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BERICHT/018: Berufsstand und Beteiligung - Finale Aufgaben und Funktionen (2) (SB)


Wo "Lebenswert" postuliert wird, drohen Ausschluß und Tod

Zur Podiumsdiskussion am 7. Februar 2014 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf



Der Begriff des "Lebenswertes" wird in den bioethischen Debatten der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der eugenischen Begründung der NS-"Euthanasie" eher gemieden. Das ändert allerdings nichts daran, daß die Ökonomisierung des Lebens im Rahmen der sogenannten Gesundheitswirtschaft Fortschritte macht bis hin zur Priorisierung angeblich knapper medizinischer Ressourcen oder des "sozialverträglichen Frühablebens". Was der damalige Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar 1998 auf sicherlich ironisch konnotierte, aber durchaus prognosesichere Weise dazu sagte, welche Lösungen für die aus der medizinischen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen entstehenden Kosten erwogen werden könnten, hat trotz der breiten Kritik, die diese Äußerung provozierte, nichts von seiner Aktualität eingebüßt.

Den betriebswirtschaftlichen Wert des Menschen im neoliberalen Kapitalismus zu bilanzieren ist keine Besonderheit des Gesundheitswesens, sondern wird vor allem in den Kosten-Nutzen-Rechnungen der Arbeitsgesellschaft virulent. In der permanenten Krise des Verhältnisses zwischen einer Arbeitsproduktivität, die den Menschen immer weniger Geld zur Erfüllung ihrer Lebenserfordernisse läßt, und einer Kapitalakkumulation, die in wachsendem Ausmaß auf dem Finanzmarkt, im Immobiliengeschäft und im Rechtehandel stattfindet, geraten die zur Daseinsvor- und fürsorge verfügbar gemachten Mittel unter starken Rechtfertigungszwang. In Gesellschaften, die im System sich gegenseitig aufhebender Defizitkreisläufe, in denen die für Importe aufgenommenen Schulden des einen Staates die Exportinvestitionen des anderen darstellen, auf der Verliererseite stehen, erzeugt der Mangel an essentiellen Lebensmitteln wie Nahrung, Wohnen und medizinische Versorgung längst ein durch materielle Not induziertes Frühableben. Wird in der Bundesrepublik noch mit leichter Hand über die Tatsache hinweggegangen, daß der Unterschied in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen dem ärmsten und dem wohlhabendsten Fünftel der Gesellschaft rund zehn Jahre beträgt, so sterben in den europäischen Peripheriestaaten Menschen, weil sie in einem Notfall nicht medizinisch versorgt werden, die zur Behandlung ihrer chronischen Erkrankung erforderliche Medikation nicht bezahlen können, weil ihre Wohnung nach Stromabschaltung durch improvisierte Beheizung in Flammen aufgeht oder weil sie schlicht nichts zu essen haben.

Wirft man, wie auf dem Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Rahmen einer öffentlichen Abendveranstaltung [1] geschehen, die Frage danach auf, welchen Stellenwert "Die 'Euthanasie'-Morde in aktuellen medizinisch-ethischen Diskussionen" haben, dann ist man sich über die moralische Verwerflichkeit der eugenischen Selektion im NS-Staat zweifellos einig. Daß der gesellschaftliche Konsens, Menschen nicht aufgrund von Problemen, für die sie nichts können, einer Situation lebensbedrohlichen Mangels auszusetzen, heute noch allgemeine Akzeptanz findet, ist in Anbetracht alltäglicher Grausamkeiten wie des tausendfachen Flüchtlingstodes im Mittelmeer oder der sozialen Verelendung Langzeiterwerbsloser keinesfalls gewährleistet. Das Fallbeil der individuellen Produktivitätsevaluation hängt über jedem, der dem sozialadministrativen Primat des "Förderns und Forderns" nicht gewachsen ist und damit Freiwild für die von Thilo Sarrazin salonfähig gemachte Stigmatisierung "unproduktiver" Menschen wird.

Am Boden liegende ausgehungerte Gestalt mit verqueren Gliedmaßen - Foto: © 2014 by Schattenblick

Skulptur "Der Deportierte" von Françoise Salmon in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Foto: © 2014 by Schattenblick


Repressive Arbeitsmoral in der neofeudalen Eigentümergesellschaft

"Arbeit macht frei" verhieß die Toraufschrift einiger KZs, in denen Menschen durch die rücksichtslose Ausbeutung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit vernichtet wurden. So zynisch die Parole in diesem Zusammenhang gemeint war, so sehr rührt sie an das Grundverständnis faschistischer Vergesellschaftung, die ökonomische wie kriegerische Leistungsfähigkeit des eigenen Volkes auf die Spitze staatskapitalistischer Effizienz zu treiben, um in einem sozialdarwinistisch modellierten Wettkampf mit anderen Nationen obsiegen zu können. Unter anderem im KZ Neuengamme wurden den dorthin verschleppten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in den Worten des Reichsführers-SS Heinrich Himmler auf einer gut sichtbaren Tafel die Kriterien ihrer Bewährung durch Arbeit mitgeteilt: "Es gibt einen Weg zur Freiheit. Seine Meilensteine heißen: Gehorsam, Fleiß, Ehrlichkeit, Ordnung, Sauberkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit, Opfersinn und Liebe zum Vaterland!" So erschöpft sich die Vernichtung "nackten Lebens" - so der Begriff, auf den Giorgio Agamben die Ohnmacht des dem Herrschaftsparadigma des Lagers oder der Anstalt unterworfenen Menschen brachte - nicht in ihrer sozialökonomischen Fundierung, sondern legitimiert sich auch über die Aberkennung moralischer Zugehörigkeit. Sie wird jedoch zu einem wesentlichen Teil von krudem Nutzendenken bestimmt, wie auch Phasen zeigen, in denen die eliminatorische Logik der KZs dem kriegswirtschaftlichen Bedarf an Arbeitskräften nachgeordnet wurde.

Der spätkapitalistischen Verwertung der Ware Arbeitskraft kann zwar keine absichtsvolle oder gar systematische Vernichtungslogik angelastet werden, doch sterben auch heute noch viele Menschen vorzeitig durch Krankheit und Unfälle, weil die Bedingungen der Lohnarbeit auf maximale Mehrwertabschöpfung getrimmt sind. Als verobjektivierte Humanressource steht diese Ware unter strikter Kostenevaluation. So wird ihre Reproduktion stets ins Verhältnis zu einem Verbrauch gesetzt, dessen zerstörerischer Konsequenz der lohnarbeitende Mensch desto weniger gewachsen ist, als seine Ersetzbarkeit aus dem Pool der Reservearmee der Erwerbslosen problemlos zu leisten ist. Da die arbeitsrechtliche Einschränkung des Zugriffs auf die Arbeitskraft ein Standortfaktor bei Investitionsentscheidungen ist, ist sie in den Ländern der globalen Peripherie besonders schwach ausgeprägt. Die Ausbeutung von Menschen in den Sweat-Shops und Manufakturen Mexikos oder Bangla Deshs oder an den Fertigungsstraßen der Megafabriken Chinas im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung sorgt dafür, daß die Kosten der Reproduktion der Arbeitskraft in weltwirtschaftlichen Zentren wie der Bundesrepublik niedrig genug sind, um deren industriell hochentwickelte Exportwirtschaft trotz strikterer Arbeitsrechte auch in Ländern mit sehr niedrigen Arbeitskosten konkurrenzfähig zu machen.

Was als globales Gefälle bei der Bewertung des Lebens bis zu den stummen und gesichtslosen Opfern der Ausbeutung durch Arbeit in der äußersten Peripherie des kapitalistischen Weltsystems die zeitgemäße Form kolonialistischer Verächtlichkeit darstellt, wird in seinen Zentren ohne ernstzunehmenden Anspruch, dieses Raubverhältnis aufzuheben, gerne in Anspruch genommen. Dennoch stellt die Individuation des Menschen in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft der rassistischen Konzeption des Volkes als eines Organismus, dem anzugehören spezifische Merkmale physiognomischer und erbbiologischer Art voraussetzte, während davon abweichende oder vermeintlich kranke, das größere Ganze belastende Teile aus ihm entfernt werden mußten, gegenüber zweifellos einen Fortschritt dar. Sie ermöglicht allerdings auch die Atomisierung der Gesellschaft in miteinander konkurrierende Marktsubjekte, die, so sie sich nicht positiv in die Erwirtschaftung des gesamtgesellschaftlichen Produkts einbringen können, ihr Scheitern in dementsprechend ohnmächtiger Isolation erleiden.

Dem ungebrochenen Primat der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft gemäß wird der Mensch immer noch daran bemessen, ob er mit Arbeit zum gesamtgesellschaftlichen Erfolg beiträgt oder nicht. Völlig unabhängig davon, ob angesichts der hohen Produktivität industrieller Gütererzeugung überhaupt genügend bezahlbare Arbeit angeboten wird, muß er sich nach der Decke einer Gesellschaft strecken, die ihn nur dann wärmt, wenn er über bare Zahlung verfügt. Obwohl ihm jede Möglichkeit zur Subsistenz entzogen wurde, geht die moralische Pflicht, auf irgendeine Weise Lohnarbeit zu verrichten, über alles. Noch wird die Verpflichtung der Gesellschaft, die nicht mehr in Arbeit zu bringenden Teile der Bevölkerung materiell mit dem Nötigsten zu versorgen, anerkannt. In den Genuß von Sozialtransfers zu kommen, setzt dennoch voraus, sich einer rigiden Form der Sozialkontrolle zu unterwerfen und sich darüber hinaus als Nutznießer der Arbeit anderer diffamieren zu lassen.


Wertentscheidungen im Kontext sozialer Legitimations- und Bezichtigungsverhältnisse

Unter dem Druck einer Austeritätspolitik, die das Überleben in direkter Konkurrenz zum anderen Marktsubjekt zur Triebkraft gesamtgesellschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit erklärt, propagieren rechtspopulistische und neofaschistische Akteure immer unverhohlener sozialdarwinistische Krisenlösungen. Diese fallen zusehends auch im saturierten Bürgertum, dem 2010 in der Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) eine "rohe Bürgerlichkeit" mit wachsender Affinität zu rassistischen und sozialchauvinistischen Einstellungen attestiert wurde, auf fruchtbaren Boden. Dies gilt keineswegs nur für die Bundesrepublik, wie ein im August 2012 in der Onlineausgabe der britischen Tageszeitung Daily Mail veröffentlichter Artikel unter der Überschrift "Warum unsere neuen Legionen arbeitsloser Schulabgänger ihre Ansprüche korrigieren müssen", belegt. In dem nach Protesten wieder gelöschten Beitrag [2] wurde die These vertreten, daß

"der deutschen Slogan 'Arbeit macht frei' durch seine Verbindung zu den Konzentrationslagern der Nazis irgendwie korrumpiert ist, aber seine zentrale Botschaft 'Arbeit macht dich frei' immer noch etwas ernstzunehmendes hat, das zu empfehlen ist. Junge Leute können durch jeden Job, so niedrig er auch ist, Würde erlangen. Am Anfang ihrer Karriere können sie bei jeder Anstellung wertvolle Lektionen erlernen, sei es in der Fabrikhalle, an der Kasse eines Supermarkts oder in dem zeitgemäßen harten Arbeitslager einer Geschäftsbank oder eines Anwaltsbüros."

Das Ausüben niedrig entlohnter und anspruchsloser Tätigkeiten betrifft jedoch nicht nur den Beginn einer Berufskarriere, sondern bleibt für Millionen Menschen ein Leben lang alltägliche Realität. Desto mehr Bedeutung kommt den Bedingungen zu, die einen sozialen Aufstieg dennoch möglich machen respektive verhindern. So findet die biomedizinische Steigerungslogik des Enhancement wachsenden Zuspruch in Form schönheitschirurgischer Manipulationen, pharmakologischer Leistungssteigerung oder des Versuchs, über den Zugriff auf die Keimbahn den Nachwuchs nicht nur vorgeburtlich zu selektieren, sondern das menschliche Erbgut mit humangenetischen Mitteln zu optimieren. Wie in der Diskussion in der "Alten Küche" der Evangelischen Stiftung Alsterdorf deutlich wurde, stellen reproduktionsmedizinische Verfahren wie Pränataldiagnostik (PND) oder Präimplantationsdiagnostik (PID) einen direkten Angriff auf das Lebensrecht Behinderter dar. Schwangere Frauen stimmen der Anwendung dieser Techniken nicht zuletzt aufgrund der Angst zu, bei Geburt eines von der erwünschten Norm körperlicher oder geistiger Leistungsfähigkeit abweichenden Kindes mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, dies trotz Verfügbarkeit medizinischer Möglichkeiten nicht verhindert zu haben.

So finden auf einen abstrakten "Lebenswert" bezogene Entscheidungen zu Beginn des Lebens wie zu seinem Ende fast immer im Kontext sozialer Legitimations- und Bezichtigungsverhältnisse statt, die die unterstellte Freiheit der Selbstbestimmung und des informed consent stark relativieren. Sobald die Frage des Nutzens, also der Tauglichkeit des Menschen für die Existenz in der warenproduzierenden Gesellschaft, im Raum steht, geht es nicht mehr nur um sein individuelles Wohl. Allein der Blick auf den möglichen Ertrag seines Lebens, im bioethischen Jargon auch "benefit" genannt, impliziert Wertmaßstäbe, anhand derer Rechnungen aufgemacht werden, die sich keineswegs auf Lebensglück und -sinn beschränken. Wo diese Normen an die Vergesellschaftung durch Tauschwert und Eigentumsrecht geknüpft werden, steht der werdende wie sterbende Mensch im Visier ihm wesentlich fremder Nutzungsansprüche.

Von daher gibt die in der Podiumsdiskussion vertretene These einer "Eugenik von unten" eine verkürzte Sicht gesellschaftlicher Machtverhältnisse wieder, bleiben die Zwänge, die davon betroffene Menschen als persönliches Defizit etwa des Aussehens oder der Leistungfähigkeit erleben, doch von der Frage nach den Gründen ihrer Entscheidung, sich medizinischer Optimierungsmöglichkeiten zu bedienen, ausgeklammert. In einer sozialhierarischen Klassengesellschaft, in der die meisten Menschen dazu gezwungen sind, Lebenszeit und -kraft unter Bedingungen zu verkaufen, die nicht die ihren sind, verhält sich der Primat der Selbstbestimmung stets relativ zum absoluten Herrschaftsanspruch ihrer Kapital- und Funktionseliten. So liegt es sicherlich nicht im Interesse der Schwächsten und Verletzlichsten, sich biologistischer Organisationsprinzipien wie denen der Eugenik und des Sozialdarwinismus zu unterwerfen, die ihre Handlungsfähigkeit tendenziell immer mehr beschneiden, anstatt sie zu erweitern.


Wer hat die Deutungsmacht über Leben und Tod?

Gerade weil bioethische Fragestellungen in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der NS-"Euthanasie" noch mit einiger Zurückhaltung hinsichtlich der vollständigen Liberalisierung biomedizinischer Innovationen diskutiert werden, sollte der Blick darauf, wie die Frage des "Lebenswerts" in davon unbelasteten Ländern reartikuliert wird, nicht unterbleiben. Da wissenschaftliche Innovationen sich dort unmittelbarer als hierzulande auf den Stand der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse auswirken, repräsentieren sie im Zweifelsfall die biopolitische Zukunft auch der Bundesrepublik. So wird die Organentnahme für Zwecke der Transplantationsmedizin in den USA und diversen europäischen Staaten bereits an Menschen vorgenommen, die nicht einmal dem in sich widersprüchlichen Kriterium des Hirntodes genügen, sondern bei denen lediglich das Versagen von Herz und Kreislauf festgestellt wurde. Sich daraus ergebende Fragen wie der fremdnützige Einsatz invasiver Verfahren zum Erhalt der Vitalfunktion der Transplantate inklusive der Möglichkeit einer nicht beabsichtigten Reanimation bereits zur Organentnahme freigegebener Patienten werden im bioethischen Diskurs auf eine Weise beantwortet, bei der die nicht ausräumbare Möglichkeit, daß der sterbende Mensch an dieser Prozedur Schaden nimmt, tendenziell zugunsten der Nutznießer der Organentnahme beantwortet wird [3].

Besonders fatal an der Entwicklung, den eng begrenzten Spenderpool sogenannter Hirntoter durch die Aufhebung der Tote-Spender-Regel zu erweitern, ist die naheliegende Möglichkeit, die Organe von Menschen zu nutzen, die die legale Möglichkeit der ärztlich vollzogenen Sterbehilfe in Anspruch nehmen. In Belgien haben sich bereits mehrere Menschen, die den ärztlich assistierten Suizid an sich vollziehen ließen, Spenderorgane entnehmen lassen. Da nicht nur Patienten im letzten Stadium einer unheilbaren todbringenden Krankheit Euthanasie in Anspruch nehmen, sondern dies in Belgien und den Niederlanden auch bei psychischen Erkrankungen möglich ist, eröffnen sich hier besonders fragwürdige Formen vermeintlicher Selbstbestimmung. Wo gerade jüngere Menschen ohne schwerwiegende körperliche Erkrankung für die Weitergabe lebenswichtiger Organe in Frage kommen, deren fragile psychische Situation Möglichkeiten einer dementsprechenden Manipulation eröffnet, könnte die von Bioethikern verlangte Legalisierung der "Organ Donation Euthanasia" [4] eine Entwicklung in Gang setzen, bei der der abstrakte "Lebenswert" im Warencharakter der Bioressource Mensch zu sich selbst kommt.

So ist man bei der Ökonomisierung des Todes im Sinne der Einsparung zum Lebensende hin anwachsender Kosten medizinischer Versorgung in den USA schon etwas weiter. Dort schlug Robert Leeson, Professor für Ökonomie an der Stanford University, in einem Gastbeitrag auf dem Online-Portal der Tageszeitung San Francisco Chronicle [5] vor, schon in jungen Jahren zu planen, was in sterbenskranker Bedrängnis kaum noch auf rationale Weise möglich sei. So könne die frühzeitige Entscheidung, mit Hilfe eines vorzeitigen Ablebens auf die besonders kostenintensive Pflege und medizinische Versorgung am Lebensende zu verzichten, mit einer Art metaphorischer Unsterblichkeit in Form der mit dem eigenen Namen verbundenen Alimentierung eines Lehrstuhls oder anderer ethisch hochwertiger Zwecke honoriert werden. Andererseits sei auch ein finanzielles Entgelt für den Verzicht auf ein Sterben, bei dem das Leben des Menschen eigentlich schon aufgehört habe, denkbar.

Finanzielle Anreize könnten eine große Hilfe bei der Entscheidungsfindung des rational agierenden Marktsubjekts sein. Zudem sollte dieser Prozeß durch politische Weichenstellungen beflügelt werden, andernfalls könne es zum Nachteil aller gereichen, daß überhaupt keine Entscheidung über Art und Weise des eigenen Ablebens getroffen werde, gab Leeson warnend zu bedenken. Mehr als ein Viertel der Mittel, die der öffentlichen Krankenversicherung Medicare zur Verfügung stehen, würden für das letzte Lebensjahr ausgegeben. Mit frühzeitig getroffenen Vorkehrungen könne verhindert werden, daß Sterbende nur deshalb noch Kosten verursachten, weil sie in ihrer Lage nicht mehr entscheidungsfähig seien.

Selbst wenn mit den Ausgaben für das letzte Lebensjahr noch meßbare Vorteile für die Betroffenen erkauft werden könnten, so müsse dies dagegen abgewogen werden, daß ein verlängertes Sterben öffentliche Mittel verschlinge und für die Angehörigen, die ihre Eltern und Verwandten schon lange vor deren Begräbnis verloren hätten, eine traumatische Erfahrung sein könnte. Natürlich könne kein Einwand dagegen erhoben werden, wenn jemand seine Versorgung am Lebensende selbst finanziere, andererseits sollte auch nicht beanstandet werden, wenn der Steuerzahler es vorziehe, lieber eine Senkung der Mortalitätsrate Neugeborener zu finanzieren, als das Geld für die Pflege am Lebensende auszugeben.

Auch wenn es sich hierbei um die Einzelmeinung eines marktradikalen Ökonomen handeln mag, so entspricht sie allemal der Logik einer den Menschen gegenüber der Gesellschaft kostenadäquaten Bilanzierung. Diese wird insbesondere dann zu einer Herausforderung für das persönliche Überleben schwerkranker Menschen, wenn ihnen die Entscheidung über die Fortsetzung einer kostenaufwendigen Therapie von vornherein aus der Hand genommen wird. So wandte sich die an Lungenkrebs erkrankte Barbara Wagener 2008 an die öffentliche Krankenversicherung des Bundesstaates Oregon, um ein von ihrem Onkologen verschriebenes Medikament finanziert zu bekommen, das das Wachstum ihres Tumors verlangsamte und damit ihr Leben verlängerte. Ihr wurde mitgeteilt, daß die Finanzierung der Therapie einer Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium nicht vorgesehen sei, man ihr aber die Bezahlung einer Palliativversorgung anbiete, die auch die Möglichkeit beinhalte, aktive Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen [6]. Nachdem der Fall publik geworden war, übernahm die Herstellerfirma des Mittels die Kosten der Medikation.


"Fit to work" - eugenische Konsequenz neoliberaler Austeritätspolitik

2012 wurde der 57jährige Brite Brian McArdle, der infolge eines Blutgerinnsels im Gehirn halbseitig gelähmt, auf einem Auge blind und sprachbehindert war, trotz vorhandener ärztlicher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Überprüfung seiner Arbeitsfähigkeit unterzogen. Das Ergebnis des Tests war positiv, so daß McArdle darüber informiert wurde, daß man ihm die Behindertenrente streichen werde. Einen Tag darauf erlitt er einen Herzanfall und verstarb. Sein 13jähriger Sohn Kieran schrieb daraufhin an das dafür zuständige Dienstleistungsunternehmen, daß diese Überprüfungen "liebenswerte Menschen wie meinen Vater umbringen".

Die britische Regierung versucht seit mehreren Jahren, im Rahmen ihrer ehrgeizigen Kürzungspläne auch und gerade dort viel Geld zu sparen, wo es besonders unentbehrlich ist. Um die Sozialleistungen der rund 2,6 Millionen Empfänger von Behindertenrenten und -beihilfen um 20 Prozent zu kürzen, werden diese einer als Work Capability Assessment (WCA) bezeichneten Maßnahme unterzogen. Dabei arbeitet das medizinische Personal des Dienstleistungsunternehmens eine Liste mit Fragen und Tests ab, auf der die Betroffenen eine bestimmte Punktzahl erreichen müssen, um nicht als "fit to work" eingestuft zu werden. Dabei sind die Mitarbeiter, vermutlich zur Ausschließung jedes subjektiven menschlichen Kontakts, dazu angehalten, mit ihren Probanden keinen Augenkontakt aufzunehmen.

Wenn etwa im Rollstuhl sitzende Menschen den Beweis antreten sollen, nicht laufen zu können, und dann auf schmerzhafte und entwürdigende Weise zusammenbrechen, dann muß das nicht heißen, daß ihnen nicht dennoch Hilfen gestrichen werden, weil sie noch eine Computertastatur bedienen können. Letztlich treten die Betroffenen auf der Checkliste, auf der ihre überprüften physischen und kognitiven Fähigkeiten mit "Ja" oder "Nein" zu vermerken sind, als bloßer Baukasten zu vernutzender Funktionen in Erscheinung. Daß es nicht unbedingt darum geht, diese noch auf irgendeine Weise nutzbringend zu verwerten, belegt eine Studie der britischen Regierung, laut der 2012 die Hälfte der durch WCA als arbeitsfähig eingestuften Menschen ohne Arbeit und Einkommen blieb. Auch die in der Maßnahme enthaltene Unterstellung, hier drückten sich unberechtigte Empfänger staatlicher Leistungen vor der Arbeit, wurde längst durch eine offizielle Untersuchung widerlegt, die erbrachte, daß der Vorwurf des Mißbrauchs auf lediglich 0,5 Prozent der Leistungsbezieher zutrifft.

Wenn in staatlichem Auftrag Menschen im Endstadium einer Krebserkrankung, mit schwerer Multipler Sklerose oder Parkinson-Erkrankung als arbeitsfähig eingestuft werden, wenn in einem Fall sogar ein im Koma liegender Mann "fit to work" sein sollte und eine Frau, die ein neues Herz und eine neue Lunge erhalten hatte, in ihrem Krankenhausbett starb, nachdem dort ihre Arbeitsfähigkeit festgestellt wurde, dann handelt es sich um eine besonders zynische Form des Sozialabbaus. Da keinesfalls sicher ist, daß die nach bisweilen langjähriger, ärztlicher attestierter Behinderung wieder in Arbeit zu bringenden Menschen überhaupt einen Job erhalten, scheint sich die britische Regierung dieses Kostenfaktors auch zu dem Preis entledigen zu wollen, daß sie einer regelrechten Politik der Patiententötung bezichtigt wird. Britische Behindertenverbände wie die Black Triangle Anti-Defamation Campaign in Defence of Disability Rights, die den "Asoziale" und "Arbeitsscheue" markierenden schwarzen Winkel des NS-Lagersystems zu ihrem Symbol gemacht haben, verzichten denn auch nicht auf dementsprechende Vergleiche. Angesichts einer von der Regierungsbehörde Department of Work and Pensions erstellten Studie, laut der zwischen Januar 2010 und Januar 2011 10.600 ehemalige Empfänger von Behindertenrenten- und -leistungen innerhalb von sechs Wochen verstarben, nachdem ihre Zahlungen gekürzt oder gestrichen wurden, und einer großen Zahl von Berichten über erschreckende Einzelschicksale liegt es nahe, von einer durch neoliberale Austeritätspolitik bedingten Form der "Euthanasie" zu sprechen.


Nicht den Tod planen, sondern zu leben beginnen ...

Dies vor dem historischen Hintergrund der systematischen Krankenmorde des NS-Regimes zu tun, verweist auf die strukturelle Grundlage eines eugenischen Denkens, das bei allem ideologischen Wandel gesellschaftspolitischer Formationen das immer gleiche Ergebnis der Ausschließung eines Lebens erbringt, das sich vor dem Hintergrund des abstrakten "Lebenswerts" nicht rechnet. Dementsprechend verstellt dessen positive Bestimmung die Sicht auf den dadurch konstituierten Unwert einer Subjektivität, die ihre vermeintliche Bringschuld an die Gesellschaft niemals erfüllen kann und daher um so vollständiger der Objektivierung durch die Ingenieure der staatsautoritären Betriebswirtschaft in Informationstechnik, Sozial- und Biowissenschaften ausgesetzt ist.

Signifikant für die zerstörerischen Folgen fremdbestimmter Individuation ist die Verabsolutierung der Normen und Werte, die den positiven Entwurf des Lebens begründen, während der Mensch als eigentlicher Träger der dadurch quantifizierten Vitalfunktionen immer austauschbarer wird. Die humangenetische Erfassung der mikrobiologischen Struktur seines Körpers und die informationstechnische Erwirtschaftung möglicher Krankheitsrisiken verorten ihn in ein Szenario probabilistischer Verläufe, über die zu befinden Aufgabe entsprechender Präventions- und Selektionsmechanismen ist. Die Zurichtung seines Körpers zu einem Datenartefakt bis hinunter zur täglich aufzunehmenden Kalorienmenge und absolvierenden Schrittzahl bei gleichzeitiger Erfassung vermeintlich riskanter Konsum- und Lustentscheidungen binden ihn ein in ein Verhaltenskorsett, dem gegenüber er nur dann mit womöglich nachteiliger Folge in Erscheinung tritt, wenn er von ihm abweicht. Vergleichbar und unterscheidbar gemacht durch die universal verwertbare Bemessung seines Lebens verschwindet der Mensch, noch bevor er die Chance ergriffen hat, als eigensinniges Wesen aus dem Schatten seiner Vergesellschaftung herauszutreten, in der Totalität der Maßstäbe, denen er sich im Kurzschluß der Selbstoptimierung [7] freiwillig unterwirft. Was bleibt, ist die Gültigkeit der Parameter, die ihn verfügbar machen, und ihre Anwendung auf die Rationalisierung und Steigerung eines Lebens, dessen Wert sich ausschließlich in seinem Verbrauch darstellen läßt.

Daß Arbeit frei mache, indem die Unterwerfung unter die aufgeherrschte Eigentumsordnung durch die symbolische wie materielle Teilhaberschaft am nationalen Erfolg honoriert wird, bleibt indes unwidersprochen. Die Emanzipation von der Entfremdung eines Lebens, das in seiner gouvernementalen und biopolitischen Zurichtung von allem abgetrennt wird, was autonome Handlungsmacht begründen könnte, und daher stets Gefahr läuft, dem Tod ausgesetzt zu werden, könnte gerade dort beginnen, wo es durch die offenkundige Ohnmacht seiner Subjekte in Frage gestellt ist.


Fußnoten:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0017.html

[2] http://www.theguardian.com/media/greenslade/2012/aug/13/dailymail-twitter

[3] BERICHT/017: Der Entnahmediskurs - mit offenem Visier (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0017.html

[4] http://blog.practicalethics.ox.ac.uk/2010/05/organ-donation-euthanasia/

[5] http://www.sfgate.com/opinion/article/Euthanasia-can-be-an-economic-decision-made-early-4888933.php

[6] http://www.catholicnewsagency.com/news/oregon_health_plan_covers_assisted_suicide_not_drugs_for_cancer_patient/

[7] RAUB/1077: "Selbstoptimierung" - Chiffre optimierter Fremdverfügung (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1077.html


Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
BERICHT/011: Berufsstand und Beteiligung - Erprobt, verbessert, Massenmord (SB)
BERICHT/012: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (1) (SB)
BERICHT/013: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (2) (SB)
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16. Mai 2014