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WERKSTATT/277: Interessenvertretung von Beschäftigten im europäischen Vergleich (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2014

Interessenvertretung von Werkstatt-Beschäftigten im europäischen Vergleich

Von Kathrin Völker und Claudia Fischer



300.000 Menschen mit Behinderung, die aufgrund einer schwerwiegenden Beeinträchtigung vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind, finden in Deutschland Perspektiven und Arbeitsangebote in Werkstätten für behinderte Menschen. Wie ist die Interessenvertretung der Werkstattbeschäftigten organisiert?


Der Werkstattrat vertritt die Interessen der in Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderung gegenüber der Geschäftsführung des Sozialunternehmens. Er wird alle vier Jahre gewählt. Wie viele Werkstatträte pro Werkstatt gewählt werden, hängt von der Zahl der Beschäftigten ab. Der Werkstattrat besteht aus mindestens drei Mitgliedern, ab 200 Wahlberechtigten aus fünf Mitgliedern, bei mehr als 400 Wahlberechtigten aus sieben Mitgliedern. Dies und viele weitere Rechte und Pflichten des Werkstattrates sind in der Werkstättenmitwirkungsverordnung - kurz WMVO - in 41 Artikeln detailliert geregelt. 2001 ist die Verordnung in Kraft getreten.

Der Werkstattrat wird durch eine von ihm gewählte Vertrauensperson unterstützt. Die Vertrauensperson gehört organisatorisch weder der Leitungsebene noch dem Betriebsrat an. Oft werden Werkstatträte in ihrer Funktion mit Betriebsräten gleichgesetzt. Zwischen den Vertretungen gibt es jedoch entscheidende Unterschiede. Zentral ist der Rechtsstatus. Werkstattbeschäftigte sind Rehabilitanden und keine Arbeitnehmer. Deshalb stehen sie in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis zur Werkstatt. Diesem besonderen Verhältnis wird durch weitreichende Schutzrechte der Beschäftigten entsprochen, beispielsweise müssen Werkstattbeschäftigte keine Kündigung fürchten. Der Arbeitsplatz wird an die Anforderungen der Menschen angepasst und nicht umgekehrt der Mensch an die Arbeit.

Derzeit wird in bundesdeutschen Werkstätten diskutiert, wie die Selbstvertretung der Werkstattbeschäftigten weiterzuentwickeln ist: Mitwirkung oder Mitbestimmung? Der Bundesverband der Werkstatträte und einige Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte (LAG WR) setzen sich für Mitbestimmung ein, die über die Anhörungs- und Informationsrechte der Mitwirkung hinausgeht.


Wie wird "Mitwirkung" in anderen europäischen Ländern verwirklicht?

Über den nationalen Tellerrand zu schauen ist hilfreich, um den Blick für die Organisation von sozialen Leistungen und Strukturen im eigenen Land zu schärfen. Jedes Land hat seine eigene Form von Teilhabe und Förderung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben gefunden. Über die Jahre sind Strukturen gewachsen und Einrichtungen der Behindertenhilfe entstanden, die sich von Land zu Land unterscheiden.

Hinter dem Begriff "geschützte Werkstätten" verbergen sich in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) verschiedenste Konzepte. Die Mehrheit der Beschäftigten in deutschen Werkstätten würden in anderen Ländern Einrichtungen besuchen, deren Angebote mit denen von Tagesförderstätten vergleichbar sind. So bedarf es im europäischen Vergleich einige Zeit, bevor man sich ein Bild von den Angeboten der anderen Länder machen kann. Denn zuerst muss immer geklärt werden, für wen die Leistungen angeboten werden, welchen Unterstützungsbedarf die Nutzer haben.

Die deutsche Arbeit der Werkstatträte geht über den Wirkungskreis der jeweiligen Werkstatt hinaus. Werkstatträte sind in den Bundesländern auf Landesebene organisiert. Aus diesen Gremien werden Vertreter für die Bundesvereinigung der Werkstatträte (BVWR) gewählt. Diese Vertretung der Werkstatträte auf Landes- und Bundesebene, wie sie sich in Deutschland etablieren konnte, ist in Europa einzigartig. In Österreich gibt es zwar Werkstatträte. Sie sind aber ausschließlich in der jeweiligen Werkstatt aktiv und nicht überregional oder sogar bundesweit.

In Frankreich gibt es Einrichtungen, die mit den deutschen Werkstätten vergleichbar sind. Was jedoch fehlt, sind gesetzliche Vorgaben für die Mitwirkung von Beschäftigen, wie etwa die deutsche Werkstätten-Mitwirkungsverordnung. Dennoch sind Verbände und Werkstattträger daran interessiert, dass sich Beschäftigte selbst vertreten. So existiert in jeder Einrichtung für behinderte Menschen ein "Conseil de la vie sociale", ein Rat des sozialen Lebens.

In Skandinavien richten sich berufliche Teilhabeangebote an Menschen mit einem niedrigeren Unterstützungsbedarf als in Deutschland. Meist firmieren die Unternehmen als GmbH und sind somit verpflichtet einen Betriebsrat wählen zu lassen. In diesen können Arbeitnehmer mit und ohne Behinderung gewählt werden. Die Praxis bestätigt: dieser "inklusive" Betriebsrat funktioniert. Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung werden gewählt.

Auch in Spanien gibt es keine Werkstätten, sondern Integrationsunternehmen, die als GmbH firmieren. Daneben existieren Fördereinrichtungen mit Selbstvertretungen ähnlich einem Wohnrat. In Italien wiederum existieren verschiedene Unternehmensarten, die Arbeit für Menschen mit Behinderung organisieren. Manche sind GmbHs, andere Genossenschaften. Damit ist die Mitwirkungssituation disparat.

Einige Betriebe der Lebenshilfe in Südtirol praktizieren eine Art Selbstvertretung. In den neuen EU-Mitgliedsstaaten konnten sich viele Werkstätten nach deutschem Vorbild etablieren, so z. B. in Polen. Aber dort bedarf es noch einiger Zeit und Entwicklung, bis ein Modell wie der Werkstattrat eingeführt werden kann.

Seit vielen Jahren unterstützt die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) die Werkstatträte in Deutschland darin, die aufgebauten Strukturen ihrer Interessenvertretung weiterzuentwickeln und zu festigen. Dass soziale Errungenschaften nicht selbstverständlich und vor allem nicht unauflösbar sind, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Im Zuge der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen wurden dort Werkstätten abgeschafft - inklusive der darin enthaltenen Strukturen der Interessenvertretung der Beschäftigten.

Alle Menschen mit Behinderung sollen auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein. Doch was ist mit denjenigen, denen der allgemeine Arbeitsmarkt aufgrund ihrer Behinderung keinen Zugang bietet? Für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf entfällt somit sowohl die Teilhabe am Arbeitsleben als auch die Möglichkeit, an der Gestaltung der Arbeitswelt mitzuwirken und ihre Wünsche und Kompetenzen einzubringen.

BAG WfbM Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V.

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Quelle:
Selbsthilfe 3/2014, S. 20-21
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2015


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