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TAGUNG/263: Wohnen mit "autistischer Kultur" (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - November 2009

Fachtagung in Bielefeld-Bethel
Wohnen mit "autistischer Kultur"

Von Gunnar Kreutner


Die Anforderungen an Wohneinrichtungen für Menschen mit Autismus standen Mitte Oktober im Fokus einer Tagung in Bielefeld-Bethel. Bei der Veranstaltung des Bundesverbandes autismus Deutschland e.V. im Assapheum präsentierten und diskutierten Experten die neuesten Erkenntnisse, insbesondere für Wohnheime, in denen schwer und mehrfach behinderte Menschen mit autistischen Störungen leben.


Die Fachleute waren sich einig, dass viele Wohnangebote Menschen mit Autismus nicht gerecht werden. Die Einrichtungen nehmen zu wenig Rücksicht auf die individuellen Bedürfnisse und komplexen Beeinträchtigungen der Bewohnerinnen und Bewohner. Der Sozialpädagoge Stefan Müller-Teusler wies darauf hin, dass die meisten betroffenen Menschen erhebliche zusätzliche Beeinträchtigungen und Erkrankungen hätten. Sie litten zum Beispiel an Verhaltensstörungen oder Epilepsie, aber auch unter Ängsten, Stereotypen und Zwängen. "Darum sind spezielle Wohnangebote notwendig, die dem gerecht werden", sagte Stefan Müller-Teusler, der selbst Leiter eines Wohnheims im niedersächsischen Hitzacker ist.

Wie die ideale Wohneinrichtung aussieht, beschrieb Prof. Dr. Michael Seidel, Geschäftsführer im Betheler Stiftungsbereich Behindertenhilfe. Er ist verantwortlicher Projektleiter für das geplante neue Wohnheim für Menschen mit schwersten und mehrfachen Behinderungen und autistischen Störungen in Bielefeld-Bethel. Die Einrichtung mit 24 Plätzen, die bis Anfang 2010 unter dem Projektnamen "Lebenswelt" errichtet wird, vereint für Michael Seidel alle maßgeblichen Prinzipien.


Schutz vor Reizen

Der leitende Arzt des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe unterscheidet unter anderem in Anforderungen an das "physische Wohnsetting", an das Personal und an das Gesamtkonzept des Wohnangebots. Zu den Anforderungen an das physische Wohnsetting gehören die Abschirmung der Wohnung oder des Gebäudes gegen äußere Reize, zum Beispiel durch einen ausreichenden Schallschutz. Aber auch der Schutz vor "sensorischer Überforderung" innerhalb der Einrichtung - verursacht durch Farben, Bilder oder Lärm - ist ihm wichtig. Häufig genüge das Klappern von Geschirr, um Menschen mit Autismus zu verunsichern oder zu irritieren, so seine Erfahrung. Die Wohnangebote sollten zudem auf warme Farben verzichten. Die farbliche Gestaltung des geplanten Lebenswelt-Wohnheims am Ebenezerweg stützt sich auf die wissenschaftliche Erkenntnis, dass Menschen mit Autismus sich in kühlen, beruhigenden Farben wohler und stabiler fühlen.

Weitere Anforderungen an das Wohnsetting sind eine klare Strukturierung der Räumlichkeiten, Orientierungshilfen wie Symbole oder Farbkodierungen, eine eindeutige Funktionszuweisung der Räume und Einrichtungsgegenstände sowie individuelle Rückzugsmöglichkeiten. Gerade Wohnheime für schwer und mehrfach behinderte Menschen mit Autismus müssten in ihrem Konzept sowohl Möglichkeiten zum Rückzug als auch der Gemeinschaft vorsehen, rät Prof. Seidel.


Ruhige Mitarbeitende

Besondere Ansprüche stellt Michael Seidel an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohnheimen für Menschen mit Autismus. Sie sollten mit der "autistischen Kultur" vertraut sein und sie respektieren. Das beginne damit, dass sie die "traditionelle Schmusekultur der Behindertenhilfe" unterlassen müssten, so der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Außerdem sollten Mitarbeitende das eigene Bedürfnis nach Interaktion und Kommunikation den Bedürfnissen der Klienten unterordnen. Mitarbeitende, die von ihrem Wesen her besonders mitteilsam und lebhaft seien, seien für die Arbeit mit autistischen Menschen weniger geeignet.

Bei allen notwendigen räumlichen oder personellen Besonderheiten betont Prof. Michael Seidel, dass das Gesamtkonzept die Teilhabe und ein möglichst selbstbestimmtes Leben der Bewohner unterstützen muss. Die Klienten brauchten unter anderem die Möglichkeit, soziale Erfahrungen zu machen sowie Kontakte und Interaktionen nach ihren Wünschen zu gestalten.

Stefan Müller-Teusler warb für spezielle kleine Wohnheime - mit maximal 40 Plätzen, einer großen Überschaubarkeit mit reizarmer Umgebung und sehr kleinen Wohneinheiten. "Es gibt außerdem kurze Kommunikationswege, gute persönliche Kenntnisse unter den Mitarbeitern, eine stärkere Orientierung am Bedarf, und die Integration in das Wohnumfeld fällt in der Regel leichter", sagte der Wohnheimleiter. Seiner Wunscheinrichtung wird das Betheler Neubauprojekt entsprechen.


Neuer Bedarf im Alter

Kleine Wohnheime haben nach Ansicht des Autismus-Experten den wesentlichen Vorteil, dass sie flexibel auf persönliche Bedürfnisse reagieren können. Da die Bewohnerinnen und Bewohner älter würden, verändere sich auch ihr Hilfebedarf. Insbesondere die Wahrnehmungsverarbeitung der Menschen ändere sich im Laufe ihres Lebens, erläuterte Stefan Müller-Teusler. Die Mitarbeitenden müssten sich auf die älter werdenden Klienten einstellen und fachlich immer "up-to-date" sein. "Es tut sich zum Beispiel viel auf dem Feld der Neuropsychologie bei älteren Menschen mit Autismus", so sein konkreter Hinweis.

Prof. Michael Seidel betonte mit Blick auf das Alter der Bewohner, dass die Anforderungen an die Einrichtung regelmäßig überprüft werden sollten. "Wir müssen schauen, ob sich Faktoren verändern. Eine Maßnahme, die anfangs eine schützende Wirkung für einen Menschen mit Autismus hatte, kann später störend sein."


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Quelle:
DER RING, November 2009, S. 14-15
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2009