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BERICHT/010: Berufsstand und Beteiligung - Alte Schuld runderneuert (SB)


NS-"Euthanasie" - Ideologische Wegbereiter und bereitwillige Funktionseliten

Workshop am 7./8. Februar 2014 in Hamburg-Alsterdorf und Neuengamme



Der Exzeß im und vom NS-Staat verübter Greueltaten legt die Sichtweise nahe, es habe sich bei ihm um einen Rückfall in die Barbarei, mithin einen unvergleichlichen historischen Sonderfall gehandelt. Diese Auffassung befördert ein Geschichtsverständnis, das mit dem Ende dieser grauenerregenden Ausnahme von der menschheitsgeschichtlichen Höherentwicklung die Rückkehr auf den geraden Weg fortschreitender Humanität postuliert und anmahnt, daß ein Äquivalent der NS-Herrschaft niemals wiederkehren dürfe. Eine derartige Einschätzung greift jedoch auf zweifache Weise zu kurz: Zum einen arbeitet sie einer Historisierung des Faschismus zu, die diese gesellschaftliche Formation als Produkt nicht mehr wiederkehrender Ausgangsbedingungen verharmlost und entpolitisiert. Zum anderen wird dem emanzipatorischen Anspruch des Lernens aus der Geschichte entgegengewirkt, indem zeiten- und länderübergreifende Techniken und Ideologien wissenschaftsimmanenter Herrschaftsicherung auf jeweils spezifische gesellschaftliche Bedingungen angewendet und ihre erkenntnistheoretische Universalität so geleugnet wird.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert brach sich ein Paradigmenwechsel in Fragen der "Euthanasie" Bahn. Noch 1836 hatte Christoph Wilhelm Hufeland als primäre Aufgabe des Arztes hervorgehoben, das Leben auch bei unheilbaren Krankheiten zu erhalten. Glaube sich der Arzt einmal berechtigt, über die Notwendigkeit eines Lebens zu entscheiden, reichten unwesentliche Beeinflussungen aus, um den Unwert eines Menschenlebens auch auf andere Fälle anzuwenden. Diese auch im Zusammenhang biopolitischer Entwürfe und Praktiken der Gegenwart bemerkenswerte Position wurde seinerzeit zwischen den Mühlsteinen von Eugenik, Rassenhygiene und Sozialdarwinismus pulverisiert, die in die Medizin und Naturwissenschaften Einzug hielten.

Nach Auffassung Alexander Tilles (1866-1912), der zu den radikalsten Sozialdarwinisten gehörte, sollte die Fortpflanzung "Schwacher" begrenzt und die natürliche Auslese wiederhergestellt werden. Weiter trat er für "Sozial-Euthanasie" durch ein Hinabsinkenlassen von Schwachen auf die unterste soziale Stufe ein, da dort die Sterblichkeitsrate besonders hoch sei. 1895 veröffentlichte er eine Studie über Darwin und Nietzsche, in der er erstmals den Dualismus eines "werthaften" und eines "wertlosen" Lebens vertrat.

Alfred Ploetz prägte ab 1895 den Ausdruck "Rassenhygiene", der synonym für den 1883 von Francis Galton verwendeten Terminus "Eugenik" stand. Für Ploetz hatte das "Rassewohl" im sozialdarwinistischen Sinn eindeutigen Vorrang vor dem Einzelwohl. Ebenfalls 1895 postulierte Adolf Jost, daß der individuelle Anspruch hinter die Interessen der Gesellschaft zurückzutreten habe, womit utilitaristische Interessen zum absoluten Maßstab erhoben wurden. Zentrale Bedeutung in Josts Argumentation hat der Begriff "Wert des Lebens", der sich aus dessen Wert für den Einzelnen und dem Nutzen des Individuums für seine Mitmenschen zusammensetzt. Aus Perspektive der Gesellschaft füge der unheilbar Kranke ihr materiellen Schaden zu. Zusammen mit dem "Mitleid" gegenüber dem Kranken sei sein Tod zu fordern, was auch die Tötung "Geisteskranker" legitimiere.

Unter dem Einfluß Karl Bindings und Alfred Hoches erreichte die Diskussion um die "Euthanasie" im frühen 20. Jahrhundert ihren eigentlichen Höhepunkt. Ihre Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" beflügelte die "Euthanasie"-Debatte in der Weimarer Republik und bereitete die Verbrechen des NS-Regimes in entscheidendem Maße vor. Binding erwägt, Tötungshandlungen unter bestimmten Umständen als Heileingriffe gesetzlich zuzulassen. Nach Ansicht Hoches gibt es Menschenleben, "die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat". Intellektuelles Niveau und Gefühlsregungen dieser Menschen seien mit denjenigen von Tieren zu vergleichen. Ein "geistig Toter" sei nicht imstande, einen subjektiven Anspruch auf Leben zu erheben. Insoweit sei die Beseitigung eines "geistig Toten" einer sonstigen Tötung nicht gleichzusetzen. Auch dies eine Diskussion von aktuell anmutender Brisanz, wenn man etwa an die Hirntoddebatte in der heutigen Transplantationsmedizin denkt.

Was hier anhand der Kernaussagen einiger führender Vordenker und Wegbereiter der "Euthanasie" angerissen wurde, war keineswegs ein marginaler Seitenarm der damals vorherrschenden Ideologie. Es handelte sich vielmehr um einen der dem eigenen Verständnis nach modernsten und innovativsten Ansätze des Übertrags wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Gesellschaft. Obgleich die daraus abgeleiteten Praktiken aus Sicht der Machthaber noch nicht mehrheitsfähig waren, weshalb ein ausgeklügeltes System der Verschleierung zur Anwendung kam, kann man doch von einem Zeitgeist sprechen, in dessen Strömung insbesondere der NS-Staat manövrierte.

Die Mehrheitsmeinung, wonach das NS-Regime die klinische Forschung auf kriminelle Weise mißbraucht und die Medizin pervertiert habe, ist im Lichte dieser Forschungsergebnisse kritischer Historiker so wenig haltbar wie die Generalabsolution, das deutsche Volk sei damals durchweg verführt, getäuscht und betrogen worden. Wenngleich damit bestimmte Strategien der NS-Herrschaft angesprochen sind, blendet diese Sichtweise doch die massenhafte Beteiligung an einem binnen weniger Jahre wiedererstarkenden Deutschland wie auch die Inkaufnahme der zwangsläufig damit verbundenen Opfer aus. Für die wissenschaftlichen Funktionseliten galt jedenfalls, daß sie an der "Euthanasie" freiwillig, oftmals sogar begeistert mitwirkten, weil dies ihrer eigenen Ideologie entsprach. Der Paradigmenwechsel von einer streng kurativen zu einer eugenischen, prophylaktischen Medizin hatte längst stattgefunden, so daß Heilen und Vernichten im Selbstverständnis der am Krankenmord beteiligten Ärzte zu Kehrseiten ein und derselben Medaille wurden.

Titel des Vortrags von Astrid Ley als Projektion - Foto: 2014 by Schattenblick

Foto: 2014 by Schattenblick

Phasen eskalierender Menschenvernichtung

Bei der folgenden inhaltlichen Gliederung der NS-"Euthanasie" handelt es sich um die Darstellung verschiedener Phasen, die auseinander hervorgingen oder einander überschnitten. Der gesamte Prozeß eskalierender Vernichtung macht dreierlei deutlich: Bei der Auslöschung "unwerten" Lebens kreuzte sich "rassenhygienische" Ideologie mit ökonomischem Kalkül. Die Arbeitsfähigkeit war durchweg ein wesentliches Kriterium der Selektion, was angesichts des wachsenden Bedarfs an Arbeitskräften in der Kriegsproduktion Einfluß auf die Auswahl der Opfer hatte. Und nicht zuletzt erforderte die Menschenvernichtung eine Expertise, die im Zuge der "Euthanasie"-Aktionen erst entwickelt werden mußte. Grundsätzlich galt, daß man insbesondere in der Anfangsphase Geheimhaltung für geboten hielt, um möglichen Widerständen in der eigenen Bevölkerung wie seitens des Auslands keine Angriffsfläche zu bieten.

Wesentliche rechtliche Voraussetzungen schufen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, das zur massenhaften Zwangssterilisation führte, wie auch die Nürnberger Rassengesetze, die neben dem Ausschluß der Juden von den Bürgerrechten vor allem Maßnahmen der von Ärzten kontrollierten öffentlichen Gesundheitspflege vorsahen. Anzeichen sprechen dafür, daß Reichsärzteführer Wagner schon 1935/36 mit dem Leiter des Rassenpolitischen Amtes über konkrete "Euthanasie"-Maßnahmen diskutierte. Wegen befürchteter innen- und außenpolitischer Schwierigkeiten zögerte man jedoch mit der Ausführung eines solchen Programms.

Die Kinder-"Euthanasie" von 1939 bis 1945 bildete dann den Auftakt zur Massenvernichtung. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der sogenannte Fall Kind K. noch vor Kriegsbeginn der Auslöser für die Umsetzung des "Euthanasie"-Programms. Die Eltern des Kindes hatten sich mit einem Gnadentodgesuch an die Kanzlei des Führers (KdF) gewandt. Der Begleitarzt Hitlers, Brandt, veranlaßte die Ermordung des Kindes, worauf Hitler befahl, daß in vergleichbaren Fällen ebenso zu verfahren sei. Dieser in Form eines Geheimerlasses erfolgte Befehl ist die einzige vermeintliche Rechtsgrundlage, auf deren Grundlage bis zum Kriegsende "Euthanasie" praktiziert wurde. Eine offizielle gesetzliche Grundlage gab es zu keiner Zeit, zumal das Strafgesetzbuch aktive Sterbehilfe sogar verbot.

Die konkrete Umsetzung des Programms wurde in der KdF von Werner Heyde, Philipp Bouhler, Karl Brandt, Leonardo Conti, Herbert Linden und weiteren Psychiatern vorbereitet. Eine beratende Kommission erhielt den Auftrag, die Tötung der kranken Kinder zu organisieren. Ab dem 18. August 1939 verlangte der sogenannte Runderlaß des Reichsministers des Innern, Kinder mit bestimmten Behinderungen zu melden, wobei insbesondere Hebammen und Ärzte in Entbindungsheimen meldepflichtig waren. Bis Kriegsende wurden bis zu 10.000 Kinder getötet.

Die Erwachsenen-"Euthanasie" begann am 21. September 1939 mit einem Erlaß zur Erfassung sämtlicher psychiatrischer Anstalten. Zeitgleich wurden im Osten bereits mehr als 10.000 psychisch Kranke durch Erschießungen oder Gas ermordet. Die "Aktion T4" mit ihren zentral durchgeführten Gasmorden von Januar 1940 bis August 1941 sowie die folgende dezentrale oder teilweise zentral gesteuerte Medikamenten-"Euthanasie" oder Tötung durch Unterernährung von September 1941 bis 1945 waren Schwerpunktthema des ersten Berichts zum Workshop.

Der Protest des Evangelischen Landesbischofs Theophil Wurm am 19. Juli 1940, vor allem aber die Predigt des katholischen Bischofs von Münster, Clemens August Kardinal Graf von Galen, am 3. August 1941, werden als mitursächlich für den offiziellen Abbruch der "Aktion T4" angesehen. Die Stellungnahme hoher kirchlicher Würdenträger gegen die Patiententötung hinterließ ihre Spuren unter den Gläubigen. Das Regime registrierte den Bruch der Geheimhaltung und die Beunruhigung der Bevölkerung offenbar mit Besorgnis, zumal die Ausweitung des Krieges unmittelbar bevorstand. Ein weiterer Grund, die "Aktion T4" zu beenden, könnte der Bedarf an Tötungsspezialisten gewesen sein, die bei den systematischen Selektionen in den Konzentrationslagern wie auch bei der Ermordung von Juden in Vernichtungslagern dringend benötigt wurden.

Im folgenden soll als drittes Element dieses Komplexes die Invaliden- oder Häftlings-"Euthanasie", bekannt als "Aktion 14f13" von April 1941 bis Dezember 1944 thematisiert werden, die sich wiederum in zwei zeitliche Phasen untergliedern läßt. Die "Aktion Brandt" von Juni 1943 bis 1945, in deren Rahmen Heil- und Pflegeanstalten für den infolge des zunehmenden Luftkriegs steigenden Bedarf an Ausweichkrankenhäusern in Beschlag genommen und die Patienten in besonderen Anstalten konzentriert wurden, wird von der neueren Forschung nicht mehr unmittelbar dem "Euthanasie"-Komplex zugerechnet.

Im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Astrid Ley
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die "Aktion 14f13" in den Konzentrationslagern

Die Historikerin Dr. Astrid Ley ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und ausgewiesene Expertin der Geschichte der "Euthanasie"-Verbrechen im NS-Staat. Ihre Publikationen thematisieren Medizinverbrechen in den Konzentrationslagern, aber auch die "Euthanasie"-Mordaktionen wie "T4", die dezentral organisierten Krankenmorde 1942 bis zum Kriegsende oder die Kinder-"Euthanasie". Seit mehreren Jahren forscht Astrid Ley zu der allgemein wenig bekannten Mordaktion "14f13" in den Konzentrationslagern, der zwischen 1941 und 1943 über 10.000 Gefangene zum Opfer fielen. Im Rahmen des Workshops "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus", der am 7./8. Februar 2014 in der Evangelischen Stiftung Alsterdorf und der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stattfand, hielt Ley den Eröffnungsvortrag, in dem sie die "Aktion 14f13" im Licht aktueller Forschungsergebnisse darstellte.

Bei der Bezeichnung "14f13" handelt es sich um ein Aktenzeichen, das von der Verwaltungsdachbehörde der Konzentrationslager im deutschen Machtbereich verwendet wurde und aufgeschlüsselt Tötung durch Gas bedeutet. Wie die Referentin hervorhob, wurden die Opfer in denselben Anstalten ermordet, die im Zuge der "Aktion T4" errichtet worden waren, so daß man im Grunde von einer Fortsetzung sprechen kann. In der Literatur würden verschiedene Gründe für die "Aktion 14f13" genannt: Zum einen zieht man eine Verbindung zum beginnenden Genozid an den Juden, dem in den Konzentrationslagern die Herausbildung einer entsprechenden Mentalität vorausgegangen sei. In der Tat handelt es sich bei der "Aktion 14f13" um die erste systematische Massenmordaktion in Konzentrationslagern. Andererseits ging es auch darum, sich der arbeitsunfähigen Lagerhäftlinge zu entledigen und den Funktionswandel der Konzentrationslager im Zusammenhang mit der Kriegswirtschaft vorzubereiten.

Die "Aktion 14f13" sei wahrscheinlich von Heinrich Himmler initiiert worden, der 1941 beim KdF-Leiter Philipp Bouhler die Möglichkeit erwirkte, Einrichtungen und Personal der "Aktion T4" für das KZ-System zu nutzen. Das Ziel war die Vernichtung von Häftlingen, die als körperlich oder seelisch Kranke arbeitsunfähig waren. Die Auswahl der Opfer sollten psychiatrische Gutachter vornehmen, die bereits bei der "Aktion T4" umhergereist waren, um Psychiatrieinsassen zu selektieren. Wiederum wurden die in Aussicht genommenen Opfer zunächst durch Meldebögen erfaßt, die nun die KZ-Kommandanturstäbe vor Ort auszufüllen hatten.

Es fand also eine Vorselektion durch die örtlichen Kommandanturen statt, wobei sich die SS in einigen Lagern die Arbeit erleichterte. Sie forderte die schwachen und kranken Häftlinge auf, sich zu melden, da man sie in ein Erholungslager verlegen wolle. Die vorab ausgewählten Häftlinge wurden dann der Gutachterkommission zur eigentlichen Ausmusterung vorgeführt. Die Gutachter komplettierten die Meldebögen, auf deren Grundlage vor Ort die Entscheidung gefällt wurde. Im Unterschied zur "Aktion T4" fand also keine Oberbegutachtung dieser Bögen in der Zentrale statt. Diese war jedoch insofern eingebunden, als die ausgefüllten Bögen nach Berlin geschickt wurden. Die "T4"-Zentrale fertigte daraus Deportationslisten, nahm den Schriftverkehr mit den Tötungsanstalten und den Konzentrationslagern auf und organisierte den Transport der Häftlinge in die Tötungsanstalten, so die Referentin.

Die ausgesuchten Häftlinge wurden in den drei Tötungsanstalten Sonnenstein, Hartheim und Bernburg mit Giftgas ermordet, wobei dies anfangs zeitgleich mit der noch laufenden "Aktion T4" geschah. Die Begutachtung der Sterbefälle übernahmen die Konzentrationslager selber, wobei der Anschein erweckt wurde, daß der Tod im Lager eingetreten sei.

Obwohl die Selektion der Opfer bei der "Aktion 14f13" den Ärzten der "T4"-Organisation übertragen wurde, versuchte die Inspektion der Konzentrationslager (IKL) als zuständige Dienststelle der SS, die Auswahl der zu tötenden Häftlinge zu steuern. Auf dem Wege mündlicher Anweisungen oder durch Rundschreiben an die Kommandanten gab die IKL offenbar die Anzahl der den Gutachtern in den einzelnen Lagern zu präsentierenden Häftlinge genau vor. Im Frühjahr 1942 erging die Anweisung, nur mehr irreversibel arbeitsunfähige Kranke vorzustellen, da jede Arbeitskraft erhalten werden müsse. Gut ein Jahr später schränkte ein weiteres Rundschreiben die Mordaktion zusätzlich ein, da künftig nur noch "geisteskranke" Häftlinge ausgemustert werden sollten, während man alle anderen Kranken zur Arbeit heranzog. Damit wurde, so die These der Referentin, die wohl schon Ende 1942 ausgelaufene "Aktion 14f13" offiziell beendet.

Begonnen hatte sie im April 1941 mit einer Reihenuntersuchung im KZ Sachsenhausen. Da einer der "T4"-Gutachter, der Psychiater Friedrich Mennecke, von seinen Kommissionsreisen täglich ausführliche Briefe an seine Ehefrau schrieb, ist recht gut dokumentiert, wann in welchen Lagern wie viele Häftlinge selektiert wurden. Ley führte anhand der einzelnen Stationen dieser mörderischen Gutachtertätigkeit dezidiert aus, wie viele Gefangene jeweils aus welchen Gruppen von Häftlingen ausgewählt wurden und welchem Anteil an der Gesamtbelegung das entsprach. Daran lasse sich ablesen, daß zu Anfang der "Aktion 14f13" tatsächlich eine von medizinischen Kriterien definierte Selektion vorherrschte. Zugleich werde deutlich, daß lokale KZ-Verwaltungen die Aktion sicher mit Billigung der IKL für eigene Zwecke nutzten. Bald habe man die Selektion auch ohne Mitwirkung externer Gutachter vorgenommen, wobei sich auch die Spezifika einzelner KZs bei der Selektion hinsichtlich der jeweils maßgeblichen Zwecke anhand dieses Datenmaterials erschließen lassen.

Im Jahr 1942 galten schließlich auch für die "Aktion 14f13" neue Rahmenbedingungen, da das Scheitern der Blitzkriegsstrategie einen Funktionswandel der Konzentrationslager nach sich zog. Die IKL wurde in das Wirtschaftsverwaltungshauptamt eingegliedert, worauf man wenig später den Arbeitsaufgaben der Lager Priorität einräumte. Nach April 1942 fanden keine Besuche der "T4"-Ärztekommission mehr statt, und ab Frühjahr 1943 setzte die IKL der "Aktion 14f13" offiziell ein Ende. Die gezielte Ermordung kranker KZ-Häftlinge wurde jedoch unter anderem Vorzeichen weiter fortgesetzt, so die Referentin.

Zusammenfassend lasse sich die "Sonderbehandlung 14f13" als eine von Himmler initiierte und von der IKL zentral gelenkte Mordaktion auffassen, bei der sich die Lager ihrer arbeitsunfähigen Kranken und anderer mißliebiger Häftlingsgruppen entledigten. Die Auswahl der zu Tötenden war jederzeit von den Prioritäten der Lager und der IKL bestimmt, während der Einsatz von Ärzten und Psychiatern der "Aktion T4" nur die Funktion einer externen Legitimierung gehabt habe. Der in der Kanzlei des Führers angesiedelte "T4"-Apparat wechselte später in das SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt über, worauf die im Zuge der "Aktion Reinhard" erfolgte Ermordung der ins Generalgouvernement deportierten Juden die Vernichtung in noch ungeheuerlicherem Ausmaß betrieb. Sie würde die "Aktion 14f13" als einen Zwischenschritt interpretieren, der diesen Übergang einleitet, bewirkt und zum Ausdruck bringt, schloß die Referentin ihren Vortrag.

Astrid Ley im Vortrag - Foto: © 2014 by Schattenblick

Erforscht Morde an Opfern der Selektion in Konzentrationslagern
Foto: © 2014 by Schattenblick

Arbeit macht frei?

Die zynisch-mörderische Drohung "Arbeit macht frei" über dem Eingang der Konzentrationslager verweist darauf, daß diese nicht per se Stätten sofortiger Vernichtung waren. Sie wurden zunächst als Arbeitslager betrieben, in denen die Zwangsarbeit anfangs dem Lageraufbau und den SS-Betrieben diente. Ab 1942 wurden die Häftlinge in großem Stil an die private Wirtschaft vermietet, ohne daß sich ihre Lebensbedingungen deswegen entscheidend verbessert hätten. Allenfalls verschaffte die Vernichtung durch Arbeit den Häftlingen einen befristeten Aufschub gegenüber der unmittelbaren Ermordung durch Gas, Erschießung oder medizinische Experimente, wobei letztere sich über gewisse Fristen erstrecken konnten.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf, die auch ein Diskussionsteilnehmer aufwarf: Wie konnte man Zehntausende Menschen auf derartige Weise gefangenhalten, obgleich nur ein Minimum an Wachpersonal zur Verfügung stand? Es sind bekanntlich nur sehr wenige Häftlingsaufstände dokumentiert, obwohl man belegen kann, daß die Insassen nach einer gewissen Zeit wußten, daß selektierte Mithäftlinge in Tötungsanstalten gebracht wurden. Dieses System konnte nur im Sinne seiner Betreiber funktionieren, wenn jeder einzelne dieser Menschen noch einen Rest Hoffnung hegte, er selbst werde der Hölle entkommen.

Die Logistik der Massenvernichtung, die auf seiten der Täter erst über eine Reihe von Zwischenschritten entwickelt, erprobt und ausgeweitet werden mußte, bediente sich nicht zuletzt eines ausgeklügelten Verfahrens der Täuschung, das nicht nur mittels eines Arsenals grausamer Strafen, sondern auch fiktiver Aussichten auf erfolgreiche Anpassung an das Zwangssystem oder Verlegung in weniger grausam geführte Lager arbeitete.

Welche Korrespondenzen dem auf seiten der Opfer entsprachen und aus welchen Quellen sich deren Hoffnung speiste, selbst im Angesicht der Vernichtung Rettung zu finden, die nicht auf kollektivem Widerstand gründete, ist ein nahezu unerforschter Aspekt der Lagerhaft. Was sich hinsichtlich der Beteiligung verschiedener Berufsstände an der Menschenvernichtung nachweisen läßt, die ihren Vorteil im Dienst an der Ausübung von Herrschaft suchten, gilt es unter umgekehrtem Vorzeichen im Millionenheer jener Menschen aufzuspüren, die bis zur Stunde ihrer Ermordung beherrschbar blieben.

Inschrift 'Der nach Blutschuld fragt, gedenkt der Elenden und vergisst nicht ihr Schreien' - Foto: © 2014 by Schattenblick

Oberer Teil des Gedenksteins zur Erinnerung an die Euthanasieopfer in den damaligen Alsterdorfer Anstalten
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnote:

Bisherige Beiträge zum Workshop "Euthanasie - Die Morde an Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → REPORT:

BERICHT/008: Berufsstand und Beteiligung - Die im Schatten sieht man nicht ... (SB)
INTERVIEW/015: Berufsstand und Beteiligung - Spuren der Täuschung, Christl Wickert im Gespräch (SB)

4. April 2014