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BERICHT/025: Sterben nach Plan - Geständnismanipulation ... (SB)



Die Suggestion, wir könnten das Leben und Sterben bis zum letzten Atemzug kontrollieren, ist der imperiale Gestus der Herrscher. Wir sollten uns gegenseitig anfeuern, uns solchen Kontrollphantasien zu entziehen.
Andreas Heller auf der Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" [1]

Klaus Dörner [2] ist als Vordenker und Vorkämpfer einer Abkehr von der stationären Versorgung hilfebedürftiger Menschen in Institutionen noch immer ein wegweisender Fürsprecher der ambulanten Sorge und Integration in die Gemeinde im deutschsprachigen Raum. Im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts siedelt er die Herausbildung einer Apartheidgesellschaft an, welche die nach dem Leistungsprimat Minderwertigen und Störenden den Familien und Nachbarschaften wegnimmt, um sie in neuen sozialen Anstalten zu verwahren. Was als wissenschaftlicher Fortschritt gefeiert wird, entwöhnt die Bürger von der Sorge für andere und entwertet die Anstaltsbewohner. 70.000 Mordopfer in Folge staatlich verordneter Kalorienreduktion im Ersten Weltkrieg bereiten der Massenvernichtung "unwerten Lebens" im NS-Staat den Weg.

In den Institutionen der Ausgrenzung etablieren sich Berufsstände, die auch in der Folge den staatlich-ökonomischen Auftrag erfüllen und als Instanzen stationärer Professionalisierung die Reintegration der Insassen verhindern. Aus dieser tiefverwurzelten Tradition erklärt Dörner die außerordentliche Schwergängigkeit beim Abbau der Institutionen in Deutschland. Wie er am Beispiel der Psychiatriereform ausführt, kommt statt Gemeindepsychiatrie nur Psychiatriegemeinde dabei heraus, wo bis in den ambulanten Bereich hinein psychisch Kranke von Profis umzingelt und mithin nicht integriert sind.

Demgegenüber macht Dörner Inklusion daran fest, daß Bürger mit und ohne Erkrankung oder Einschränkung ihre Beziehungen möglichst weitgehend selbst regeln, wobei in einem zukunftsfähigen Hilfesystem die Rolle der Profis auf das unbedingt Nötige zu beschränken sei - und dies nicht so sehr wegen der Kosten, sondern vor allem um der Integration willen. Demnach gilt der neue Lehrsatz: Profis können zwar Integration fördern und daher auch verhindern, doch alltagswirksam durchsetzen können die Integration nur Bürger. Patienten, Angehörige und Nachbarn sind laut diesem Ansatz gleichermaßen handelnde Subjekte, das Umfeld ist nicht minder wichtig.

Dörner postuliert einen dritten Sozialraum zwischen dem des Privaten und jenem des Öffentlichen, in dem sich die Menschen zwar weniger verpflichtet fühlen als bei ihren Angehörigen, jedoch mehr als in der unverbindlichen Allgemeinheit des öffentlichen Raums. In dieser Zwischensphäre macht er bürgerschaftliches Engagement aus, dort entfalte sich Gemeinsinn, der in zunehmendem Maße wieder benötigt, subjektiv erlebt und handelnd verwirklicht werde. Geht man von einem dramatisch wachsenden Hilfebedarf aus, scheint die Wiedergeburt der Bürgerhilfe geradezu unverzichtbar zu sein. Vergleichbar der Care-Bewegung im angelsächsischen Raum, postulieren die Protagonisten sozialer Inklusion auch in unserem Kulturraum einen weit über einen bloßen Reparaturmechanismus hinausweisenden Entwurf gesellschaftlicher Transformation hin zu Integration und Gemeinschaft.


Folie mit Vortragstitel - Foto: 2017 by Schattenblick

Foto: 2017 by Schattenblick

Alternative Ansätze in Einrichtungen und Gemeinwesen

Am 23. September fand an der Katholischen Hochschule (KatHO) Nordrhein-Westfalen in Münster die Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" statt, zu der das Institut für Palliative Care und OrganisationsEthik IFF in Wien, die Hospiz-Stiftung OMEGA Bocholt e.V. und das Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien BioSkop e.V. eingeladen hatten. Ein zentraler Programmpunkt war der Frage gewidmet, welche Alternativen heute in den Einrichtungen und im Gemeinwesen möglich und machbar sind, um das Leben im Alter und bei hohem Unterstützungsbedarf für alle Beteiligten gut zu gestalten und zu begleiten.

In diesem Zusammenhang ging Andreas Heller, Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der IFF der Universität Klagenfurt in Wien, der in der Tradition Dörners steht, in den drei Abschnitten seines Vortrags zunächst auf den Begriff der Sorge im Kontrast zu Versorgung ein. Er entwarf dann einen Ansatz der Resozialisierung des sterbenden Menschen in die Gesellschaft und schloß seine Ausführungen mit der erzählenden Kultur der Sorge und deren gemeinschaftsstiftender Wirkmächtigkeit.


Im Vortrag - Foto: © 2017 by Schattenblick

Andreas Heller
Foto: © 2017 by Schattenblick

Sorge - Mantel und Schild in existenzieller Bedrängnis

In der Auseinandersetzung mit Planungsprozessen am Lebensende in Gestalt des Advance Care Planning (ACP) stößt man auf Verfügungsphantasien, so Heller. Das industriell durchorganisierte Gesundheitssystem wird von einer großen Bereitschaft der Ärzteschaft mitgetragen, die Logiken institutioneller professionalisierter Versorgung durchzusetzen. Die Suggestion, wir könnten das Leben und Sterben bis zum letzten Atemzug kontrollieren, sei der imperiale Gestus der Herrscher. Wir sollten uns gegenseitig anfeuern, uns solchen Kontrollphantasien zu entziehen. Denn jeder Mensch ist anders, wir leben nicht nach Schema, wir sterben nicht nach Schema, wir müssen die individuelle Situation und die individuellen Schicksale von Menschen sehen. Folglich kann die Figur der Sorge keine asymmetrische, sondern stets nur eine symmetrische auf Augenhöhe sein. Während "Versorgung" für ein ökonomisiertes und durchrationalisiertes System steht, kommt im Begriff "Sorge" etwas anderes zum Ausdruck, das in der jüdisch-christlichen abendländischen Geschichte wurzelt.

Der barmherzige Samariter in Lukas 10 ist ein Mann, von dem es heißt, er wird von Mitleid ergriffen. Psychosomatisch übersetzt schlägt mir das Elend dieses Menschen auf den Magen, es geht mir an die Nieren, läßt mich nicht kalt. Es ist der unmittelbare Gestus der Mitleidenschaft, daß mir das Schicksal eines fremden Menschen nicht gleichgültig ist und ich den selbstverständlichen Gestus der Sorge praktiziere. Das ist das Herz unserer gesamten abendländischen Caritas und ihrer Diakoniegeschichte, so der Referent. Im zentralen Bild des Mantels (pallium), den der Heilige Martin teilt, kommt palliativmedizinisch gesehen der lindernde Schutz für die Betroffenen zum Ausdruck. In der Etymologie des Wortes "palliativ" steckt aber auch die indogermanische Wurzel "pelt", das ist der Schild, mit dem sich der Krieger verteidigt. Auf mittelalterlichen Bildern, in denen Gottvater die sündige Menschheit mit Pfeil und Bogen bestraft, schirmt die Madonna mit ihrem Mantel den Angriff ab. Zum Aspekt der Linderung gesellt sich im Palliativen also auch die konfrontative Abwehr schädigender Entwicklungen. Die häufig gestellte Frage, warum der wohlgekleidete Ritter Martin nicht den ganzen Mantel abgibt, führt zum in der Hospizarbeit und Palliative Care vieldiskutierten Anteil erforderlicher Selbstsorge. Die Mantelteilung verweist darauf, daß nur für andere sorgen kann, wer gut zu sich selbst ist, hebt Heller hervor.

Er teilt mit seinen Vorrednerinnen Erika Feyerabend und Karin Michel das Anliegen, sich mit dem Sterben auch wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Wenngleich diese existenzielle Lage wie auch der Umgang mit ihr natürlich alle betrifft, werden doch im Sterbeprozeß wie unter einem Vergrößerungsglas zentrale Probleme der modernen Gesellschaft besonders deutlich sichtbar. Wie es um den Menschen wie auch die Versorgungs- und Sorgebereiche steht, ist kein randläufiges Thema. Die Patientenverfügungs- und Vorsorgedebatten sind so zentral, weil sich daran exemplarisch der Charakter der Gesellschaft klar herausarbeiten läßt. Das wiederum führt unmittelbar zu der Frage, was an deren Charakter inakzeptabel ist und demzufolge verändert werden muß.


Andreas Heller beim Vortrag mit Folie 'Obwohl wir länger leben, ist unser Leben um eine Ewigkeit kürzer geworden' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Demokratisierung der Sorge, Demokratisierung der Gesellschaft?

Wir leben länger und wir sterben länger, das ist Alltagsweisheit und unter Gerontologen unbestritten, fährt Heller fort. Die Generation der Babyboomer stellt die Gesellschaft vor Herausforderungen, auf die sie mit ihren Institutionen nicht vorbereitet ist. Besser gebildet als ihre Eltern und Großeltern, auf weiblicher Seite emanzipatorisch im Aufbruch, mit dem Anspruch auf Mobilität, Flexibilität und Autonomie, kollidiert sie mit durch und durch patriarchal und hierarchisch formierten Organisationen. Welcher Arzt sitzt am Bett und versucht zu verstehen, wovor ich Angst habe, was ich will und was ich nicht will? Untersuchungen zufolge werden Hausärzte geliebt, wenn sie es schaffen, 40 Sekunden zuzuhören. Die meisten Ärzte schaffen das nicht und legen nach durchschnittlich 28 Sekunden los, worauf die Patientinnen klagen, ihr Arzt verstehe sie nicht. Daß sich die Sterbeprozesse zerdehnen, bekommt die Altenhilfe besonders zu spüren. Die Menschen kommen immer kranker, multimorbider, dementiell veränderter, oft sterbend aus den Kliniken. Wir sterben heute in der Regel nicht plötzlich und unerwartet, obwohl das der Lieblingstod der Deutschen ist. Wir sterben eher langsam und vorhersehbar, und das ist sehr wichtig für die Prozesse der Begleitung und Kommunikation am Lebensende.

Obwohl wir länger leben, ist unser Leben um eine Ewigkeit kürzer geworden, so der Referent. Für unsere Vorfahren war es selbstverständlich, die paar Jahrzehnte irdischen Jammertals irgendwie durchzustehen mit dem Blick auf den Himmel, der das eigentliche Leben nach dem Tod verspricht. Heute halten es alle mit Udo Lindenberg: Das kann doch nicht alles gewesen sein, da muß doch noch Leben ins Leben rein. Wenn dann noch der Himmel kommt, um so besser, aber vorher will man doch was vom Leben haben. Der Glauben an ein Weiterleben im Sinne der christlichen Auferstehungshoffnung oder der Reinkarnationslehre verdunstet, wir leben hier und jetzt. Was das für Patientenverfügungen bedeutet, ist mittlerweile klar. Wie Thomas Macho schreibt [3], ist Suizid zu einer Handwerklichkeit der Selbstgestaltung des Lebensendes geworden. Er hat jede moralische Konnotation verloren. Wenn das Leben nicht mehr paßt, möchte man es suizidal oder suizidal assistiert beenden. Das hat keine Anrüchigkeit mehr und bringt eine völlig andere kulturelle und ethische Bewertung des Suizids mit sich, der gesellschaftsgängiger wird. Mitglieder von Exit in der Schweiz haben Klage eingereicht, weil es demütigend sei, wenn sie sich ihre Suizidpräparate nach einem Gespräch mit dem Arzt verschreiben lassen müssen. Sie fordern einen unmittelbaren Zugang, ähnlich wie man Zigaretten im Automaten bekommt. Das ist zwar noch nicht ganz mehrheitsfähig, zeichnet sich aber als eine Linie des kultur- und gesellschaftsfähigen Abgangs ab.

Der Bundesgerichtshof hat durch alle einschlägigen Urteile bestätigt, daß jeder selbst für sein Leben und Sterben verantwortlich ist. Nimm dein Leben und Sterben in die Hand! Füll eine Patientenverfügung aus, dann kann dir eigentlich nichts passieren. Wir leben in einer Gesellschaft, welche die Delegation der Verantwortung in hohem Maße an die Subjekte weitergibt. Die Menschen sind jedoch überfordert, wenn sie entscheiden sollen, was sie künftig können und wollen. Sie brauchen gerade in krisenhaften Momenten ihres Lebens die Unterstützung und das Wohlwollen von Menschen, die es gut mit ihnen meinen. Sie dürfen nicht zurückgewiesen werden in die Einsamkeit ihrer Selbstreflexion nach dem Motto, "füll das mal aus, morgen hole ich es ab". Es braucht Prozesse und Kommunikation, die nicht punktuell unter vier Augen stattfindet, sondern auf Grundlage unterschiedlicher Perspektiven ein Bild entwirft, wer ich unter den veränderten Bedingungen bin und wie ich dieses Bild in meine Selbstinterpretation aufnehme. Das braucht Zeit und Geduld, vor allem aber Menschen, die sorgend an mir, und das heißt um meiner selbst willen interessiert sind, so Heller. Er teile die Skepsis Erika Feyerabends, daß das kaum Menschen sein können, die krankenkassenfinanziert ein bestimmtes Kontingent von Gesprächsbegleitung absolvieren, um ihr eigenes kleines Unternehmertum am Laufen zu halten. Caritas und Diakonie seien auf radikale Weise daran zu erinnern, daß die Vollfinanzierung von Dienstleistung noch nie ein guter Weg war, um die Humanität in diesem Versorgungssystem zu sichern.

Im Hospiz- und Palliativgesetz ist zwar die finanzielle Beteiligung der stationären Hospize von 10 Prozent im Gesetzesentwurf auf einen Sockel von 5 Prozent reduziert worden, der dennoch einen nach Auffassung des Referenten großartigen Gedanken strukturell verankert: Dies macht symbolisch deutlich, daß die Sorge am Lebensende auch von den Angehörigen, Nachbarn, Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen werden soll. Seitdem die Medizinethiker die ethischen Diskurse dominieren, hat die Autonomisierung der Gesellschaft einen Absolutheitsanspruch entwickelt, der der menschlichen Erfahrung und auch der klassischen Anthropologie widerspricht. Die Sorgeethik geht davon aus, daß wir als Menschen radikal auf andere angewiesen und verwiesen sind. Daß wir ohne Bezug zu anderen nicht leben könnten. Wer wir sind, lernen wir in Beziehung mit anderen, nicht durch unsere eigene Selbstreflexion. Der Gedanke, daß wir als Menschen soziale Lebewesen sind und Sterben ein sozialer Prozeß ist, daß es um die Resozialisierung der Sterbenden in die Gesellschaft geht, ist in dieser Autonomieidee völlig unterdrückt. Dabei hat der Mensch gerade in den existenziellen Lebenskrisen ein Recht darauf, nicht wissend zu sein, unsicher zu sein, Angst zu haben, ohne Hoffnung zu sein, was auch der Normalfall ist.

In der Sorgeethikdebatte ist dieser Gedanke in der Figur der relationalen Autonomie präsent, unterstreicht Heller. Es gehöre zu den Unverfrorenheiten von Herrn Marckmann und Herrn In der Schmitten, den führenden Protagonisten von ACP in der Bundesrepublik, daß sie diese Begriffe in einem Satz abhandeln, ohne sie konzeptionell einzulagern. Sie erwähnen relationale Autonomie, weil sie wissen, daß sich der Diskurs gewandelt hat. Doch ihr Konzept selbst habe den Charakter von Asozialität und nicht von Sozialität. Nach den Worten des südkoreanischen Philosophen Byung-Chul Han verwandelt sich Leben und Sterben in ein individualisiertes, autonom gesteuertes Gestaltungsprojekt, das zum Projektil wird: Es erschießt diejenigen, die sich der Phantasie hingeben, man könne das Sterben per Managementzugang gestalten, sofern man nur bestimmte Qualitätsstandards einhält. [4]

Die moderne Palliativmedizin hat die Gestaltungsmöglichkeit des Sterbens insofern zum Wohle der Patienten erweitert, als Schmerztherapeutik in der Regel zu einem festen Bestandteil ihrer Vorgehensweise geworden ist. Andererseits bleibt der erklärte Wunsch der Deutschen, von denen nur 2 Prozent im Krankenhaus sterben wollen, weithin unberücksichtigt. Obgleich seit Jahrzehnten alle Umfragen belegen, daß die Menschen zu Hause sterben wollen, läßt das Gesundheitssystem dies nicht zu. Lobbyismus der Pharamindustrie und der Ärzteschaft sorgen für den Fortbestand eines krankenhauslastigen Systems und bauen sich immer neue Ausdifferenzierungen auf. Erforderlich sei eine klare politische Entscheidung für einen Umbau zugunsten der ambulanten Versorgung.

Die Hospizbewegung entwickelt mit der Sozialität des Sterbens ein anderes Konzept. Bei der Resozialisierung der Sterbenden, um mit Klaus Dörner zu sprechen [5], wie im Kontext der modernen Care-Ethik-Debatte geht es um die Demokratisierung der Sorge. Wir sind als Menschen sorgefähig, ja sogar biologisch zur Mitleidfähigkeit disponiert. Wir haben als entwickelte Säugetiere die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen und entsprechend zu handeln. Wir können eigentlich gar nicht anders, es sei denn, wir sind durch bestimmte Konstellationen deformiert, so der Referent. Das sei ein Konstitutiv unserer Existenz, wir haben die selbstverständliche Pflicht, jemandem zu helfen, der in Not ist. Sorge hält die Gesellschaft zusammen, da sie von den Betroffenen her denkt und fühlt. Dieser Beginn der Demokratisierung liegt unterhalb der Professionalisierung mit ihren speziellen Diensten und Funktionen. Die Sorge ist der basale Zusammenhang, und das ist auch die Idee im Hospizlichen, daß die Gastfreundschaft unkündbar, unteilbar ist, allen Menschen unabhängig von sonstigen Verhältnissen und Präferenzen gilt. Im Hospiz kommt die Demokratisierung der Gesellschaft zu sich selbst, wie es Heller ausdrückt. Diese Leitidee könnte tendenziell die gesamte Gesellschaft durchdringen und lebt insbesondere von dem Gedanken, daß der Hospizgast ein Fremder ist. Fremdenfeindlichkeit läßt sich demzufolge mit dem Hospizgedanken nicht vereinbaren. Hilfe, die aus der Selbstverständlichkeit der Sorge erbracht wird, denkt von den Bedürfnissen der Betroffenen her und funktioniert nur in Zusammenspiel und Kooperation, unterstreicht der Referent.


Im Vortrag mit Folie des Buchtitels 'Narrative Medicine' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Eine Kultur des Zuhörens und Erzählens

Wie könnte man sein unmittelbares Umfeld und Kreis um Kreis darüber hinaus impulsieren, die Haltung der Sorge zu entwickeln? Sich dem anderen in einer Weise zuzuwenden, daß er sich in seiner Brüchigkeit, in den Schmerzen seines Lebens mitteilen kann? Wir sind aufgefordert, die Sprache des anderen, sei sie verbal oder körperlich, zu dechiffrieren oder miteinander zu lernen. Alle Menschen können erzählen, alle Körper sprechen, doch braucht es eine Haltung des Hörens, um diese Sprache zu verstehen. In diesem Hören existiere ich nicht allein, sondern erweitere mich um ein Du und ein nächstes Du. Wenn erzählt wird, ist in dieser Figur unterstellt, daß es jemanden gibt, der zuhört, sonst macht das Erzählen keinen Sinn. Die Erzählung geht nur weiter, wenn jemand anderes sich interessiert, Anteil nimmt, wenn er mir sein Ohr leiht. Im Zuhören erzähle ich mich selbst, komme ich selbst zur Sprache, kann ich mich selbst auch finden als der- oder diejenige, die ich bin. Deshalb sind diese Figuren des Erzählens und Zuhörens auch komplementär zu lesen. Insofern fängt praktisch jede Sorge mit dem Zuhören an, wie der Referent erläutert.

Byung-Chul Han sagt in seinem Buch "Die Austreibung der anderen" [6], die Zukunft dieser Gesellschaft liegt im Modus des Zuhörens. Und das Zuhören ist eine Haltung, in der ich mich mit dem Leiden und dem Leben des anderen verbinde. Indem ich verstehe und zu ahnen beginne, wer der andere ist, löse sich die Singularisierung und Individualisierung der Gesellschaft auf. Deshalb ist das Zuhören, so Han, eine politische Praxis. Zuhören mag zwar etwas Intimes sein, aber in dem Maße, wie ich den anderen durch mein Zuhören aus der Schicksalhaftigkeit seiner Situation befreie, solidarisiere ich mich mit ihm. Han zitiert aus "Momo" von Michael Ende, wo es heißt: "Momo konnte so gut zuhören, daß dummen Menschen gescheite Gedanken kamen." Sie konnte so gut zuhören, daß Menschen, die klein und verkrochen zu ihr kamen, aufrecht und mit erhobenem Haupt weggingen. Das Zuhören war die Haltung, in der sich Menschen verändern konnten, weil sie ethisch gesprochen akzeptiert waren, so wie sie sind, um ihrer selbst willen.

Wie Heller mit Blick auf die praktische Umsetzung dieses Ansatzes ausführt, sei man dabei, diese Idee mit Menschen guten Willens in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in Südtirol anzuwenden. So habe die Hospizhilfe in Bad Bentheim um Unterstützung für Angehörige angefragt. Diese müssen rund um die Uhr zu Hause präsent sein, sie sind zunehmend isoliert, ihre sozialen Beziehungen brechen ab, sie sind einsam. Wenngleich diese Situation nicht grundsätzlich verändert werden könne, sei es doch möglich, sie aus dieser Isolation zu lösen und ihnen zu zeigen, daß es andere Angehörige in ihrer Umgebung gibt, denen es ähnlich ergeht. Die Erfahrung, daß mir zugehört wird, daß ich verstanden werde, daß andere da sind, die mir helfen zu erzählen, wie es mir geht, bringe eine andere Perspektive auf das Leben.

Alle Angehörigen thematisierten, daß sie sich schuldig fühlen, weil sie nicht wissen, ob ihre Handlungsweise angemessen ist. Wie kann ich mit diesem Gefühl des existenziellen Schuldigseins umgehen? Erfahren wir, daß wir nicht allein vor diesem Problem stehen, weil es jeder mehr oder minder hat, können wir uns, um mit einem Buchtitel von Klaus Dörner zu sprechen [7], als Angehörige freisprechen von Schuld. Es ist die Voraussetzung der Sorge, daß wir uns nicht schuldig fühlen, weil wir ohnehin das tun, was uns möglich ist. Es ist besser, mit anderen zusammenzusein, auch wenn es schwierig ist, als allein zu bleiben. Inzwischen hat die niedersächsische Gesundheitsförderung das Projekt aufgelegt, in allen Pflegeheimen solche Treffen für Angehörige zu ermöglichen. Sie sollen bei der Erstaufnahme nicht mit ACP konfrontiert werden, sondern die Möglichkeit erhalten, ihre Sorgen mit anderen zu teilen. Bei diesen Gesprächen, die von Ehrenamtlichen geleitet werden, geht es nicht so sehr um Lösungen, Planungen und Management. Wir können manchmal die Situation besser tragen, wenn wir die Langsamkeit des Verstehens verstehen. Andere bringen uns in andere Bezogenheiten, wir verstehen miteinander, in welcher Situation wir sind. Es geht darum, sich selbst in der Beziehung zu anderen existenziell tiefer zu verstehen und darüber eine andere Haltung, ein anderes Verhältnis zu gewinnen. Es geht darum, dies zu stabilisieren und in eine soziale Realität zu übersetzen und darin Entwicklungsmöglichkeiten zu sehen, schildert Heller die Vorgehensweise.

Ermutigende Schritte in diesem Sinne sind inzwischen in einer ganzen Reihe von Ländern wie England zu verfolgen, wo man begonnen hat zu fragen, wie Gemeinden, Städte und Regionen zu Orten werden können, in denen Menschen nicht verlorengehen, wo Menschen aufgehoben sind. Wie kann Mitleidenschaftlichkeit zu einem Schlüsselkriterium der Lebensqualität in einer Stadt werden? Auch in den Caring Communities geht es unter anderem darum, Sterbende in die Mitte der Gesellschaft zurückzuholen und um sie herum eine Kultur der Mitsorge zu bauen. Natürlich ist auch wichtig zu wissen, welche professionellen Dienstleister vor Ort sind, aber die Basis ist die Transformation einer Gesellschaft, die erkennt, daß die Sorge eine Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger ist, so Heller. Der verstorbene Soziologe Zygmund Bauman habe vermächtnishaft formuliert: "Wenn es in einer Welt der Individuen eine Gemeinschaft geben soll, kann es nur eine Gemeinschaft sein, die auf gegenseitiger Fürsorge beruht. Eine Gemeinschaft, die Verantwortung übernimmt und sich aktiv darum kümmert, daß alle nicht nur die gleichen Rechte haben, sondern auch in gleichem Maße in der Lage sind, diese Rechte in Taten umzusetzen." [8]


Referent mit Grafik 'Wir leben länger, wir sterben länger' - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick

Anfangsverdacht in allen Lebens- und Sterbenslagen

Unter Würdigung des ungebrochen optimistischen Tatendrangs Klaus Dörners und all jener Menschen, die sich wie Andreas Heller ihrerseits die Ermächtigung der Bürgerinnen und Bürger auf die Fahnen geschrieben haben, gilt es nun, in uneingeschränkter Unterstützung des Aufbegehrens gegen die Kontrollgesellschaft wiederum auch die von ihnen gezogenen Schlußfolgerungen kritisch zu prüfen und fragend weiterzudenken. Wie der Blick in die Geschichte lehrt, ist dieses Gesellschaftssystem außerordentlich versiert in der Kunst, sowohl seine Zwangsmittel zu vervollkommnen als auch emanzipatorische Ansätze einzubinden, so daß sie die Einfallstore gesellschaftsverändernder Offensiven um so nachhaltiger versiegeln. Auch eine Kultur gegenseitiger Fürsorge und Mitsorge in Bürgerhand ist nicht vor Okkupation und der Indienstnahme gefeit, der Akzeptanz einer Existenz in dieser Gesellschaft die Akzeptanz eines begleitet gebahnten Scheidens aus derselben hinzuzufügen. Zumindest kann es nicht schaden, sich den Anfangsverdacht in allen Lebens- und Sterbenslagen, hier sei etwas ganz und gar nicht akzeptabel, niemals nehmen zu lassen.


Obstgesteck im Vortragssaal - Foto: © 2017 by Schattenblick

Foto: © 2017 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Andreas Heller hat Theologie, Philosophie, Soziologie, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sowie Gesundheits- und Pflegewissenschaften studiert und wurde 2007 als Professor auf den europaweit ersten Lehrstuhl Palliative Care und OrganisationsEthik der Alpen Adria Universität Klagenfurt/Wien/Graz berufen. Er gibt die Zeitschrift Palliative Praxis heraus, ist Beiratsmitglied der Robert Bosch Stiftung zum Schwerpunkt Hospiz und Palliative Care, wissenschaftlicher Beirat des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes, gehört dem Stiftungsrat des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbandes e.V. (DHPV) an und ist u.a. als Berater in Führungsgremien der Caritas und der Diakonie in Deutschland und Österreich sowie verschiedener Krankenhausgesellschaften tätig.

[2] Schattenblick-Interview mit Klaus Dörner:
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/ppri0005.html
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/ppri0006.html
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/ppri0007.html

[3] Prof. Dr. Thomas Macho: Das Leben nehmen - Suizid in der Moderne. Suhrkamp, Berlin 2017, ISBN 978-3518425985

[4] Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2010, ISBN 978-3-88221-616-5

[5] Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Paranus, Neumünster 2007, ISBN 978-3-926200-91-4.

[6] Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, ISBN 978-3-10-397212-2

[7] Klaus Dörner: Freispruch der Familie. Wie Angehörige psychiatrischer Patienten sich in Gruppen von Not und Einsamkeit, von Schuld und Last frei-sprechen, Psychiatrie-Verlag, Wunstorf 1982; Neuausgabe 1995, Reprint Köln 2014, ISBN 978-3-86739-141-2

[8] Zygmunt Bauman: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohten Welt, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-51812565-6


Berichte und Interviews zur Tagung "Zwischen Planungssicherheit und Sorgegesprächen" im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZ → REPORT

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17. November 2017


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