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SPORT/338: Golftraining als Therapie - 18 Löcher für mehr Selbstwertgefühl (impulse - Uni Bremen)


Universität Bremen - impulse aus der Forschung Nr. 1/2010

18 Löcher für mehr Selbstwertgefühl

Golftraining als Therapie für Menschen mit Behinderung

Von Ulrich Meseck und Mike Lochny


Sport fördert Körper und Psyche. Für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung gibt es eine Vielzahl anerkannter Sporttherapien. Dass ausgerechnet der Golfsport nun in den Focus therapeutischer Aktivitäten kommt, erscheint zunächst ungewöhnlich, gilt doch Golf als Sport der Gutbetuchten. Zudem klassifiziert ihn die Sportwissenschaft als technisch hoch anspruchsvoll. Das Institut für Sportwissenschaft der Universität Bremen beleuchtete nun das therapeutische Potenzial des Golfsports.


Statt zielgerichtet mit anerkannten Maßnahmen therapiert zu werden, sollen Kinder und Jugendliche nun also Golf Spielen lernen. Warum? Zunächst gab es positive Erfahrungen aus dem Golf-Trainingsprogramm KidSwing, ein Programm für kranke und behinderte Kinder und Jugendliche mit siebzehn Stützpunkten bundesweit. KidSwing ist eine Kooperation von Golfclubs und Förderschulen für geistigen oder körperlichen Entwicklungsbedarf. Eltern und Trainer erkannten dort vielfältige Fortschritte in der Entwicklung der Kinder.

Sportwissenschaftler der Universität Bremen nahmen sich daraufhin der Frage an, in wie fern das Golf Spielen entgegen landläufiger Meinungen sozialintegrative, persönlichkeitsfördernde und therapeutische Potenziale beinhaltet. In Interviews mit Experten rekonstruierten die Forscher die Lebenswelt für die Bereiche Familie, Schule, Freizeit und Golftraining. Ergänzend beobachteten sie die Kinder beim Training, um deren Verhalten auch unmittelbar zu erfassen. Dazu besuchten sie zehn Golfclubs an denen rund 150 Kinder und Jugendliche aus 17 beteiligten Förderschulgruppen trainierten.


Lernen in Ruhe und Natur

Für fast alle Kinder und Jugendlichen war das Golftraining wichtig, wenn nicht sogar das Highlight der Woche. Nur ein kleiner Teil, weniger als zehn Prozent der Teilnehmer, brach das einjährige Training ab. Ein Grund für die Begeisterung, unabhängig von der jeweiligen Behinderung, war sicherlich, dass Lernen und Training nicht unter Zeitdruck erfolgen und somit den individuellen Voraussetzungen optimal angepasst werden können. Der außerschulische Lernort, die Naturnähe und die Ruhe auf der Übungsanlage unterstützen diese Prozesse.

Fachärzte bestätigen für über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen eine therapeutische Wirksamkeit. So förderte der Golfsport die familiäre Integration, begünstigte das Lernverhalten und die Bewegungsaktivität im Alltag und wirkte sich positiv auf körperliche und mentale oder kognitive Symptome aus. Transferwirkungen in unterschiedliche Bereiche der Lebenswelt, in Schule, Freizeit oder Familie, wurden bei 36 Prozent der Teilnehmer attestiert.


Bessere Koordination im Alltag

Auch aus den Elternberichten ergeben sich signifikante Verbesserungen: ein zunehmendes Selbstwertgefühl und gesteigerte Konzentration der Kinder. Dahinter stehen in Einzelfällen erstaunliche Entwicklungen.

Franks* Mutter etwa berichtet von der Intensität mit der Frank sich beim Golf Spielen konzentrieren und kontrollieren muss. Er lerne seine Kraft im Alltag wesentlich dosierter und funktionaler einzusetzen. Dies äußere sich auch in anderen Zusammenhängen, etwa beim Fahrrad fahren. Allgemein geht Frank nun mit Alltagsanforderungen überlegter um.

Sabine* war nach jahrelangen Misserfolgen nie bereit, ihre spastisch gelähmte Hand zu benutzen. Beim Golf nahm sie dann den Schläger in beide Hände, um weiter schlagen zu können. "Da hat man sich drei Jahre mit der Schülerin rumgeärgert in Anführungsstrichen, um kraftmäßig was aufzubauen, motorisch was aufzubauen, dass die Muskelspannung sich verbessert, - und beim Golf Spielen, da nimmt sie beide Hände! Da ist man irgendwie begeistert, welche Dinge man erreichen kann", so ein Förderschullehrer.

Nicht zuletzt aufgrund solcher Befunde klassifizierten die befragten Physio- und Ergotherapeuten das Golftraining als Therapie mit dem zusätzlichen Vorteil, dass Golf von den Kindern als Spiel wahrgenommen wird. Von der sportlichen Entwicklung sind Trainer und Lehrer gleichermaßen positiv überrascht, auch wenn die Kinder langsamer lernen als Nicht-Behinderte.


Special Olympics in Bremen

Im Vordergrund stehen bei den meisten Kindern und Jugendlichen nicht die golferischen Leistungen, sondern vor allem förderpädagogische Ziele. Hierzu leistet KidSwing einen wichtigen Beitrag. Dennoch zeigt das Programm Potenziale, die noch weiter ausgeschöpft werden können. Dies sind vor allem die systematische Integration der Eltern, die Planung der Förderziele unter Einbeziehung der Golftrainer und die Etablierung und Finanzierung von Anschlussprogrammen in den Golfclubs.

Aus der Forschungsperspektive werfen die Ergebnisse einen neuen und erweiterten Blick auf die Aktivierung von Ressourcen durch spezifische sportliche Aktivität. Diese Thematik soll nun bundesweit auch bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung untersucht werden. Sie ist ebenfalls eine Kernthematik des wissenschaftlichen Kongresses "Inklusion und Empowerment" vom 18. bis 19. Juni 2010 an der Universität Bremen. Parallel dazu finden auch die National Games von Special Olympics in Bremen statt.

(*) Namen geändert


Weitere Informationen.
www.spowi.uni-bremen.de
www.nationalgames.de


Ulrich Meseck ist Projektleiter der KidSwing-Studie. Er promovierte 1985 in Bremen über Lernprozesse in Sportspielen. An den Universitäten Bremen und Paderborn war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft. Seit 2004 ist er Universitätslektor am Institut für Sportwissenschaft und forscht zur Theorie des Kinder- und Jugendtrainings sowie über Gesundheits-, Fitness- und Rehabilitationssport.

Mike Lochny war von 2006 bis 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter im KidSwing-Projekt und promovierte dort über selbstgesteuertes Bewegungslernen und individuelle Lernstrategien. Seit 2008 ist er Universitätslektor am Institut für Sportwissenschaft, wo er zu selbstgesteuerten Lernprozessen an Schulen, und zur Wirkung sportlicher Aktivität für Menschen mit geistigen Behinderungen forscht.


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Quelle:
Universität Bremen - impulse aus der Forschung
Nr. 1/2010, Seite 22-23
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Eberhard Scholz (verantwortlich)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2010