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TAGUNG/261: Potsdamer Fachtagung "Gesundheit fürs Leben" (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2009

Fachtagung in Potsdam: Bessere medizinische Versorgung ist notwendig für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung

"Oft haben Ärzte keine Zeit für uns"


Corinna Hast ist Mitglied im Rat der behinderten Menschen in der Lebenshilfe. Sie hat die Tagung "Gesundheitf ürs Leben" mit vorbereitet und auch zu den Teilnehmern gesprochen. Sie ärgert, dass Ärzte oft keine Zeit haben und zu viele Fremdwörter benutzen.


Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung sollen an der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben. Dazu gehört auch, dass sie bedarfsgerecht medizinisch versorgt werden können. Allerdings gibt es noch immer zu wenig Arzte und Kliniken, die ausreichend auf Patienten vorbereitet sind, die sich nur schwer verständlich machen können oder ängstlich reagieren. Zudem ist das Zeitbudget für die Diagnose häufig zu knapp bemessen. Spezielles Fachwissen wird in Aus- und Weiterbildung entweder gar nicht vermittelt oder kommt zu kurz. Das prangerten die mehr als 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung "Gesundheit fürs Leben" an, die für zwei Tage im Kongresshotel Potsdam zusammengekommen waren. Sie verlangten eine bessere medizinische Versorgung für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderuhg und verabschiedeten ein Papier mit 13 Forderungen (siehe Artikel "Potsdamer Forderungen").

Aus ganz Deutschland hatten die Bundesvereinigung Lebenshilfe und die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Arzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung Mediziner, Fachleute der Behindertenhilfe und des Gesundheitswesens, Vertreter der Krankenkassen, Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen nach Potsdam eingeladen. Sie alle haben Erfahrungen mit den Tücken des deutschen Gesundheitssystems gemacht.

Die Potsdamer Forderungen nehmen die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beim Wort. Seit März ist die internationale Ubereinkunft deutsches Recht und garantiert freien Zugang zu Gesundheitsleistungen und ein selbstverständliches Recht auf Gesundheit für alle Menschen, mit und ohne Behinderung.

Nähere Informationen zur Tagung sind im Internet unter www.gesundheitfuersleben.de zu finden.
pb


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Potsdamer Forderungen

Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung sind Teil unserer Gesellschaft. Sie haben verschiedene Fähigkeiten und Begabungen, aber auch besondere Bedürfnisse. Wenn Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung krank werden, finden sie nur schwer ausreichende Hilfe. Es fehlen gut vorbereitete Krankenhäuser, Arztinnen und Ärzte, Therapeutinnen und Theapeuten sowie Angehörige der Gesundheitsfachberufe. Die betroffenen Patientinnen und Patienten und ihre Familien sind damit sehr unzufrieden und allein gelassen.

Die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sichert dagegen einen freien Zugang zu Gesundheitsleistungen und ein selbstverständliches Recht auf Gesundheit für alle Menschen mit Behinderung zu. Seit der Unterzeichnung dieses internationalen Vertrages gelten die Rechte auch in Deutschland.


Die Teilnehmer der Potsdamer Fachtagung "Gesundheit fürs Leben" fordern daher:

Eine gute Regelversorgung, die den ganzen Menschen sieht, muss ausgebaut werden und barrierefrei zugänglich sein für alle Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung.

In der Gesundheitsversorgung müssen der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter und die Bedarfe älterer Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung besonders berücksichtigt werden.

Spezielle Zentren in der ambulanten Versorgung erwachsener Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und spezialisierte Krankenhäuser sind für die Unterstützung der Regelversorgung und für besondere Krankheitsbilder zwingend notwendig. Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Therapeuten und andere Gesundheitsfachberufe sollen dort zusammenarbeiten.

Assistenz und Begleitung durch pädagogische Fachleute oder andere Unterstützer muss bei der ambulanten wie stationären Gesundheitsversorgung gewährleistet sein.

Bei Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen Besonderheiten für den Umfang der Verordnungsfähigkeit von Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln berücksichtigt werden.

Alle im Gesundheitsbereich Tätigen sollen die notwendige Zeit für ihre Patienten mit geistiger oder mehrfacher Behinderung haben und leichte Sprache verwenden.

Gute medizinische Versorgung für Menschen mit schwerster Mehrfachbehinderung stellt eine besondere Herausforderung dar. Hier braucht es neue Wege, Rahmenbedingungen und flexible Lösungen, die sich am einzelnen Menschen orientieren. Angebote der Vorsorge und Rehabilitation für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen ausgebaut werden.

Für einen erhöhten Aufwand und Zeitbedarf bei Diagnostik und Therapie müssen Arzte und Krankenhäuser eine ausreichende Bezahlung erhalten.

Die besonderen Erkrankungsrisiken, Krankheitsbilder und therapeutischen Möglichkeiten von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen in der medizinischen Forschung verstärkt berücksichtigt werden.

Wissen über die Besonderheiten der gesundheitlichen Situation von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung und ihre gesundheitliche Versorgung ist wichtig. Daher muss es Bestandteil in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten, Therapeuten und Angehörigen der Gesundheitsfachberufe sein, umgesetzt in anerkannten Weiterbildungsprogrammen. Dies gilt auch für Mitarbeiter in der Behindertenhilfe.

Lehrstühle für Medizin für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung müssen sowohl für die wissenschaftliche Forschung als auch für Ausbildung und Lehre eingerichtet werden.

Es ist Aufgabe der Politik wie anderer Verantwortungsträger im Gesundheitssystem, verlässliche Regelungen für die medizinhche Betreuung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung zu entwickeln. Diese müssen der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen entsprechen.

Potsdam, 16. Mai 2009


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Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Corinna Hast (Foto,) gehörte mit Prof. Dr. Jeanne Nicklas-Faust, stellvertretende Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, und Dipl.-Med. Verona Mau, Vorsitzende der BAG Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehofacher Behinderung, zum Vorbereitungsteam der Potsdamer Tagung.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2009, 30. Jg., Juni 2009, S. 14
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
Bundesgeschäftsstelle, Raiffeisenstr. 18, 35043 Marburg
Telefon: 06421/491-0, Fax: 06421/491-167
E-Mail: LHZ-Redaktion@Lebenshilfe.de
Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juli 2009