Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → REPORT

BERICHT/013: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (2) (SB)


Meldesystem, Überwachung, Einweisung - Endstation Anstalt

Workshop am 7./8. Februar 2014 in Hamburg-Alsterdorf und Neuengamme


Folie mit Titel des Vortrags - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Das erste Berliner Arbeitshaus wurde 1701/02 als Teil des Großen Friedrichshospitals auf dem Gelände der heutigen Charité errichtet. Es gehörte zu einem Krankenhauskomplex, dem neben dem Arbeitshaus auch ein Waisenhaus und ein "Irrenhaus" angegliedert waren. Im Jahr 1742 folgte das von Friedrich dem Großen finanzierte erste eigenständige Arbeitshaus, das in einem ehemaligen Zunfthaus der Schlachterinnung in Kreuzberg eingerichtet wurde. Da das Gewerbezeichen eines steinernen Ochsenkopfes die Außenfassade zierte, wurde die Anstalt von den Insassen als "Ochsenkopf" bezeichnet, was man auch nach der Verlegung in ein größeres Gebäude am Alexanderplatz 1758 beibehielt. Auch am neuen Standort war das für rund 500 "Häuslinge" konzipierte Arbeitshaus bald überbelegt. Im Sommer 1769 waren dort 300, 1785 aber schon 1250 Menschen untergebracht. Als an diesem Platz das Berliner Polizeipräsidium errichtet werden sollte, beschloß die Stadtverwaltung, das Arbeitshaus auf ein wesentlich größeres Gelände nach Rummelsburg zu verlegen. [1]

Das größte Arbeitshaus Deutschlands wurde zwischen 1877 und 1879 als Neubau an der Rummelsburger Bucht errichtet. Die Anlage umfaßte insgesamt 23 teils mehrgeschossige Gebäude, in denen Abteilungen für Männer und Frauen, Wohnungen für Bedienstete, Verwaltung, Wirtschaftstrakte, Arrestzellen, ein Lazarett, eine Leichenhalle, eine Bibliothek und eine Kirche untergebracht waren. Da auch Rummelsburg rasch überbelegt war, kamen in der Folgezeit Baracken an verschiedenen Orten außerhalb der Stadt hinzu, wo die Insassen bei der Feldarbeit eingesetzt wurden.

In der NS-Zeit errichtete die Berliner Stadtverwaltung im Juli 1934 in Erwartung des "Bewahrungsgesetzes" mit dem Arbeitshaus Rummelsburg die erste deutsche Bewahrungsanstalt. Wenngleich die Einweisung formal freiwillig erfolgte, wurden im Vollzug kaum Unterschiede zwischen "Bewahrung" und "geschlossener Fürsorge" gemacht. Zum Juli 1935 führten die Wohlfahrtsämter in allen Berliner Bezirken die Pflichtarbeit ein. Es herrschte Einigkeit darüber, daß jemand, der Pflichtarbeit verweigere, keine Unterstützung verdiene. Diese Personen sollten aus der Gemeinschaft entfernt und in Rummelsburg untergebracht werden. Gestützt wurde dies durch ein bereits 1933/34 erprobtes "Warnsystem": Meldungen über Personen, die die Wohlfahrtspflege mißbräuchlich in Anspruch genommen hätten, wurden mittels roter Karteikarten an alle Stellen der öffentlichen Wohlfahrtspflege weitergegeben. Der nationalsozialistische Kommunalpolitiker Karl Spiewok, damals Leiter des Landeswohlfahrts- und Jugendamtes, merkte zynisch an, das Warnwesen führe dazu, daß "dem Unterzubringenden nur der freiwillige Eintritt in die angebotene Anstaltsfürsorge übrigbleibe".

Unter Beteiligung von Justiz, Polizei und Wohlfahrtsverwaltung wurde die Verfolgung "Asozialer" binnen weniger Jahre systematisch ausgebaut, bis schließlich 1938 alle Dienststellen verpflichtet waren, solche Personen dem Landeswohlfahrtsamt zu melden. Damit gerieten auch Menschen, die nicht auf die öffentliche Fürsorge angewiesen waren, ins Visier der Behörden. Die gemeldeten Personen wurden unter "vorbeugende Überwachung" gestellt; änderten sie ihren Lebensstil nicht, folgte die Einweisung ins Arbeitshaus.

Beim Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Thomas Irmer
Foto: © 2014 by Schattenblick

Rummelsburg - Das Berliner Arbeitshaus und die NS-Euthanasie-Planung zur Ermordung sogenannter Asozialer

Im Rahmen des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der am 7. Februar 2014 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und am 8. Februar 2014 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, hielt Thomas Irmer einen Vortrag zum Thema "Rummelsburg - Das Berliner Arbeitshaus und die NS-Euthanasie-Planung zur Ermordung sogenannter Asozialer". Der Berliner Historiker befaßt sich seit Mitte der 1990er Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Projektleiter und Kurator insbesondere mit dem Massenmord in Konzentrationslagern und der Zwangsarbeit im NS-Staat wie auch dem Übertrag der Forschungsergebnisse in schulische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit.

Wie der Referent einleitend ausführte, zeichnet sich Berlin durch eine lange Geschichte der Armut und Randgruppen, aber auch vielfältiger staatlicher wie zivilgesellschaftlicher Initiativen in der Sozialpolitik und einer reichhaltigen Tradition der privaten Wohlfahrtspflege aus. Die ersten Berliner Arbeitshäuser wurden in der Innenstadt eingerichtet, worüber heute kaum mehr etwas bekannt ist. Berüchtigt war das Arbeitshaus am Alexanderplatz, da dort katastrophale Bedingungen herrschten. Es wurde von einem französischen Philanthropen, der die Geschichte der preußischen Gefängnisse untersucht hatte, als Haus des Horrors, als Hölle und Grabstätte für Alt und Jung bezeichnet. Ihm war insbesondere ein Greuel, daß in diesem Arbeitshaus Prostituierte, Obdachlose, Psychiatriepatienten und Kinder alle in einem Raum zusammengepfercht wurden. Die katastrophalen Zustände führten 1848 in diesem Arbeitshaus zu Aufständen, die jedoch niedergeschlagen wurden, weil sie keinerlei Unterstützung erhielten.

Erst 1870 rang sich die Berliner Stadtverwaltung zu einer großangelegten Reorganisation durch, in deren Folge das Arbeitshaus Rummelsburg im heutigen Stadtteil Lichtenberg entstand. Die größte derartige Anstalt Deutschlands galt damals als modellhafte Einrichtung in Preußen und wurde als moderne Anlage außerhalb der Stadt mit einzelnen kasernenähnlichen Gebäuden für die verschiedenen Gruppen errichtet. Rummelsburg war als eine kostengünstige Lösung konzipiert, da viele Insassen in der Landwirtschaft arbeiteten und teilweise auch außerhalb des Geländes untergebracht waren.

Im NS-Staat, der unter die Kategorie "asozial" nicht nur arme Leute und Randgruppen, sondern auch nicht konforme Verhaltensweisen faßte und verfolgte, reichte schließlich eine Denunziation aus, Menschen ins Arbeitshaus zu bringen. Nach der Vorstellung des damaligen Sozialdezernenten Karl Spiewok sollte Rummelsburg zu einer zentralen Sammelanstalt für "Asoziale" werden, in die man die Insassen anderer Berliner Einrichtungen verbrachte und dauerhaft einsperrte. Er sprach von einer "strengen Sonderbehandlung unter geringstem Kostenaufwand", wobei der Terminus "Sonderbehandlung" zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Tarnbezeichnung für Mord verwendet wurde.

Der Alltag in Rummelsburg war streng reglementiert und die Stadt Berlin der größte Nutznießer der Zwangsarbeit, da die Insassen als Gärtner, auf Friedhöfen, bei der Straßenreinigung, in Kraftwerken, Großbäckereien, Wäschereien und auch in privaten Betrieben eingesetzt wurden. Rummelsburg war ursprünglich für 1000 Insassen konzipiert. In der NS-Zeit stieg diese Zahl erheblich an. So waren es 1936 rund 1200, 1938 bereits 1500 und Ende 1939 mit etwa 2000 Menschen doppelt so viele wie bei der früheren Belegung. Erst 1942 ging die Insassenzahl mit 1400 tendenziell auf Vorkriegsniveau zurück, wobei dem eine Anordnung Himmlers zugrunde lag, "Asoziale" sofort ins KZ zu überstellen.

Rummelsburg wurde auf die Dauer ein Verwahrort älterer Menschen, die aufgrund ihrer verminderten Arbeitsfähigkeit zunehmend als nutzlos galten. Die Anstaltsleitung war bestrebt, gerade auch alte Leute zu einfacher Arbeit einzusetzen, um eine Legitimation der Institution daraus abzuleiten. Da die voll Arbeitsfähigen direkt ins KZ kamen, waren spätestens bei Kriegsbeginn die Alten in der Mehrheit, wobei es aber auch einige Kinder und Jugendliche in der Anstalt gab.

Dies läßt sich auch an Unterlagen des Friedhofs Marzahn ablesen. Zwischen 1933 und 1945 wurden mehr als 1000 Insassen auf diesem Friedhof beerdigt, was die Forschung allerdings noch nicht endgültig verifizieren konnte. Die Mehrzahl der dort verstorbenen Rummelsburger Insassen war über 60 Jahre alt, wobei man über die Todesumstände nichts Genaues weiß. Es gibt Hinweise auf Schlaganfälle, Krebs, Lungenentzündung und Tuberkulose, was auf schlechte Unterbringung und Versorgung schließen läßt. Nachgewiesen ist, daß mindestens 175 Insassen sterilisiert wurden, um "ungewünschte Nachkommen" zu verhindern.

Seit 1933 hatte die NS-Politik unter kommunalpolitischer Mitarbeit die Ausgrenzung sogenannter Asozialer forciert und soziale Randgruppen sowohl aus der Volksgemeinschaft wie von jedweder Sozialpolitik ausgeschlossen. Mit Kriegsbeginn wurden solche Menschen zumeist direkt in die Konzentrationslager verbracht, während in der Anstalt die Kosten gesenkt und Insassen für Zwecke der Kriegswirtschaft eingesetzt werden sollten. Dabei galt Rummelsburg auch als Testfall für die systematische Ausweitung der NS-Euthanasie: Die Tötung sogenannter Asozialer sollte unter das Primat der Arbeitsfähigkeit gestellt werden.

Als gesichert gilt, daß die Rummelsburger Insassen nicht mehr als sonderlich nutzbringend angesehen waren, als die Anstalt ins Visier der Euthanasieaktionen geriet. Im Dezember 1941 wurde eine Mitarbeiterin der "Aktion T4", die bereits bei der Ermordung von Psychiatrieinsassen in Hadamar eingesetzt worden war, nach Rummelsburg entsandt. Wie sie nach 1945 in einem Prozeß aussagte, sollten "die asozialen Elemente ebenfalls reif zur Vernichtung" gemacht werden. Es wurde ein Gutachten über die Wirtschaftlichkeit des Arbeitshauses erstellt, das nicht einzelne Gruppen, sondern die gesamte Einrichtung untersuchte. Im Ergebnis wurden drei verschiedene Kategorien der Arbeitsfähigkeit geschaffen, wobei die Gruppe mit den einfachsten Arbeiten sofort ermordet werden sollte.

Als die Listen erstellt waren, führte am 12. Januar 1942 eine hochrangige Kommission aus Vertretern von "T4" und Experten der Verfolgung von sogenannten Asozialen vor Ort eine Musterbegutachtung durch, bei der nach Aktenlage alle damaligen 1500 männlichen und weiblichen Insassen bewertet wurden. Diese wurden nur anhand der Fragebögen und nicht etwa durch eine Inaugenscheinnahme vor Ort beurteilt. Alle versammelten Experten waren sich einig, mehr als 300 Insassen im Rahmen der NS-Euthanasie zu ermorden, wobei sich einzelne Kommissionsmitglieder für erheblich höhere Zahlen aussprachen.

Wenngleich Rummelsburg als ein Testfeld der Euthanasie an Insassen von Arbeitshäusern gilt, wurde die vorgesehene Tötung dort im Unterschied zu anderen Berliner Pflegeeinrichtungen nicht umgesetzt. Das war jedoch nicht auf ein Einlenken der Behörden zurückzuführen, sondern verdankte sich dem Umstand, daß der Ermordung von Juden und anderen KZ-Insassen Vorrang eingeräumt wurde, womit die Kapazitäten der Menschenvernichtung ausgelastet waren.

Thomas Irmer vor Projektionswand - Foto: 2014 by Schattenblick

Detaillierte Erklärungen zum Arbeitshaus Rummelsburg
Foto: 2014 by Schattenblick

Wie die Arbeitshäuser im allgemeinen bislang kaum beschrieben worden sind, ist insbesondere Rummelsburg trotz seiner damaligen Größe und Bedeutung einer jener Orte in Deutschland, die von der NS-Forschung und insbesondere deren Wahrnehmung in einer breiteren Öffentlichkeit lange ausgeblendet wurden. Erste Forschungsarbeiten entstanden im größeren Zusammenhang der NS-Euthanasie, wobei ein Beitrag von Götz Aly aus dem Jahr 1987 hervorzuheben ist. Er verfaßte damals den ersten Text, der intensiv auf Rummelsburg in der NS-Zeit eingeht. Bis heute beziehen sich viele andere Autoren auf diesen Aufsatz, was unter anderem dazu führte, daß einige unzutreffende Einschätzungen übernommen wurden, die Aly inzwischen selbst korrigiert hat. So war er ursprünglich davon ausgegangen, daß alle Insassen in ein Außenlager des KZ Sachsenhausen überstellt wurden. Das war jedoch nicht der Fall, da alle in Rummelsburg blieben, was den Charakter dieser Anstalt als Verwahrort älterer Menschen belegt. Was die Forschung erschwert habe, sei das vollständige Fehlen entsprechender Vewaltungsakten, so daß alle Erkenntnisse mühsam aus anderen überlieferten Quellen zusammengesucht werden mußten, so der Referent.

Bis heute ist die von beiden deutschen Staaten verweigerte Anerkennung von sogenannten Asozialen unter den NS-Opfern und deren weitestgehender Ausschluß bei Entschädigungszahlungen kaum bekannt. In der Bundesrepublik gab es in den 1980er Jahren für diese Opfergruppe lediglich eine Einmalzahlung als Entschädigung.

Mit dem Ende des Weltkriegs änderte sich die Nutzung der Gebäude in Rummelsburg nicht grundlegend. Die DDR unterhielt hier bis 1951 ein Arbeitshaus, danach wurde der Komplex zu einem regulären Gefängnis, das bis 1989/90 Bestand hatte. Heute entstehen an der Rummelsburger Bucht gefragte Wohnungen und Townhouses. Auch einige Gefängnishäuser wurden zu Luxusappartements umgebaut. Um zu verhindern, daß diese Kommerzialisierung auch noch die letzten verbliebenen Anknüpfungspunkte an die frühere Bedeutung dieses Areals auslöscht, versuchen Initiativen, das Gedächtnis an diesem Ort wachzuhalten. So wurde im Rahmen des Themenjahrs 2013 "Zerstörte Vielfalt" an die Vergangenheit des Komplexes in der NS-Zeit mit Stelen erinnert.

Zwangsarbeit damals wie heute

Die DDR nahm die Bezichtigung "asozial" Ende der 1960er Jahre in den Strafrechtskatalog auf. Als Ursache von Obdachlosigkeit, "Arbeitsscheue" und "Asozialität" wurde ausschließlich ein persönliches Verschulden der Betroffenen angenommen, da die sozialistische Gesellschaftsordnung daran keinen Anteil haben könne. Alkoholismus, fehlende Berufstätigkeit und andere nicht geduldete Verhaltensweisen wurden als Vergehen gegen das werktätige Volk aufgefaßt und auf wechselnder gesetzlicher Grundlage auch nach der Strafrechtsreform von 1968, die "Asozialität" explizit als Straftatbestand definierte, sanktioniert. Reformen sorgten nicht etwa für eine Lockerung der Sanktionen. Vielmehr dehnte beispielsweise die Neuerung von 1979 den Begriff der "Asozialität" auf jeden aus, von dem eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgehe. Damit wurde ein Gummiparagraph zum Vorgehen gegen unliebsame Personengruppen wie etwa Punks geschaffen. Konsequenz für den Einzelnen war die Einweisung in Arbeitshäuser mit militärischem Drill und rigidem Reglement, die auf eine Umerziehung im Sinne des offiziellen Menschenbildes abzielten.

In der amerikanischen Besatzungszone wurde nach dem Krieg die Einweisung in ein Arbeitshaus vorübergehend abgeschafft, aber nach der Gründung der Bundesrepublik wieder in allen ehemaligen Westzonen eingeführt. Nach der Regelung des Strafgesetzbuches konnten nun weiterhin wegen Bettelei, Landstreicherei und Gewerbsunzucht verurteilte Straftäterinnen und -täter in das Arbeitshaus eingewiesen werden, wobei die Fristen für die Erst- und die weiteren Unterbringungen wie zwischen 1933 und 1945 galten. Auch am Ziel des Arbeitshauses, nämlich an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen und zur Arbeit anzuhalten, wurde festgehalten. Für einen geringen Tagesverdienst von höchstens zwei Mark wie 1967 in Brauweiler bei Köln [2], der in anderen Bundesländern noch niedriger war, mußten die Insassen stumpfsinnige Tätigkeiten verrichten. Bis zur Abschaffung des Arbeitshauses als Maßregel durch die Große Strafrechtsreform 1969 wurden insgesamt 8.000 Personen in solche Institutionen eingeliefert.

Das vorläufige Ende der Arbeitshäuser in der Bundesrepublik war kein Abschied vom Arbeitszwang. Als nach der kurzen Blüte des Wirtschaftswunders und deren ideologischer Verklärung zum vorgeblichen Dauerzustand der freien Marktwirtschaft die Krise wiederkehrte, wurden innovative Strategien restriktiver Sozialpolitik aus der Taufe gehoben. Schon die konservativ-liberale Koalition unter Helmut Kohl brachte ab 1982 einige Einschnitte bei der Arbeitslosenversicherung auf den Weg, rührte aber noch nicht an den Grundfesten des Systems. Erst die rot-grüne Regierung, die 1998 an die Macht kam, verschmolz den aggressiven Sozialabbau mit dessen Akzeptanz in der Bevölkerung, um möglichen Widerstand aus dem Feld zu schlagen.

Die Agenda 2010 und insbesondere die Durchsetzung der Hartz-Gesetze in den Jahren 2003 bis 2005 führte einen regelrechten Systembruch im Bereich der Arbeitslosenversicherung und in der Arbeitslosen- und Sozialpolitik insgesamt herbei. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde grundsätzlich auf 12 Monate reduziert und erst ab 2006 für ältere Arbeitnehmer schrittweise wieder auf maximal 24 Monate angehoben. Die Arbeitslosenhilfe wurde vollständig abgeschafft und mit der Sozialhilfe zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Vor allem aber war fortan jede Arbeit zumutbar, auch wenn sie der Qualifikation in keiner Weise entsprach, untertariflich bezahlt wurde oder gar unter dem Sozialhilfesatz lag. Werden "zumutbare" Arbeitsangebote abgelehnt, kommt es zu Leistungskürzungen und im Wiederholungsfall sogar zum vollständigen Leistungsentzug.

Da die Androhung des Entzugs sämtlicher Mittel zum Lebensunterhalt einem massiven Zwang zur Aufnahme von zutiefst ausbeuterischer Arbeit gleichkommt, kann man von einer Wiedereinführung der Zwangsarbeit sprechen. Damit sind in einen Staat, dessen Sozialprodukt größer als je zuvor in seiner Geschichte ist, Methoden paternalistischer Sozialpolitik und der repressiven Verwaltung von Armut und Arbeitslosigkeit zurückgekehrt, wie man sie bislang nur aus der Periode des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit oder in Diktaturen der Moderne kannte. [3]

Dabei ist nicht auszuschließen, daß diese innovativen Strategien von Armutsverwaltung und Arbeitszwang um repressive Maßnahmen der Kasernierung des Elends ergänzt werden, die man auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt glaubte. Das gilt auch für Arbeitshäuser und Arbeitslager, deren Konzeption und Realisierung gerade die deutsche Administration seit jeher zu perfektionieren verstand. Wenngleich die forcierte Isolierung und Bezichtigung des Einzelnen, dem die volle Last der Selbstoptimierung und Eigenverantwortung aufgehalst wird, ein Heer kontrollierbarer Monaden ohne kollektive Bindung hervorbringt, raubt doch die fortschreitende Verelendung und Ausgrenzung wachsender Bevölkerungsteile den Betroffenen auf Dauer jede Illusion einer erfolgreichen Beteiligung an diesem System. Für den Fall aufflammender Sozialkämpfe und Hungerrevolten stehen mit Sicherheit längst geschmiedete Bekämpfungspläne und Befriedungskonzepte bereit, die nur solange als Rückfall in eine barbarische Vergangenheit mißdeutet werden, als man das Wesen der Herrschaft damals wie heute nicht hinreichend entschlüsselt hat.

Gebäude in rotem Klinker mit Turm und Schornstein - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungsort "Alte Küche" in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] http://www.gedenkstaettenforum.de/nc/gedenkstaetten-rundbrief/rundbrief/news/das_staedtische_arbeits_und_bewahrungshaus_rummelsburg_in_berlin_lichtenberg/

[2] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46453095.html

[3] http://www.gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/vom-armen--und-arbeitshaus-zu-hartz-iv-05541.php


Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)
BERICHT/011: Berufsstand und Beteiligung - Erprobt, verbessert, Massenmord (SB)
BERICHT/012: Berufsstand und Beteiligung - Nonkonform und asozial, Teil der Vernichtungswahl (1) (SB)
INTERVIEW/015: Berufsstand und Beteiligung - Spuren der Täuschung, Christl Wickert im Gespräch (SB)
INTERVIEW/016: Berufsstand und Beteiligung - Archive, Forschung und Verluste, Harald Jenner im Gespräch (SB)
INTERVIEW/017: Berufsstand und Beteiligung - Deutungsvielfalt großgeschrieben, Michael Wunder im Gespräch (SB)
INTERVIEW/018: Berufsstand und Beteiligung - Dammbruch Sterbehilfe, Astrid Ley im Gespräch (SB)
INTERVIEW/019: Berufsstand und Beteiligung - Vernichtungslogik, Krieg und Euthanasie, Friedrich Leidinger im Gespräch (SB)

25. April 2014