Organisation auf 49 Seiten verschiedene Produkte angeboten werden und ganz klein auf Seite 37 die Empfehlung zu finden ist - "Im übrigen kann man sich auch vernünftig ernähren" -, wird schnell klar, wer hier die Feder führt.

So gesehen ist es gut, daß wir unabhängig sind. Natürlich nehmen wir Krankenkassengelder oder Geld der Bundesländer, aber das sind normale Steuergelder, an denen keine Interessen hängen wie bei Firmen und anderen Anbietern im Gesundheitswesen. Ich kann die Menschen nur aufrufen, sich kundig zu machen. Das Internet bietet sehr viele und auch widerstreitende Informationen. Auf diese Weise stellt man fest, daß es mehr als nur eine Meinung gibt. Schon bei Kant heißt es: Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Wenn ich aus der Unmündigkeit herauswill, muß ich mich erst kundig machen, ehe ich Entscheidungen treffen kann. Wenn ich jedoch auf eine Autorität hören möchte, gehe ich zum Arzt und mache, was er empfiehlt. Das ist auch eine Möglichkeit, wie man seine Freiheit leben kann.

SB: Im Workshop wurde Psychiatrie mit Gefängnis assoziiert. Manche Kritiker lehnen die Psychiatrie grundsätzlich ab, weil sie in ihren Augen ein Zwangsverhältnis darstellt. Wie siehst du das?

MS: Naja, ein Fünftel aller Psychiatrie-Insassen sitzt per richterlichem Beschluß ein. In den jährlichen Zusammenstellungen des Bundesjustizministeriums kann man nachlesen, daß von einer Million Psychiatrie-Aufenthalten etwas über 200.000 unfreiwillig sind. Zu dieser Zahl müßte man vielleicht nochmal 200.000 hinzurechnen für all diejenigen, die vor Gericht den Empfehlungen ihrer Anwälte gefolgt sind, mitzuspielen, weil ohnehin eine günstige Entscheidung des Richters zu erwarten sei. Aber selbst dann sind immer noch 60 Prozent freiwillig dort. Das zeigt, wieviel Propaganda für die psychiatrische Sicht auf die Welt betrieben wird, der dann ganz offensichtlich viele Menschen erliegen. Wenn ein Kind in der Schule Schwierigkeiten mit der Disziplin hat, attestiert man ADHS. Und wenn der Großvater zerstreut wirkt, liegt es nicht am Alter, sondern an irgendeiner Demenzerkrankung, und prompt wird er, weil ein Arzt die Diagnose gegeben hat, mit Neuroleptika vollgepumpt.

Zum Teil hat das nur mit Bequemlichkeit zu tun, denn wenn ein Kind Disziplinschwierigkeiten hat, müßte man ansonsten als Lehrer oder Elternteil vielleicht einräumen, bei der Erziehung versagt zu haben. Daß die psychiatrische Weltsicht von Menschen gerne angenommen wird, liegt daran, daß es sie von der eigenen Verantwortung entbindet. Indem sie den Empfehlungen einer Autorität folgen, können sie sich einreden, nichts falsch gemacht zu haben. Ich kann jedem nur empfehlen, sich das Milgram-Experiment in Ruhe einmal anzuschauen und zu überlegen, wie autoritätshörig man in gewissen Situationen selber ist. Wenn man den Zwangsanteil der Einweisungen abzieht und nur die Leute betrachtet, die freiwillig in die Pychiatrie gehen, dann stellen wir fest, daß keine richtige Aufklärung über die Risiken der Behandlung erfolgt. Wenn die Leute einen Blick auf den Beipackzettel ihrer Psychopharmaka werfen und den Arzt um Aufklärung bitten, werden alle Zweifel mit Verweis auf versicherungstechnische Gründe beschönigt und abgewiegelt. Als ob es in der Wirklichkeit nicht vorgekommen wäre, daß sich Leute unter Antidepressiva selber töten bzw. unter Neuroleptika schreckliche Depressionen, Bewegungsstörungen oder Diabetes kriegen. Das sind ganz reale unerwünschte Wirkungen dieser Medikamente.

Weil die Leute fast nie über die Risiken aufgeklärt werden und aus diesem Grund keine informierte Zustimmung zur Behandlung gegeben ist, würde ich sagen, daß auch bei der 60prozentigen Gruppe der Freiwilligen Körperverletzung, Betrug und wissentliche Falschaussage vorliegt. Man wird sehr viel verändern müssen, wenn alles nach Recht und Gesetz gehen bzw. eine Angleichung an bestehende Rechtsnormen erfolgen soll, aber das hätte dann nichts mehr mit der Psychiatrie zu tun, wie wir sie jetzt kennen. Daher ist es durchaus gerechtfertigt, von der Abschaffung der Psychiatrie zu sprechen.

Matthias Seibt im Vortrag - Foto: © 2013 by Schattenblick

Budgetzwänge legitimieren Machtgefälle
Foto: © 2013 by Schattenblick

SB: Euer Verband verfolgt das hochgesteckte Ziel der Abschaffung der Zwangspsychiatrie schon seit langem. Auf welche Widersprüche und Probleme seid ihr in dieser Zeit gestoßen?

MS: Ja, unser Verband arbeitet seit der Gründung 1992, also seit nunmehr 21 Jahren, daran. Auch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte hat sich übrigens diesem Ziel verschrieben. Dessen Folterbeauftragter hält Zwangsbehandlung für Folter, allermindestens wäre es unmenschliche erniedrigende Behandlung, und fordert daher die sofortige Einstellung dieser Praxis. Die Gegenseite hält dagegen den finanziellen Notstand vor, aber Kostengründe dürfen bei der Behandlung nicht die geringste Rolle spielen.

Das Bugdet ist überhaupt ein beliebtes Argument, nach dem Motto: Ja, hätten wir mehr Geld, dann wären wir viel menschlicher. Das ist verkehrt dargestellt, denn die Unmenschlichkeit der Psychiatrie kommt aus dem erdrückenden Machtgefälle in Richtung auf die Patienten. Ansonsten müßte man tatsächlich argumentieren, daß es Männergewalt gegen Frauen nur gibt, weil Männer zu wenig Geld haben. Das ist absurd. Männergewalt existiert, weil sie viel mehr Körperkraft haben als die Frau. Gewalt gegen Frauen oder Kinder existiert, weil Männer viel stärker sind. In dem Moment, wo Psychiatriepatienten mit Rechten ausgestattet sind und Beschwerdemöglichkeiten besitzen, die auch funktionieren, oder in dem Moment, wo ein Arzt wegen Körperverletzung verurteilt wird, würde die Gewalt sehr schnell verschwinden. Die jüngsten Untersuchungen zur Männergewalt gegen Frauen und Kinder belegen, daß sie im Abnehmen begriffen ist, weil diese Taten inzwischen ein wirkliches Risiko bedeuten.

SB: Welche Etappen und kurzfristigen Ziele müßten deiner Ansicht nach genommen werden, um die Psychiatrie als Institution der Fremdbestimmung eines Tages wirklich abzuschaffen?

MS: Folgendes ist zu tun: Die Patienten zu ermächtigen und auch effektive Kontrollen unter Patientenbeteiligung einzuführen. Erst dann kriegt man das Problem der Entrechtung und Rechtlosigkeit in den Griff. In der Selbsthilfe machen wir teilweise auch Krisenbegleitungen. Auch wenn es hart kommt, haben wir noch nie Gewalt angewendet, nicht nur, weil wir es gesetzlich gar nicht dürften. Wir lehnen es ab, Gewalt gegen Leute auszuüben, nur weil sie sich schräg verhalten und der allgemeine Tenor dahin geht, daß in solchen Fällen mit Gewaltmitteln durchgegriffen werden müßte. In brenzligen Situationen tun wir, was jeder Bürger tut, und rufen die Polizei, die dann entscheidet, ob der Konflikt nur mit Gewalt zu lösen ist. Ich würde auch der Psychiatrie raten, in solchen Fällen auf die Polizei zurückzugreifen und nicht selber Staatsgewalt zu spielen. Die Psychiatrie sollte sich lieber auf die Heilkunde zurückziehen.

Unsere Erfahrung ist, daß sich diese Krisen relativ schnell lösen lassen. Nun kriegen wir auch keine 280 Euro Tagessatz, so daß wir gar nicht in die Versuchung kommen, dem Patienten nach drei Wochen mitzuteilen, daß er noch längst nicht soweit ist und die Behandlung mindestens noch zwei Wochen dauern wird. Wir arbeiten ehrenamtlich und haben daher ein großes Eigeninteresse daran, die Krisen möglichst schnell zu beheben. Das soll jetzt nicht heißen, daß wir immer Erfolg haben, beileibe nicht, auch bei uns gibt es Leute, die anschließend trotzdem in der Psychiatrie landen. Aber wir haben in den 19 Jahren, in denen wir Leute in Krisen begleiten, die Erfahrung gemacht, daß es geht und man keine spezielle Ausbildung dazu braucht. Man muß zum einen den Willen haben, sich auf die Menschen einzulassen, und zum anderen geht es über die Erfahrung. Das ist wie mit dem Autofahren. Das kann man nicht nach zwei Wochen, sondern muß mehrere Jahre gefahren sein, bis man das richtige Feeling dafür hat. So ist das auch mit der Begleitung in seelischen Krisen.

SB: Historisch gesehen haben sich Psychiatrien vor allem in Metropolengesellschaften ausgebildet, um unerwünschte Existenzen aus dem Stadtbild zu entfernen. Hat sich die Psychiatrie in diesem Sinne als Steigbügelhalterin ökonomischer Interessen angeboten oder siehst du andere Gründe für ihren Erfolgsweg?

MS: Natürlich trägt die böse Psychiatrie nicht die Alleinschuld, auch die Allgemeinheit hat ihr Teil dazu beigetragen, daß sich ein psychiatrisches System in dieser Form überhaupt entwickeln konnte. Wenn die Gesellschaft einen Menschen als lästig empfindet, weil er einmal schlecht drauf ist, wird das Problem gern auf die Psychologen und Psychiater abgeschoben. Diese Bequemlichkeit kostet viel Geld, denn die Psychiatrie wird schließlich aus Steuergeldern bezahlt. Eine arme Gesellschaft könnte sich ein solches System gar nicht leisten. Das Schlimme an dieser Praxis des gesellschaftlichen Umgangs ist, daß die damit einhergehende Unmenschlichkeit jeden einzelnen spätestens dann treffen wird, wenn er ins Altenheim kommt.

SB: Willst du damit andeuten, daß gewisse Berufsstände andere Interessen verfolgen als unbedingt das Wohl der Patienten?

MS: Ja klar, das steht schon bei Anton Tschechows "Krankenzimmer Nr. 6". Der Patient freundet sich mit dem Arzt an, beide unterhalten sich über alle möglichen Themen und irgendwann sagt der Patient zum Arzt: Herr Doktor, Sie haben jetzt gesehen, daß ich so normal bin wie Sie selbst. Sie können mich jetzt rauslassen. Darauf erwidert der Arzt: Das geht nicht. In diesem Zimmer muß irgend jemand sitzen, wenn nicht Sie, dann ich, und wenn nicht ich, dann jemand anderes.

Wenn so ein System aufgebaut wird, entwickelt es eigene Interessen und versucht, sich selber größer und wichtiger zu machen, bis es ein starkes Eigengewicht bekommt. Ich behaupte, das wir im Übergang von einem demokratischen zu einem therapeutischen Staat sind, in dem der einzelne nicht mehr für sein Handeln verantwortlich ist und immer mehr Menschen in den Status eines psychisch Kranken rutschen, denen gesagt wird, sie könnten nichts für ihren Zustand.

Das ist eine ganz fatale Entwicklung, denn sie nimmt den Leuten die Möglichkeit, sich zu ändern. Wenn man mir sagt, du kriegst eine Psychose, weil du falsch mit dir umgehst, dann kann ich probieren, anders mit mir umzugehen. Liegt sie jedoch im Stoffwechsel begründet und kommt schubweise und völlig unerklärlich, dann werde ich in diese Richtung keine Anstrengungen unternehmen. Eigentlich haben wir einmal geglaubt, daß die Menschen frei und für ihr Verhalten sowohl im Guten wie im Bösen verantwortlich sind. Die Psychiatrie lehrt etwas anderes, nämlich daß wir riesige Stoffwechselamöben sind, die von ihrer Chemie hierhin und dorthin getrieben werden. Das ist ihr Menschenbild, aber ich weiß nicht, ob wir das wirklich haben möchten.

SB: Matthias, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/Kurzdarstellung%2012-2013.pdf

Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)
BERICHT/006: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Herrschaft, Brüche, Pharmafessel (SB)
BERICHT/009: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - humane Uhren laufen langsam (Wolf-Dieter Narr)
BERICHT/014: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Gedämpfte Gewalt (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)
INTERVIEW/009: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - "Und weil der Mensch ein Mensch ist ...", Kathrin Vogler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Kein Flug übers Kuckucksnest, Friedrich Schuster im Gespräch (SB)
INTERVIEW/012: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Humanes Erbe, Rolf Kohn im Gespräch (SB)
INTERVIEW/014: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Therapieziel Gesellschaftswandlung, Ulrike Detjen im Gespräch (SB)

3. Mai 2014