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SPORT/376: Pilotprogramm "Einfach Fußball" - Eigene Grenzen überwinden (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 4/2011

EIGENE GRENZEN ÜBERWINDEN

Kleine Fußballstars - trotz Behinderung!

von Karl Hübner


Sie haben eine Behinderung - und sind trotzdem richtige Fußballspieler. In ihrem Pilotprogramm "Einfach Fußball" ermöglichen die Bayer AG und der Deutsche Fußball-Bund (DFB) Mädchen und Jungen mit geistiger oder Lern-Behinderung den Zugang zum Vereinssport. Zum Beispiel Arne aus Leverkusen.


Arne strahlt bis über beide Ohren. Dreimal hat er hoch in die Luft geköpft. Dann knallt der Ball unvermittelt heftig auf den Wohnzimmertisch und rollt von dort mit Schwung quer durchs Zimmer. Mit erstauntem Blick schaut Arne hinter ihm her. Seine Mutter beobachtet die Szene mit leicht eingezogenem Kopf aus dem Hintergrund. Leise hörbar zieht sie kurz die Luft zwischen den Zähnen ein. Doch sie lässt es geschehen - wie so oft, wenn Arne das Wohnzimmer in Leverkusen-Lützenkirchen zum Fußballplatz umfunktioniert. Gaby Köhler drückt oft beide Augen zu. Hauptsache ihr Sohn ist glücklich. "Das war gut", sagt sie anerkennend. Die Augen des jungen Mannes leuchten. "Jaaaar!", ruft er ein bisschen lauter als normal, beugt seinen Oberkörper nach vorne und presst die Hände zusammen. Eine Geste, mit der er alles Schöne ausdrückt: Freude, Begeisterung und auch Stolz. Fußball ist Arnes Leben.


Mit Geduld und Begeisterung

Das ist für andere Jugendliche nicht ungewöhnlich. Für Arne schon. Er ist 20. Doch seine kognitiven Fähigkeiten liegen weit unter denen seiner Altersgenossen. Rechnen, schreiben, lesen - all das kann er nicht. Denn als er 1991 per Kaiserschnitt auf die Welt kam, musste das Neugeborene wegen einer akuten Sauerstoffunterversorgung tagelang um sein Leben kämpfen. Arne überlebte. Doch von dem Fehlstart erholte sich sein Gehirn nicht. Trotzdem entwickelte sich manches viel besser, als die Ärzte prognostiziert hatten. "Sie sprachen von Schwerstbehinderung und davon, dass mein Sohn niemals laufen kann", erinnert sich Köhler. Doch der "kleine Wikinger", wie ihn ein Kinderarzt nannte, lernte erst ein paar Worte sprechen, später auch gehen - und schließlich sogar rennen. Wie gut er das kann, beweist Arne beim Training im Rahmen der Initiative "Einfach Fußball".

Jeden Freitag trifft er sich mit seinem Team auf dem Rasen des Jugendleistungszentrums Kurtekotten von Bayer 04 Leverkusen. Dort erwartet ihn stets das gleiche Ritual vor der Umkleidekabine, wo seine Fußballkumpel und deren Mütter schon warten. Voller Freude wird Arne abgeklatscht. Die Begeisterung in dem Raum erreicht ihren Höhepunkt, wenn ein bärtiger Mann im blauen Trainingsanzug naht, die Sporttasche locker in der Hand. "Hallo, Trainer!", rufen die Jugendlichen und stürmen dem Mann entgegen. Dirk Diekmann genießt den Empfang und die unverhohlene Freude.

Wenig später stehen die Jugendlichen umgezogen auf dem Feld. Aus der Ferne verhalten sie sich wie alle Gleichaltrigen: Sie hampeln herum, palavern ein bisschen zu laut und drücken Sympathie durch kräftiges Schubsen aus. Je näher man kommt, desto klarer wird: Diese Jungen und Mädchen verhalten sich etwas "anders". Sie haben eine Behinderung. Um auf das Training einzustimmen, lässt Diekmann sie erst im Kreis laufen, dann aufs Tor schießen. Einer nach dem anderen. Auch Arne.

Sein erster Schuss geht über die Latte. Trotzdem jauchzt er, reibt sich die Hände und beugt sich wie immer nach vorne.


Engagement der Profis

Diekmann ist Trainer einer Bayer-04-Jugendmannschaft und Spieler-Scout für den Jugendbereich des Bundesligavereins. Als man ihn 2009 fragte, ob er auch Schüler einer Förderschule trainieren wolle, sagte er sofort zu. Er wusste, was auf ihn zukam: Einige Wochen zuvor hatte Diekmann bei einem Behinderten-Fußball-Camp in Liechtenstein mitgemacht - und war begeistert zurückgekehrt. Seit Februar 2010 trainiert er nun regelmäßig die Kinder der Leverkusener Hugo-Kükelhaus-Schule. Arne war von Anfang an dabei.

Das Leverkusener Training ist Teil des Pilotprogramms "Einfach Fußball". Die gemeinsame Initiative der Bayer AG und der Sepp Herberger-Stiftung des Deutschen Fußball-Bundes ermöglicht Schülern mit geistiger oder Lern-Behinderung den Zugang zum organisierten Vereins-Sport - und will dadurch die Inklusion der Zielgruppe in Sport und Gesellschaft verbessern.

Bei Bayer hat derartiges Engagement eine lange Tradition: Seit mehr als 100 Jahren fördert das Unternehmen sowohl den Spitzen- als auch Breiten- und Behindertensport. "Wir wollen Fußball im Vereinssport auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderung attraktiv machen. Dafür lassen wir unsere Kompetenz im Bereich des Behindertensports in das mit dem DFB gemeinsam aufgelegte Pilotprogramm einfließen", sagt Bayer-Chef Dr. Marijn Dekkers.

"Einfach Fußball" wird dabei nicht nur in Leverkusen gespielt. Neben Bayer 04, der "Keimzelle" der Initiative, bieten - Stand Oktober 2011 - zwölf weitere Vereine in Kooperation mit einer oder mehreren Förderschulen das Pilotprogramm an. Woche für Woche trainieren insgesamt rund 200 Mädchen und Jungen mit Behinderung auf den Fußballplätzen.

Seit Herbst 2010 engagiert sich auch ein Profifußballer in dem richtungsweisenden Programm: Hanno Balitsch. Der Mittelfeldspieler des Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen hat die Schirmherrschaft übernommen. "Als mir die Initiative vorgestellt wurde, hatte ich sofort ein gutes Gefühl", begründet der ehemalige Nationalspieler sein Engagement. Dieses Gefühl sei bei seinen ersten Trainingsbesuchen mehr als bestätigt worden. "Ich bin davon überzeugt, das Programm fördert die soziale Kompetenz bei allen Beteiligten." Und gerade der Spaß komme dabei nicht zu kurz.

Den erlebt auch Diekmann jeden Freitag im Jugendleistungszentrum Kurtekotten in Leverkusen. Zu seinem Training gehören gymnastische Übungen zum Warmwerden. Die dürfen allerdings nicht zu lange dauern, denn seine jugendlichen Sportler werden schnell ungeduldig. Unmissverständlich machen sie klar, was sie wollen: endlich spielen. Diekmann nickt und teilt die Jugendlichen in zwei Mannschaften. Arne streift sich ein blaues Leibchen über das Trikot. Es ist viel zu eng für ihn. Kein Wunder, der 20-Jährige ist mit Abstand der Größte auf dem Platz.

Auf raffinierte Kombinationen oder rasantes Doppelpassspiel müssen die zuschauenden Mütter weitgehend verzichten, aber sie erfreuen sich dennoch am Anblick ihrer fröhlichen, ausgelassenen Kinder. Eine Mutter meint, ihr Sohn zeige sonst wenig Ehrgeiz, aber beim Fußball sei das ganz anders. Gaby Köhler urteilt ähnlich. Arne sei sonst häufig desinteressiert und unkonzentriert. "Aber Fußballspielen - das beschäftigt ihn richtig. Davon erzählt er hinterher wieder und immer wieder."

Dass das Thema die jungen Sportler nicht loslässt, kann Stefan Esser von der Hugo-Kükelhaus-Schule in Leverkusen nur bestätigen. Der Konrektor freut sich über die "erstaunliche sportliche Entwicklung" der Schüler. Und er ist dankbar für ein Freizeitangebot, das ganz im Sinne der Jugendlichen ist.


Sport verbindet

Und während Bayer-04-Jugendcoach Diekmann freitags in Leverkusen trainiert, heißt es zeitgleich auch in Wuppertal "Einfach Fußball". Rund 15 Jugendliche aus der Schule am Nordpark kommen dort zum Gelände des SV Bayer Wuppertal, wo sie Peter Jansen unter seine Fittiche nimmt. Der C-Jugend-Coach hat nicht nur sportliche Fortschritte bei seinen behinderten Jungfußballern ausgemacht: "Inzwischen kommen einige aus meiner C-Jugend-Mannschaft extra früher und kicken bei ihnen mit.

Das Konzept "Einfach Fußball" geht also auf: Nicht nur Behinderte profitieren vom Zusammenspiel, auch Nichtbehinderte. Deshalb werden jugendliche Vereinsspieler als Co-Trainer in das Programm einbezogen. "Für die Persönlichkeitsentwicklung kann das eine sehr wichtige Erfahrung sein", sagt Diekmann.

Freitags assistieren ihm zwei junge Bayer-04-Nachwuchstalente. "Als Co-Trainer sammeln sie nicht nur Erfahrungen in einer Führungsrolle, sie lernen auch Rücksicht, Geduld, Einfühlungsvermögen und Toleranz", so Diekmann. Eigenschaften, bei denen auch Nachwuchsstars oft noch Nachholbedarf hätten.

Um den Erfolg des Programms auch wissenschaftlich fundiert auf seine nachhaltige Umsetzbarkeit zu beurteilen, haben DFB und Bayer das FIBS in Frechen bei Köln hinzugezogen. Die Abkürzung steht für "Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport". Ende 2008 von der Deutschen Sporthochschule Köln und der Lebenshilfe NRW auf Initiative der Gold-Krämer-Stiftung gegründet, will das FIBS die Teilhabe von Menschen mit Behinderung durch Bewegung und Sport fördern.

In Frechen werden bis Ende des Jahres 2011 alle Erfahrungen, die sich aus den Kooperationen von Förderschulen und Fußballvereinen ergeben, wissenschaftlich ausgewertet. Dabei stehen die psychosozialen Auswirkungen des regelmäßigen Trainings auf die Teilnehmer und die strukturellen Rahmenbedingungen an den unterschiedlichen Standorten im Mittelpunkt. Denn DFB und Bayer AG interessiert insbesondere, ob und unter welchen Rahmenbedingungen die Initiative "Einfach Fußball" in Vereinen dauerhaft erfolgreich umgesetzt werden kann.

Erste Ergebnisse der Befragungen hat das FIBS direkt in das laufende Projekt einspeisen können. So fließen zum Beispiel Erfahrungen früh involvierter Trainer wie Dirk Diekmann in einen Leitfaden für den Umgang mit den Behinderten ein, der neuen Trainern ihre Aufgabe erleichtern soll. Am Ende der wissenschaftlichen Projektbegleitung soll ein Praxisleitfaden für die Zusammenarbeit von Verein und Schule entstehen.

Auf der Leverkusener Sportanlage nähert sich das Training nun seinem Ende. Arne hat gut mitgehalten, auch wenn er manchmal nicht so ganz bei der Sache war. Mitunter läuft er in eine andere Richtung als der Ball. Oder er bückt sich unvermittelt und kontrolliert seine Schnürsenkel. Doch dann landet der Ball direkt vor seinen Füßen und Arne zieht entschlossen ab. Tor! "Super, Arne!", ruft Diekmann und klatscht. Arne johlt. Abends wird Gaby Köhler ihn zu Hause noch einmal an das "Supertor" erinnern. Arnes Augen werden dann leuchten, und er wird sagen: "Das war gut, nicht? Jaaar."


Einfach Fußball

Das Pilotprogramm "Einfach Fußball" wird - Stand Oktober 2011 -
in 13 Vereinen, jeweils in Kooperation mit einer oder mehreren
Förderschule(n), angeboten.

Bei Interesse an einer Teilnahme an "Einfach Fußball" steht
Uli Quaas (Bayer AG, Tel.: 0214-3048827, Email: uli.quaas@bayer.com)
für Informationen gerne zur Verfügung.

Mehr Informationen zu dem Thema gibt es unter
www.sport.bayer.de und in der
Facebook-Gruppe von "Einfach Fußball"
(http://www.facebook.com/#!/groups/145887962144924/).


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Quelle:
Selbsthilfe 4/2011, S. 17-19
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
BAG SELBSTHILFE
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2012