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RECHT/677: UN-Behindertenrechtskonvention - Turbo oder Placebo für Eltern behinderter Kindern? (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2 - Juni 2011

Die UN-Behindertenrechtskonvention: Turbo oder Placebo für die Eltern von behinderten Kindern?

Von Bärbel Kehl-Maurer


Rechte haben und Rechte bekommen ist oft nicht dasselbe. Diese bedauerliche Erfahrung mussten viele Eltern von behinderten Kindern in der Vergangenheit machen. Behinderte Menschen und ihre Angehörigen wurden vielfach in die Rolle von Bittstellern gedrängt, die dann in hohem Maße vom Wohlwollen und Engagement staatlicher Stellen abhängig waren.

Das will die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterbinden. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen wurde unter Mitwirkung von Menschen mit Behinderung und Fachleuten erarbeitet. Dieser Vertrag konkretisiert die Menschenrechte behinderter Menschen und garantiert ihnen die gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft. Er hat seit März 2009 in Deutschland Gesetzeskraft. So weit, so gut. Aber was bedeutet das für die Eltern von behinderten Kindern?

Hilft ihnen die UN-Konvention bei ihren täglichen Problemen und Fragen weiter, oder ist sie in der harten Praxis doch meist nur ein Lippenbekenntnis? Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich zunächst einmal über die Rolle von Eltern mit behinderten Kindern für ihre Kinder klar werden.

Eltern sind - im wahrsten Sinne des Wortes - die Keimzelle des Ganzen. Die Familie - wie auch immer zusammengesetzt - ist somit die kleinste Einheit einer Gesellschaft.

Sie steht unvermittelt vor großen psychischen und materiellen Herausforderungen, wenn sich herausstellt, dass der ersehnte Nachwuchs ein kleiner Mensch mit Behinderung ist. Die Familie "lebt" damit von Anfang an Inklusion. Und wünscht sich das verständlicherweise auch für ihr näheres und weiteres Umfeld. Es fängt bei den jungen Eltern mit ganz einfachen allgemeinen Fragen an. Diese könnten beliebig ergänzt, aber natürlich auch präzisiert und konkretisiert werden.

Was aber jetzt schon deutlich wird, ist, dass die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Behinderung letzten Endes nur durch zwei Personenkreise gesammelt und formuliert werden können: durch die behinderten Menschen selbst und durch die Personen, die am dichtesten an ihnen dran sind - ihre Eltern bzw. Angehörigen!


Keine Bittsteller mehr

Sie haben nun mit der UN-Konvention auch in Deutschland unveräußerliche und einklagbare Rechte! Sie sind keine Bittsteller mehr.

Und die Lebenshilfe? Der LEBENSHILFE-Verein, der 1958 als Hilfe von Eltern für Eltern gegründet worden ist, hat seither viel geleistet. Das beginnt mit Unterstützung für Menschen mit Behinderung und deren Eltern und Familien in allen Lebensphasen in Form von Kindergärten, geht über Förderschulen, Wohnheime, Werkstätten, Offene Hilfen und endet mit Beratungsstellen. Durch die UN-Konvention kommen neue Dienste dazu und daher kann die Aufzählung hier nicht abschließend sein.

Insofern könnten wir uns also alle zufrieden zurücklehnen. Und uns über das freuen, was wir gemeinsam geschafft haben. Aber können wir das wirklich? Haben sich nicht auch unsere Rahmenbedingungen in den letzten Jahren (und nicht erst seit Bestehen der UN-Behindertenrechtskonvention) erheblich geändert? Müssen wir nicht wieder einmal neu darüber nachdenken, wo wir stehen, wo wir hin wollen und wo wir beispielsweise im Jahre 2012 oder 2025 sein werden? Die Frage ist berechtigt.

Wenn also die LEBENSHILFE ihre erfolgreiche Arbeit für behinderte Menschen weiterführen will, dann muss sie sich noch konsequenter mit diesen beiden "Kern-Zielgruppen" auseinandersetzen und entsprechende "kundenorientierte" Leistungen konzipieren und anbieten. Nun wird sich sicherlich der eine oder andere Leser fragen, warum ein gemeinnütziger Verein wie die LEBENSHILFE auf einmal mit Begriffen aus Wirtschaft und Werbung arbeiten soll. Die Antwort mag vielleicht für Irritationen sorgen: Die LEBENSHILFE steht seit langem im harten Wettbewerb mit anderen Sozial-Organisationen.


Selbsthilfe-Organisation von Eltern für Eltern

Allerdings hat die LEBENSHILFE einen einzigartigen Vorteil in diesem Wettbewerb: Während andere Organisationen sich vorrangig als wirtschaftlich und auf Gewinn ausgerichtete Anbieter von Dienstleistungen aller Art positionierten, verstand sich die LEBENSHILFE von Anfang an als Selbsthilfe-Organisation von Eltern für Eltern mit einer gelebten sozialen Verantwortung. Und wir hatten und haben dafür eine ideelle Komponente, eben die Menschen mit Behinderung und die Eltern.

Denn nur mit Eltern können Menschen mit Behinderung selbstbestimmt leben. Eltern fördern die Unabhängigkeit ihrer Kinder. Eltern sind die Anwälte der Interessen ihrer Kinder gegenüber Staat und Gesellschaft. Anwälte fordern (wie auch die LEBENSHILFE) ein, was ihren Klienten zusteht. Die UN-Konvention bietet die Rechtsgrundlage. Sie ist die Anerkennung der Vielseitigkeit unserer Gesellschaft!

Bei der LEBENSHILFE sind die Menschen mit Behinderung nicht für die angebotenen Einrichtungen und Dienste da, sondern unsere Einrichtungen und Dienste sind für die Menschen und ihre Familien da, die unsere Hilfe brauchen. Deshalb müssen die Eltern in der Organisation LEBENSHILFE mitreden, mitbestimmen und mitgestalten und die Bedürfnisse und Probleme ihrer Kinder immer wieder deutlich machen. Dazu müssen wir noch viel mehr werden. Helfen Sie uns dabei junge Eltern von der Idee der LEBENSHILFE zu überzeugen und sie als Mitstreiter für unsere gemeinsame Sache zu gewinnen.

Damit eine starke LEBENSHILFE uns dabei unterstützen kann, die verbrieften Rechte der Menschen mit Behinderung - unserer Kinder - einzufordern. Allen politischen Widerständen und Fehlinterpretationen zum Trotz. Für die Gegenwart. Und für die Zukunft. Damit die UN-Konvention in Deutschland ein Turbo und kein Placebo wird.


Bärbel Kehl-Maurer ist Mitglied im Bundesvorstand und Vorsitzende des Bundeselternrats.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 2/2011, 32. Jg., Juni 2011, S. 1 und 3
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
für Menschen mit geistiger Behinderung
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Internet: www.lebenshilfe.de

Die Lebenshilfe-Zeitung mit Magazin erscheint
jährlich viermal (März, Juni, September, Dezember).


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011