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TAGUNG/257: Eine Welt ohne Behinderung - Vision oder Albtraum? (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - Juni 2009

Lobetaler Fachtag in Erkner
Eine Welt ohne Behinderung - Vision oder Albtraum?

Von Robert Burg


"Natürlich ist eine Welt ohne Behinderung eine Vision", griff Pastor Bernward Wolf den Titel des diesjährigen Lobetaler Fachtags auf. "Nämlich die einer Weit, die die Menschen nicht mehr behindert." Der Bethel-Vorstand war Ende April einer Einladung der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal nach Erkner gefolgt.


Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Hauses Gottesschutz, einer Einrichtung für geistig und mehrfach behinderte Menschen in Erkner bei Berlin, fand der Fachtag "nicht im schönsten Ort Brandenburgs, sondern hier" statt, wie Lobetal-Vorstand Pastor Dr. Johannes Feldmann mit einem Augenzwinkern in Richtung des Bürgermeisters bemerkte. Das Interesse an der Veranstaltung in der Genezareth-Kirche in Erkner war groß. Pastor Feldmann erinnerte daran, dass die Debatte, ob Menschen mit Behinderung fähig seien, Kinder zu haben, nicht mit dem Ende der NS-Zeit abgeschlossen sei. "Als ich in der Diakonie anfing, wurden Kinder von behinderten Menschen ihren Eltern weggenommen und zur Adoption freigegeben", blickte der Lobetal-Leiter zurück. "Ich habe mich oft gefragt: Hätten wir das verhindern können?"

Der Bielefelder Historiker Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl befasste sich mit der gesellschaftlichen Akzeptanz von Behinderung im 20. Jahrhundert. "Der Wandel der Begrifflichkeiten spiegelt auch Praktiken der Ausgrenzung wider." Mit der vollen Entfaltung der industriellen Modernisierung wurden die traditionellen Systeme zur Versorgung behinderter Menschen abgelöst. Im späten 19. Jahrhundert trat der fürsorgende Industriestaat auf den Plan, die wilhelminische Ara war die Hochzeit des Anstaltsbaus in Deutschland. In dieser Zeit setzte sich der Begriff "Krüppel" durch, der für ein halbes Jahrhundert gültig blieb. Als sich die zunächst "Kriegskrüppel" genannten Veteranen des Ersten Weltkriegs als verdiente Vaterlandsverteidiger - und Empfänger staatlicher Fürsorge - von den Menschen mit Behinderung abgrenzen wollten, entwickelte sich eine Drei-Klassen-Gesellschaft: Kriegsinvaliden, arbeitsfähige Krüppel und "Unwertige". Einige Jahre später nahm der NS-Staat die Bezeichnung "körperliche Behinderung" in die Gesetzbücher auf. Pragmatischer Hintergrund: Menschen mit Behinderung wurden als lang vergessene Arbeitsressource erkannt. "Geduldet werden sollten sie nur, solange sie zum Sozialprodukt beitragen konnten", informierte Prof. Schmuhl. Den Übrigen drohte der Tod. 300 000 Menschen mit Behinderung wurden im Dritten Reich ermordet.

Den Grad der Inklusion behinderter Menschen erkenne man am Zugang zu sozialen Ressourcen, so Prof. Schmuhl. Dazu zähle neben Ernährung, Arbeit, Ausbildung und Medizin auch der Zugang zu Medien, Sport und Kultur, zu materiellem Besitz und schließlich zu Partner- und Elternschaft. All diese Ressourcen wurden zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gewichtet. Neu etwa ist die Wertschätzung der Mobilität. "Früher baute man ein Anstaltsgebäude auf einen Berg, mit 22-prozentiger Steigung auf dem Zufahrtsweg, ohne jede Bedenken." Aber auch im heutigen Alltagsverkehr müssen behinderte Menschen viele Klippen bewältigen. "Der Bordstein trennt die Straße vom Bürgersteig - und oft den behinderten Menschen vom Bürger."

Der prägende Lobetaler Anstaltsleiter Paul Braune und sein verzweifelter Kampf gegen die Ermordung von Menschen mit Behinderung stand im Mittelpunkt des Vortrags von Prof. Dr. LeRoy Walters von der Georgetown-University in Washington. Der ehemalige Bush-Berater vergegenwärtigte den rund 180 Tagungsteilnehmenden anhand von Beispielen das menschliche Drama, das sich hinter der von den Nationalsozialisten nüchtern "T4" genannten Euthanasie-Aktion verbarg. Pastor Braune protestierte gegen die Tötung von behinderten Menschen und wandte sich in einer Denkschrift an Hitler.

Unter anderem deshalb wurde der Geistliche von der Gestapo inhaftiert. Ein Beispiel von Mut und menschlicher Größe, faktisch aber ohne Wirkung: Die "Krankentransporte" sollten weitergeführt werden, aber "anständig" vonstattengehen, ließ das Führerhauptquartier verlautbaren. "Deutschland hätte 1940 mehr Menschen wie Braune gebraucht", betonte der US-Wissenschaftler. "Menschen, die sich für ihre wehrlosen Brüder und Schwestern einsetzten, auch wenn sie sich selbst in Lebensgefahr begaben."

Dr. Katrin Grüber vom Institut für Mensch, Ethik und Wissenschaft, Mitveranstalter des Fachtags, referierte über die "Facetten von Eugenik". Die Berliner Wissenschaftlerin prangerte an, dass sich in der Praxis der Pränataldiagnostik oftmals eine negative Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung widerspiegele. Von der Frage "Wer will schon ein behindertes Kind?" wäre es nicht mehr weit bis zu dem Vorwurf an die Eltern eines behinderten Kindes: "Das hätte doch nicht sein müssen." Bedenkliche Auffassungen, so Dr. Katrin Grüber, seien verbreitet. So werde in einer Zeitschrift für einen Trisonomie-Test geworben, der "keine Gefahr für das Kind darstellt". Genaugenommen sei aber das Gegenteil der Fall. "Ist das Ergebnis positiv, treiben 80 Prozent ab." Auch das Europa-Parlament gab jüngst in Form einer Direktive die Empfehlung aus, Kinder mit seltenen Erbkrankheiten nicht zu bekommen. Bis heute kämen eugenische Gedanken in Gesetzesvorstößen immer wieder vor. Deshalb mahnte Dr. Grüber zur Vorsicht: Die Vision einer Welt ohne Behinderung ist für viele immer noch verlockend.


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Quelle:
DER RING, Juni 2009, S. 14-15
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2009