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BERICHT/017: Berufsstand und Beteiligung - Finale Aufgaben und Funktionen (1) (SB)


Die "Euthanasie"-Morde in aktuellen medizinisch-ethischen Diskussionen

Podiumsdiskussion am 7. Februar 2014 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf



Aus der Geschichte zu lernen kann nicht heißen, sie der gelegentlichen Erinnerung an vermeintlich abgeschlossene Zeitläufte zu überantworten. Gerade die jüngere deutsche Geschichte fordert zur aktiven Auseinandersetzung mit den Brüchen und Kontinuitäten historischer Entwicklung auf, um die Forderung des "Niemals wieder" nicht zur ritualisierten Leerformel oder gar einem Legitimationsvehikel, das befördert, was es zu kritisieren gilt, verkommen zu lassen. So werfen die Krankenmorde im NS-Staat nicht nur den langen Schatten einer bis weit in die Nachkriegszeit reichenden berufsständischen Verankerung ausgemachter Täter im Wissenschafts- und Medizinbetrieb. Sie dokumentieren auch eine um die Konzepte der Eugenik und des Sozialdarwinismus kreisende Gültigkeit wissenschaftsimmanenter Theoriebildung, die Jahrzehnte vor dem NS-Regime in der medizinischen und biologischen Forschung der Industriestaaten ihren Anfang nahm und im Kontext neuer sozialpolitischer Erfordernisse administrative Deutungsmacht erlangte.

In der dabei aufgeworfenen Frage des "Lebenswerts" war die Antwort durch die Unterwerfung des Lebens unter ein volkswirtschaftliches Kosten-Nutzen-Kalkül bereits enthalten. Dem Primat gesamtgesellschaftlicher Produktivitätssteigerung wurde mit der räumlichen Konzentration wie erbbiologischen Exklusion vermeintlich unproduktiver Menschen entsprochen. Die dabei zur Geltung gelangende Vorstellung eines "gesunden Volkskörpers", der von "Ballastexistenzen" befreit werden müsse, zielte nicht zuletzt auf die Schlagkraft der gegeneinander in Konkurrenz um Ressourcen und Territorien stehenden Nationalstaaten ab. Die rassistische Feindbildproduktion nationalistischer Ideologie war den imperialistischen Expansionsstrategien europäischer Großmächte adäquat, zu deren Legitimation der angeblich "minderwertige" Charakter fremder Bevölkerungen erheblich beitrug. Der anthropologische Entwurf mit unterschiedlicher Befähigung und Entwicklung ausgestatteter Völker hatte die Identifikation dementsprechend "minderwertiger" Menschen in der eigenen Bevölkerung nicht nur im rasssenpolitischen, sondern auch sozialnormativen Sinne zwingend zur Folge.

Daß im NS-Staat vor allem das Subproletariat und in ihrem Verhalten wie ihrer Körperlichkeit als "abnorm" disqualifizierte Menschen von den selektiven Praktiken der behördlichen und ärztlichen Sozialingenieure betroffen waren, entsprach seinem Standes- und Berufsprivilegien keinesfalls aufhebenden Charakter. Die mörderische Konsequenz massenhafter Krankenmorde war einer klassengesellschaftlichen Gemeinwohlideologie geschuldet, in der jeder "Volksgenosse" den ihm oder ihr zustehenden Platz einzunehmen hatte. So wie der Anspruch auf völkische Suprematie die Unterjochung "minderwertiger" Völker voraussetzte, waren die inneren Verhältnisse des räuberischen Nationalkollektivs einem sozialdarwinistischen Leistungsprimat unterworfen, das angeblich unproduktive Menschen nicht minder ausgrenzte als vom arischen Rasseideal abweichende Ethnien. Die Parole "Arbeit macht frei" war, so zynisch sie auf die KZ-Insassen wirken mußte, als Ausdruck der realkapitalistischen Verfaßtheit des Staates durchaus ernst gemeint.

Stellt man, wie auf dem Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Rahmen einer öffentlichen Abendveranstaltung geschehen, die Frage danach, welchen Stellenwert "Die 'Euthanasie'-Morde in aktuellen medizinisch-ethischen Diskussionen" haben, dann rücken in erster Linie fachwissenschaftliche Entwicklungen ins Blickfeld. Hier zeigt sich schnell, daß auch diese den jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse spiegeln. Medizinische Innovationen etwa der Reproduktions- und Transplantationsmedizin, der plastischen Chirurgie oder prädiktiven Genetik sind über die wissenschaftsimmanente Logik, den Horizont diagnostischer und therapeutischer Verfahren zu erweitern, hinaus immer auch Ergebnisse sozialökonomischer Entwicklungen, wie diese wiederum durch neue Möglichkeiten der medizinisch-technischen Zurichtung des Menschen beeinflußt werden.

Podium auf Stühlen sitzend, dahinter Stehtische - Foto: © 2014 by Schattenblick

Christoph Schneider, Michael Wunder, Christian Judith, Ingrid Schneider, Friedrich Leidinger
Foto: © 2014 by Schattenblick

Fragen an Medizin und Psychiatrie gestern und heute

Insofern hätte der von dem Leiter des Beratungszentrums Alsterdorf, Dr. Michael Wunder, gewählte Einstieg in die Podiumsdiskussion, die Bedeutung des Wissens um die "Euthanasie" in der NS-Zeit für die heutigen medizinethischen Debatten zu erschließen, einen eigenen mehrtägigen Workshop eröffnen können. So konnten im Rahmen der anderthalbstündigen Veranstaltung lediglich einige Akzente gesetzt werden.

Die Hamburger Politologin Dr. Ingrid Schneider, die unter anderem zu Demokratietheorie und Technikfolgenabschätzung forscht, lobte den Umgang mit bioethischen Diskursen in der Bundesrepublik ausdrücklich aufgrund der breiten gesellschaftlichen Resonanz, mit der existentielle Fragen zum Anfang und Ende des Lebens wie zu technischen Eingriffen der Pränataldiagnostik, In-vitro-Fertilisation, Organentnahme und Stammzellforschung hierzulande diskutiert würden. Insbesondere die große Beteiligung der Zivilgesellschaft, die die Lösung dieser Wertkonflikte nicht allein ärztlichen Standesorganisationen überlassen wolle, zeichne die in Deutschland geführte Debatte aus. Man strebe prinzipielle Regelungen an und tue dies im parlamentarischen Rahmen jenseits des üblichen, nach rechts und links sortierten Lagerdenkens. So werde bei wichtigen Abstimmungen in diesen Fragen die Fraktionsdisziplin aufgehoben, Anträge für bestimmte Gesetze würden teilweise aus dem Parlament über Gruppenanträge formuliert, wobei auf die Beratung durch Ethikkommission und Enquetekommission zurückgegriffen werde. Die bei diesen Fragen besonders ausgeprägte Kultur der individuellen Gewissensentscheidung sei nicht zuletzt auf die jüngere deutsche Geschichte zurückzuführen, bestätigte Schneider auf Nachfrage Wunders.

Sitzend mit Mikro - Foto: © 2014 by Schattenblick

Ingrid Schneider
Foto: © 2014 by Schattenblick

In anderen Ländern hingegen würden bioethische Debatten sehr viel stärker von religiösen oder ideologischen Konflikten bestimmt. Linke argumentierten meist liberal, was zur Folge hätte, daß das Eintreten für gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Schwangerschaftsabbruch quasi automatisch zur Folge habe, auch für die Freigabe aktiver Sterbehilfe oder die Präimplantationsdiagnostik (PID) zu votieren. In der Bundesrepublik hingegen komme es auch zu Diskurskoalitionen zwischen Wertkonservativen und Aktivistinnen und Aktivisten, die aus der Krüppelbewegung der 80er Jahre und aus feministischen Organisationen stammen.

Christian Judith, langjähriger Hamburger Behindertenaktivist, Sozialpädagoge, Experte für bioethische Fragestellungen und Gründer des Dienstleistungen im Bereich der Inklusion anbietenden Unternehmens K Produktion, knüpfte an das Thema NS-"Euthanasie" mit einer persönlichen Geschichte an. Als ihm in seiner Jugend bewußt wurde, daß er zur NS-Zeit nicht gewollt gewesen wäre, habe das einen großen Schmerz bei ihm ausgelöst. Später sei er dann im Zusammenhang mit der von Julius Hackethal geführten Kampagne für aktive Sterbehilfe einmal gefragt worden, ob er schon über diese Möglichkeit nachgedacht habe. Das habe diesen Schmerz aktualisiert und ihn zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß diese vermeintlich so offen geführte Debatte nicht so offen sei, wie sie erscheine. Ihr pluralistischer Charakter dränge ihn häufig in eine Rechtfertigungsposition, allein schon dadurch, daß seine Lebensqualität zum Gegenstand der Erörterung erhoben wird.

Sitzend mit Mikro - Foto: © 2014 by Schattenblick

Christian Judith
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der am 5. Februar, also zwei Tage zuvor, verstorbene langjährige Hamburger Behindertenaktivist Gerlef Gleiss habe einmal in seinem Blog die Frage aufgeworfen, warum der in den letzten Jahren seines Lebens körperlich stark eingeschränkte Papst Karol Wojtyla niemals gefragt worden wäre, ob er nicht Sterbehilfe in Anspruch nehmen wolle. Daß dies nicht zur Disposition stand, ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß der Papst bis an sein Lebensende im Unterschied zu den meisten von Altersdemenz oder anderen Erkrankungen in der letzten Lebensphase betroffenen Menschen eine hervorragende Unterstützung und Begleitung erfuhr.

Der bedrohlichen Qualität der im Bundestag geführten Debatte um PID verlieh Judith dadurch Ausdruck, daß die Kommentatorin der Tagesthemen die am 7. Juli 2011 im Parlament getroffene Entscheidung, das Verfahren im Grundsatz zu verbieten, aber bei schweren Fällen zu erwartender Erbschädigung zuzulassen, lobte und darauf hinwies, daß das Thema schließlich für Menschen mit Down-Syndrom ganz wichtig sei.

Sitzend mit Mikro - Foto: © 2014 by Schattenblick

Christoph Schneider
Foto: © 2014 by Schattenblick

Der Frankfurter Kulturwissenschaftler Christoph Schneider, der seit vielen Jahren mit dem Thema NS-"Euthanasie" befaßt ist und Besuchergruppen in der Gedenkstätte in Hadamar betreut, bietet dort auch Studientage zum Thema Sterbehilfe und Pränataldiagnostik an. Um voreilige Schlußfolgerungen zu verhindern, gehe es dabei darum, den Unterschied zwischen der genozidalen Politik des NS-Staates und heutigen biomedizinischen Verfahren mit selektionistischer Praxis deutlich zu machen, bevor man auf die Parallelen zu sprechen kommt. Befasse man sich näher mit der Pränataldiagnostik (PND), zeige sich, daß im wesentlichen drei Gruppen von Akteuren dazu beitrügen, daß sich im Ergebnis Formen der Selektion abzeichneten. Zum einen seien Ärzte und pharmazeutische Forschung, zum andern der Staat als Gesetzgeber und zum dritten individuelle Personen, die diese medizinische Dienstleistung in Anspruch nehmen, daran beteiligt, daß so etwas wie ein Selektionseffekt erzeugt werde. So sei es Aufgabe des Staates, Angebot und Nachfrage zu regulieren und eine Debatte zuzulassen, bei der das Thema im Sinne einer Befriedung konträrer Positionen verhandelt wird. Die pharmazeutische Industrie mache aus geschäftlichen Gründen bestimmte Angebote, die die Anwenderinnen der PND mit dem Ergebnis in Anspruch nähmen, daß in etwa 95 Prozent der Fälle, in denen die Genommutation Trisomie 21 festgestellt und der Befund Down-Syndrom erstellt werde, eine Abtreibung erfolge.

Ingrid Schneider nannte als wesentlichen Unterschied zwischen der NS-"Euthanasie" und der heutigen Praxis des durch Pränataldiagnostik bedingten Schwangerschaftsabbruchs, daß bei letzterem von einer Eugenik von unten gesprochen werde. Ihrer Ansicht nach handle es sich um ein eher strukturelles Geschehen, das sich aus dem Zwang zur Innovation ergebe. So habe das technikinduzierte Angebot der Pränataldiagnostik eine dementsprechende Nachfrage geschaffen, da Ärztinnen und Ärzte mit der Anwendung einer Fruchtwasseruntersuchung oder eines Bluttestes Frauen versichern konnten, alles dafür zu tun, daß sie ein gesundes Kind bekommen. Dabei handle es sich nicht um bloße Prävention, sondern um eine Form der Früherkennung, die die betroffenen Frauen bei einem problematischen Befund häufig vor die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch stelle. Ihnen dann anzulasten, auf ihre Weise Selektion zu betreiben, hält Schneider aufgrund der gesellschaftlichen Situation werdender Mütter für unangemessen.

So seien Frauen, die ein Kind mit Down-Syndrom zu Welt bringen, damit konfrontiert, daß ihnen auf vielerlei Weise vermittelt werde, ob sie dies nicht hätten verhindern können. Diese Form der Diskriminierung erfolge aber sehr indirekt. Frauen, die die Schwangerschaft noch im späten Stadium abbrechen, seien oft traumatisiert und litten darunter, daß es wenig Raum in dieser Gesellschaft gebe, so etwas öffentlich zu diskutieren. Das betreffe nicht nur den Kinderwunsch, sondern die generelle, von Markt- und Konkurrenzprinzipien getriebene Forderung zur Selbstoptimierung.

Stehend am Mikro - Foto: © 2014 by Schattenblick

Michael Wunder moderiert die öffentliche Abendveranstaltung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Christoph Schneider ergänzte, daß er es in der Gedenkstätte auch mit werdenden Eltern zu tun habe, denen er nahebringen möchte, mit welchen Gesetzen sie es dabei hinsichtlich des Staates und welchen Interessen hinsichtlich der pharmazeutischen Industrie zu tun hätten. Man komme allerdings nicht um das Phänomen herum, daß technisch induzierte Angebote eine Nachfrage erzeugten, für die nicht nur die wirtschaftlichen und staatlichen Akteure verantwortlich zu machen seien. Auch die Zivilgesellschaft sei daran beteiligt, daß sich eine Praxis der Selektion etabliert habe, die qua Angebot vollzogen wird. So betrieben die Menschen Selbstoptimierung auch deshalb, weil sie sich mit bestimmten Parametern identifizierten, denen sie gerecht werden wollten. Wer schön, schnell, fit sein wolle, sei auch bereit, sich entsprechend zu optimieren. Hier einen Prozeß der Manipulation zu unterstellen, sei deshalb problematisch, weil dieses Phänomen, zugespitzt gesagt, libidinös besetzt sei.

Demgegenüber wollte Christian Judith keinen derart großen Unterschied zwischen der NS-"Euthanasie" und heutigen Praktiken der Selektion erkennen. So habe Hitler keineswegs explizit die Vernichtung der Behinderten befohlen, sondern in einem Erlaß angeordnet, daß man ihnen unter bestimmten Voraussetzungen den Gnadentod gewähren sollte. Die Nazis hätten versucht, der Praxis der "Euthanasie" gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen, indem ihre Notwendigkeit mit dem Ziel propagiert wurde, sie schließlich unter freiwilliger Beteiligung der Bevölkerung vollziehen zu können.

In der heutigen Gesellschaft könne eine Frau nicht frei über ihren Körper entscheiden. Dieser Gesellschaft basiere auf Zwang, so Judith, und so übe sie auch Zwang auf ihre Bevölkerung aus. Für ihn gehe es darum, genau hinzuschauen. Er wolle die Verhältnisse im NS-Staat und in der Bundesrepublik keinesfalls gleichsetzen oder das Gedenken an die NS-"Euthanasie" herabsetzen. Aber in beiden Fällen seien Tendenzen erkennbar, die nicht so leicht auseinanderzudividieren wären, meinte der Behindertenaktivist.

Sitzend mit Mikro, daneben Ingrid Schneider - Foto: © 2014 by Schattenblick

Friedrich Leidinger
Foto: © 2014 by Schattenblick

Dr. Friedrich Leidinger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Langenfeld, gestand auf die Frage des Moderators nach der besonderen Verantwortung der Psychiatrie für die Euthanasie ein, daß diesem Zweig der Medizin von der Gesellschaft viel Macht zugestanden wurde. So verfügten Psychiater zum Beispiel über die Autorität zu definieren, wo die Grenzen der Normalität verlaufen, mithin welches Verhalten akzeptabel und welches verwerflich sei. Leidinger ist der Ansicht, daß diese Machtfülle der Psychiatrie in Wissenschaft und klinischer Praxis auch die Gefahr berge, Existenzen als schädlich, überflüssig oder gar "unwert" zu disqualifizieren.

Michael Wunder warf die Frage auf, ob der Vollzug der NS-"Euthanasie" in der Psychiatrie möglicherweise durch die Einschätzung des NS-Regimes bedingt war, daß diese spezialisierten Ärzte der von dem Psychiater Alfred Hoche und dem früheren Reichsgerichtspräsidenten Karl Binding mit der Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" 1920 angestoßenen Debatte folgten. Friedrich Leidinger verwies dazu auf das Vorwort des Psychiaters und Philosophen Karl Jaspers zu dem unmittelbar nach Kriegsende verfaßten Buch "Selektion in der Heilanstalt 1939-1945". Darin schilderte der Psychiater Gerhardt Schmidt, was er als kommissarischer Leiter der Anstalt Eglfing/Haar bei München über die dort vollzogenen Krankenmorde herausgefunden hatte.

Jaspers, der anfangs versucht habe, das Erscheinen dieses Buches zu verhindern, schildert im Vorwort, daß er im Ersten Weltkrieg in verschiedenen psychiatrischen Anstalten erleben mußte, wie die Patienten massenhaft verhungerten. Wenn man Menschen, so ein psychiatrischer Ausdruck, den Leidinger noch in Krankenakten der 50er und 60er Jahre vorfand, "niedergeführt", sie also seelisch und physisch völlig ruiniert habe, dann liege der Gedanke nahe, sie nicht weiter mit viel Aufwand zu versorgen, sondern zu beseitigen. Die Neigung, dies zu verharmlosen, könne man auch bei Jaspers feststellen, der Schmidt im Vorwort zu seinem Buch vorwirft, aus der Perspektive einer nicht in gleichem Maße mit dieser Not konfrontierten Person Menschen anzuklagen, die vielleicht nur gemordet hätten, um Schlimmeres zu verhindern. Daß Jaspers kein Nazi, sondern seinerseits durch den NS-Staat bedroht war, betrachtet Friedrich Leidinger als einen Beleg dafür, daß die Autorenschaft der "Euthanasie"-Programme nicht so sehr bei der NSDAP, sondern bei der Medizin, den Ärzten und ganz besonders der Psychiatrie gelegen habe.

Von Michael Wunder unter Verweis auf die seiner Ansicht nach sehr offen geführte psychiatrische Debatte in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) gefragt, was dies für die heutige Psychiatrie bedeute, erinnerte Leidinger daran, daß sich die Psychiater jahrzehntelang mit der Aufklärung der Vergangenheit ihres Berufsstandes schwertaten. Erst vor wenigen Jahren hätten sie es geschafft, sich mit den Verbrechen ihrer ehemaligen Ehrenvorsitzenden auseinanderzusetzen. Zudem hätten sie heute im besten Fall mit Patientinnen und Patienten zu tun, die ihnen als Psychiatrie-Erfahrene nicht mehr mit dem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüberständen. So stelle etwa der Bundesverband der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) viel mehr Öffentlichkeit her, als dies noch vor 30, 40 Jahren der Fall gewesen wäre. Nicht zuletzt aufgrund des selbstorganisierten Engagements von Patientinnen und Patienten gebe es heute Regeln, Gesetze und Normen, die die Psychiatrie in ihrer Machtstellung einschränken. Er persönlich bedauere es sehr, daß die Psychiatrie sich in den letzten vier Dekaden von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, die die Macht der Psychiater immer mehr beschnitten habe, quasi vor sich hertreiben ließ. Heute wäre vielleicht der Zeitpunkt gekommen, daß die Psychiater ihrer Macht aus eigenem Antrieb Grenzen setzten.

Blick auf das Podium aus den hinter Reihen des Publikums - Foto: © 2014 by Schattenblick

Die Pflege dieses gesellschaftlich vernachlässigten Diskurses kann auch Freude bereiten
Foto: © 2014 by Schattenblick

Für die Schlußrunde stellte der Moderator die Frage in den Raum, ob die heutigen Debatten und Entscheidungen um Medizin und Ethik von diesem besonderen Erfahrungsschatz überhaupt beeinflußt würden.

Christian Judith berichtete, daß er als Tänzer im internationalen Austausch mit anderen behinderten wie nichtbehinderten Tänzern stehe. Mit diesen lasse sich jedoch keine Diskussion über Pränataldiagnostik oder Sterbehilfe mit einer Sensibilität und Wachheit führen, wie sie in der Bundesrepublik noch zu verspüren sei.

Für Ingrid Schneider sei an dieser Diskussion problematisch, daß sie häufig in einem Spannungsfeld zwischen der Singularität des Holocaust und der Frage stehe, ob es nicht Einflüsse gebe, die schon viel länger wirkten und eine bestimmte Kontinuität hätten. Ihrer Ansicht nach ging dem Holocaust auf jeden Fall eine eugenische wie sozialdarwinistische Sichtweise voraus, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern. Sie fände es besonders unheimlich, daß Mediziner dem Hippokratischen Eid verpflichtet seien, ohne daß das Prinzip, dem Wohl der Kranken alles andere nachzuordnen, verhinderte, daß sie zu Mördern wurden. Das erschüttere sie und mache ihr auch Angst.

Auf der anderen Seite habe sich die Medizin kontinuierlich auf naturwissenschaftliche Methoden verlegt, bei denen Patientinnen und Patienten in statistischen Kohorten aufgingen. Das verleite Ärztinnen und Ärzte dazu, von deren Persönlichkeit abzusehen. Das könne etwa in einen pragmatischen Umgang etwa bei der Verordnung von Medikamenten münden, von denen man erst nach ihrer Anwendung wisse, ob sie die erwünschte Wirkung zeigten oder nicht. Um ihren Beruf ausüben zu können, müßten Medizinerinnen und Mediziner auch ohne Empathie arbeiten können. Dafür gebe es Initiationsriten wie etwa den Präparationskurs, wo sie beim Sezieren lernten, in die körperliche Integrität von Menschen einzugreifen.

Im Unterschied zur NS-Zeit wären Medizinerinnen und Mediziner heutzutage keine Halbgötter in Weiß mehr. Zu den Patientinnen und Patienten unterhielten sie ein eher partnerschaftliches Verhältnis, diese wären eher Kundinnen und Kunden, als daß sie ihnen untergeordnet wären. Zudem definierten sich Ärztinnen und Ärzte auch als Dienstleister, was zur Folge hätte, daß sie Verantwortung auf die Patientinnen und Patienten abschieben würden. Wollte sich eine Patientin die Brust vergrößern oder ihre Lippen aufspritzen lassen, dann könne dies auch als Erfüllung eines Wunsches verstanden und so das kommerzielle Motiv des Arztberufes übergangen werden.

Die Abkoppelung der Medizinethik vom geschichtlichen Hintergrund der NS-"Euthanasie" sei auch an der Vorreiterrolle von Teilen des ärztlichen Berufsstandes bei der Legalisierung der PID zu erkennen. Gleichzeitig gebe es hierzulande noch eine Form der semantischen Tabuisierung, wenn etwa von ärztlicher Beihilfe zum Suizid gesprochen wird, obwohl aktive Sterbehilfe gemeint ist. Insgesamt verlaufe die Legalisierung prekärer biomedizinischer Verfahren in der Bundesrepublik sehr viel langsamer, vorsichtiger und restriktiver, so die Politologin in der abschließenden Bewertung des Zusammenhangs zwischen Geschichtsbewußtsein und medizinischer Praxis.

Für Friedrich Leidinger ist das seelische Leid der Menschen mit Psychose für sie selbst wie für ihre Angehörigen heute genauso schlimm wie vor 50 oder 100 Jahren. Geändert habe sich hingegen ihre gesellschaftliche Position gegenüber der Institution und das Verständnis der Psychiatrie hinsichtlich der Gründe dieser Erkrankung. Als er seinen Beruf vor 35 Jahren aufgenommen habe, herrschte noch das Dogma vor, daß ein psychotischer Zustand prinzipiell nicht zu verstehen sei. Heute habe man ein völlig anderes Modell davon, was bei der Krankheit geschieht, und würde versuchen, mit den Beteiligten in einen Dialog zu treten. Es gebe insgesamt eine wesentlich größere Vielfalt möglicher Hilfen, zudem herrsche heute mehr Respekt vor dem Anderssein.

Christoph Schneider blieb es vorbehalten, zum Abschluß noch etwas Salz in die Suppe zu streuen. So seien die Gedenkstätten zur NS-"Euthanasie" in Deutschland insgesamt nicht besonders gut ausgestattet. Ihr Normalbetrieb bestehe vor allem darin, Führungen für Schulklassen anzubieten. Für ein Angebot, wie er es mache, sei nicht viel Platz vorhanden. Andererseits sei es auch nicht so, daß Studierende der Medizin oder Ärztinnen und Ärzte ein besonderes Interesse an der zeitgeschichtlichen Reflexion über ihren eigenen Berufsstand anmeldeten. Dabei kursierten heute Wertigkeiten in der Gesellschaft, die an die Frage des Lebenswertes, mithin der Relativierung eigener Existenzberechtigung, anknüpften.

(wird fortgesetzt)

Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungsort "Alte Küche" der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
Foto: © 2014 by Schattenblick


Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

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13. Mai 2014