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TAGUNG/276: Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Januar 2012

Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen
Gehirnzellen können sich selbst reparieren

von Silja Harrsen


"Wir befinden uns in einer spannenden Phase mit sprunghaften Entwicklungen", sagte Dr. Martin Falkenberg bei der zweiten Fachtagung des Arbeitsfeldes Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen in Bielefeld-Bethel. Noch bis in die 1990er-Jahre hinein stand fest, dass zerstörte Nervenzellen im Gehirn sich nicht regenerieren können. "Das ist mittlerweile widerlegt", so der leitende Neurologe des Zentrums für ambulante Rehabilitation Bielefeld. Er war einer der Referenten bei der Veranstaltung.


Die Wissenschaft ist weitergekommen. Durch moderne bildgebende Verfahren, wie die Positronen-Emissions-Tomografie (PET), ist es ihr möglich, dem Gehirn bei der Arbeit zuzuschauen. "Der Patient kommt in die Röhre und löst bestimmte Aufgaben", so Dr. Falkenberg vor den rund 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Assapheum. Wo und wie stark das Gehirn bei der Bewältigung der Aufgaben aktiv ist, zeigt sich anhand von erhöhten Stoffwechselprozessen und verändertem Blutfluss in einem Hirnareal. Auf Basis der neuen neurowissenschaftlichen Erkenntnisse können Therapien entwickelt werden, die auch Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen (MEH) zugutekommen.

Die Forschung weiß mittlerweile, dass das Gehirn auf Veränderungen, wie eine Verletzung, reagieren kann. Neuronale Plastizität heißt die Fähigkeit der Gehirnzellen, sich neu zu organisieren, Funktionen wiederherzustellen und sich sogar selbst zu reparieren. Durch gezieltes Üben können verloren geglaubte Funktionen, wie die Lähmung eines Arms nach einem Schlaganfall, rückgängig gemacht werden.


Spiegeltherapie

Dazu bedient man sich unter anderem der Spiegeltherapie, mit der das Gehirn überlistet wird. Der Spiegel wird vor dem Patienten auf Körpermitte platziert und verdeckt die gelähmte Hand. Wenn der Patient den gesunden Arm bewegt, entsteht beim Blick in den Spiegel der Eindruck, die andere Hand vollführe die Übung. "Das Gehirn wird durch die Beobachtung stimuliert und lernt, die kranke Hand wieder zu bewegen", erläutert Dr. Martin Falkenberg das Phänomen, bei dem das Gehirn einer Täuschung aufsitzt. Bei allem wissenschaftlichen Fortschritt und den Möglichkeiten neuer Therapieformen in der Rehabilitation von Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen warnt Dr. Martin Falkenberg jedoch vor überzogenen Hoffnungen. Wenn das Gehirn sehr stark verletzt ist, sind die Chancen auf Wiederherstellung weiterhin gering.

Nur wenige Erkrankungen haben so dramatische Folgen für die Betroffenen und ihre Angehörigen wie schwere Hirnschädigungen. Erst durch die Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin überleben die Betroffenen die Folgen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas, eines Schlaganfalls oder einer Hirnblutung. Pro Jahr erleiden rund 270.000 Menschen in Deutschland eine Hirnschädigung. Davon behalten 25.000 bleibende Schäden.

"Erstaunlich spät hat man sich gefragt, wie es den Menschen eigentlich ergeht, die so ein Ereignis hatten", stellte Prof. Dr. Claudia Wendel in ihrem Referat zur Lebensqualität und psychischen Belastung von Betroffenen und Angehörigen fest. "Eine Studie in Amerika hat 13.000 US-Veteranen mit Schädel-Hirntrauma untersucht. Die Rate derer, die Angststörungen und Depressionen aufwiesen, war sehr hoch", so die Psychologin mit Lehrstuhl an der Universität Magdeburg-Stendal.

Ob Menschen trotz schwerer Hirnschädigungen selbstbestimmt leben können, wie es die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in einem Positionspapier fordern, ist Gegenstand einer theologisch-philosophischen Betrachtung von Prof. Dr. Ulrich Körtner. Der evangelische Theologe schlägt vor, die Begriffe Selbstbestimmung und Autonomie, die oft synonym verwendet werden, im Krankheitsfall durch Souveränität zu ersetzen. "Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann", definiert Prof. Körtner. Dieser Gedanke berühre sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren könnten, so der Lehrstuhlinhaber der Universität Wien, der auch Mitglied des Betheler Verwaltungsrates ist.


Besonderes Netzwerk

Hilfsbedürftigkeit gehöre wie die Hilfsbereitschaft zu den grundlegenden Merkmalen menschlichen Lebens, sagte Prof. Körtner. "Der Verlust unseres Intellektes und unseres persönlichen Erinnerungsvermögens bedeutet nicht Verlust unserer Identität." Daher sei auch der Mensch im Wachkoma als Subjekt zu behandeln und nicht als Objekt. "Alles, was ein menschliches Antlitz trägt, ist in die menschliche Kommunikationsgemeinschaft einzubinden, unabhängig davon, in welchem Ausmaß solche Kommunikation gelingt", so die Forderung.

"Der Riss in der Biografie ist das einzige, was Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen gemeinsam haben. Für keine andere Gruppe von Nutzerinnen und Nutzern müssen die Angebote so individuell und maßgeschneidert sein wie für diese", sagte Prof. Dr. Ingmar Steinhart, Geschäftsführer im Stiftungsbereich Bethel.regional. Vieles habe sich verbessert in den vergangenen Jahren, die Akutversorgung, die Therapien und die mediale Aufmerksamkeit. "Nur die Refinanzierung der Kosten bleibt weiterhin ein Problem, und es gibt keine Hoffnung, dass sich bald etwas ändert", kritisierte Prof. Steinhart.

Vor rund 15 Jahren eröffnete Bethel die erste stationäre Gruppe für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen in Bielefeld-Eckardtsheim. Mittlerweile nimmt Bethel mit seinem Netzwerk "Weiterleben" und den darin eingebundenen 240 stationären, teilstationären und ambulanten Plätzen in Ostwestfalen, im Ruhrgebiet und Rheinland bundesweit eine Spitzenstellung ein. In wenigen Wochen eröffnet Bethel eine weitere Einrichtung speziell für Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen - das Bodelschwinghhaus im brandenburgischen Reichenwalde.


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Quelle:
DER RING, Januar 2012, S. 16-17
Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2012