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INTERVIEW/012: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Humanes Erbe, Rolf Kohn im Gespräch (SB)


Behindertenpolitik in der Partei Die Linke

Interview am 23. November 2013 in der Universität Essen



Rolf Kohn ist Sprecher der Linksfraktion im Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstbestimmte Behindertenpolitik. Am Rande der Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?", die am 22. und 23. November 2013 an der Universität Essen stattfand und unter anderem vom LWL möglich gemacht wurde, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen.

Im Gespräch - Foto: © 2013 by Schattenblick

Rolf Kohn
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Kohn, an dieser Konferenz haben vor allem Psychiatrie-Erfahrene Interesse bekundet. Inwieweit gibt es für Sie als Behindertenpolitiker hier gemeinsame Schnittmengen?

Rolf Kohn: An der Behindertenpolitik arbeite ich direkt mit, aber auch das Thema Heimkinder liegt mir sehr am Herzen, und da gibt es natürlich Schnittmengen und Verbindungen zur Psychiatrie. So leben viele Menschen mit Behinderungen in Heimen und haben dort psychiatrische Erfahrungen gemacht. Hier auf der Konferenz verbinden mich auch persönliche Erfahrungen mit dem Thema.

SB: Könnten Sie die aktuelle Lage der Behindertenpolitik in Hinsicht auf die größten Brennpunkte und Problemstellungen behinderter Menschen darstellen?

RK: Ganz oben auf der Agenda stehen die UN-Behindertenrechtskonvention und deren Umsetzung durch die Aktionspläne der Landes- und Bundesregierung. Hier bei uns hat das Thema stationäre Einrichtungen Vorrang, also betreffs der Werkstätten und der Wohnsituation. Wir fordern, daß das persönliche Budget ausgebaut werden soll, um selbstbestimmt und unabhängig leben zu können. Allerdings stoßen wir auf große Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Zum einen wird versucht, die Geldleistungen zu drücken, weil man bestimmte notwendige Ausgaben nicht anerkennt und weil natürlich auch die Wohlfahrtsverbände weiter im Geschäft bleiben wollen. Zum anderen sehen wir generell das Problem, daß Menschen mit Behinderungen immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrückt werden, sowohl im politischen als auch in verschiedenen sozialen Bereichen.

SB: In der letzten Legislaturperiode des Bundestags hat Ilja Seifert als persönlich Betroffener in der Linksfraktion die Interessen der Behinderten vertreten. Gibt es heutzutage noch irgend jemanden, der einen persönlichen Grund hätte, sich auf bundespolitischer Ebene für die Belange Behinderter einzusetzen?

RK: Nein. Dr. Ilja Seifert war der einzige. Er war auch jahrelang unser behindertenpolitischer Sprecher. In Landtagen gibt es noch Menschen mit Behinderungen, wie zum Beispiel Horst Wehner, der im Landtag von Sachsen für Die Linke in dem Bereich arbeitet, oder Jürgen Maresch in Brandenburg. Wir hatten vor einigen Wochen eine behindertenpolitische Konferenz, in der es darum ging, wie Menschen mit Behinderungen in der Politik im Sinne einer Mitgestaltung besser berücksichtigt werden können. Daraus resultierte der Entschluß zur Entwicklung eines Teilhabekonzepts, zu dem es auch schon einen Entwurf gibt, wie Menschen mit Behinderungen in unserer Partei nachhaltiger partizipieren können.

SB: Gibt es zur Behindertenpolitik auch eine überparteiliche Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen oder Parteien?

RK: Es gibt nur zwei Verbände von Menschen mit Behinderungen, die behindertenübergreifend arbeiten, einmal den Allgemeinen Behindertenverband Deutschlands (ABiD) und zum anderen die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL). Diese eigentliche Schwäche der Bewegung führt innerhalb der Parteienlandschaft leider dazu, daß von Behinderten relativ wenig Einfluß ausgeübt wird. Das muß verändert werden.

SB: Das Interesse der Behinderten, nicht in Heimen zu leben, ist ein wesentlicher Programmpunkt der letzten Jahrzehnte auf der politischen Agenda von Behindertenvertretern gewesen. Davon konnte einiges verwirklicht werden, gleichzeitig könnte man den Eindruck haben, daß alleine lebende Behinderte möglicherweise stärker als früher isoliert sind. Kann man das wirklich als Fortschritt oder Inklusion bezeichnen, wenn sie nach wie vor in einer randständigen Situation leben?

RK: Das Motto "ambulant vor stationär" wird zwar gerne von der Politik verwendet, aber nur, um Geld zu sparen. Das heißt, die notwendigen Leistungen, die dazu führen könnten, daß Menschen mit Behinderungen selbständig und selbstbestimmt leben, werden nicht zur Verfügung gestellt. Aber auch in stationären Einrichtungen wird viel gespart, zum Beispiel an Therapien oder dadurch, daß Pflegesätze nicht angemessen erhöht werden. Nur wenn das persönliche Budget vernünftig ausgestattet wird, wäre ein selbstbestimmtes Arbeiten und Wohnen möglich. Dieses große Programm ist bis jetzt aber nur von wenigen Menschen in Anspruch genommen worden. Noch geringer ist der Anteil an Arbeitgebern, die nicht bloß Dienste von Wohlfahrtsverbänden abgreifen.

SB: Im Kulturbetrieb wird der behinderte Mensch weitgehend ausgeblendet. So tauchen beispielsweise in den populären Fernsehsendungen oder Serien kaum noch Behinderte auf. Gibt es in der Partei Die Linke Bestrebungen, den Anspruch sogenannter Behinderter auf vollwertige Existenz in der Gesellschaft so zu unterstützen, daß es kein Manko ist, als Behinderter auf die Welt zu kommen?

RK: Unsere Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstbestimmte Behindertenpolitik, die auch in Landesverbänden organisiert ist, hat einen eigenen Teil zum Bundestagswahlprogramm entwickelt, der zu etwa 90 Prozent auch ins Wahlprogramm eingegangen ist. Das heißt, wir versuchen durchaus, in der eigenen Partei ein Klima und Bedingungen zu schaffen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt an der politischen Arbeit unserer Partei teilnehmen können. Das gelingt nicht immer und überall, aber immerhin ist ein solcher Prozeß in unserer Partei erst einmal in Gang gekommen. Dazu gehört zum Beispiel, daß wir unsere Geschäftsstelle nach und nach barrierefrei organisieren, schon deshalb, weil die Bundestagsabgeordneten die Pflicht auferlegt bekommen haben, ihre eigenen Geschäftsstellen von Barrieren freizumachen.

SB: Die Linke als Partei hat sich zumindest in ihren Anfängen einer antikapitalistischen Agenda verschrieben, die den Menschen nicht als ein zur Verwertung durch Arbeit vorgesehenes Funktionsglied der marktwirtschaftlichen Konkurrenz betrachtet, sondern ihm eine eigenständige Qualität zuspricht. Wie weit sehen Sie diesen Anspruch in der Linkspartei heute verwirklicht, oder ist ein solches Menschenbild heutzutage nicht mehr vermittelbar?

RK: Das ist eine spannende Frage. Daher bin ich auch so begeistert von der UN-Behindertenrechtskonvention, weil es gerade darum geht, daß sich nicht der Mensch der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft dem Menschen anpassen muß, und daß es richtig ist, selbstbestimmt und frei leben und sich selber seine Wohnsituation und Arbeit aussuchen zu können. Ich glaube, wenn man die Konvention konsequent anzuwenden versucht, wird ihre Umsetzung in unserer jetzigen kapitalistischen Gesellschaft nicht möglich sein. Das heißt, wir müssen die Gesellschaftsfrage auf einer ganz anderen Stufe der Qualität neu stellen. Ich denke, dieser Spruch, "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", ist eine andere Art, dieses Ziel zu formulieren. Eine freie Wahl von Arbeit, ohne daß man an die Verwertung der Möglichkeiten denkt, wird in dieser Gesellschaft nicht umzusetzen sein. Wenn man die UN-Behindertenrechtskonvention ernstnimmt, wird sie das kapitalistische System insofern in Frage stellen.

SB: Fühlen Sie sich, bezogen auf die Behindertenpolitik, in der Linkspartei gut aufgehoben?

RK: Ich glaube, es gibt keine andere Partei, mit der dieses Ziel verwirklicht werden könnte, wenngleich dazu noch sehr viel Arbeit nötig ist.

SB: Herr Kohn, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:


Bisherige Beiträge zur Konferenz "Psychiatrie ohne Zwang - Was ist das?" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/003: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Keine Fesseln und Gewalt (SB)
BERICHT/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Unfixiert und nicht allein (SB)
BERICHT/005: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Faule Kompromisse? (SB)
BERICHT/006: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Herrschaft, Brüche, Pharmafessel (SB)
INTERVIEW/004: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Geschlossene Gesellschaft, Dr. David Schneider-Addae-Mensah im Gespräch (SB)
INTERVIEW/008: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Langsam von der Leine lassen, Dr. Piet Westdijk im Gespräch (SB)
INTERVIEW/009: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - "Und weil der Mensch ein Mensch ist ...", Kathrin Vogler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/010: Ohnmacht, Zwang und Psychiatrie - Kein Flug übers Kuckucksnest, Friedrich Schuster im Gespräch (SB)


20. März 2014