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RECHT/639: Sozialgericht Frankfurt/Main stärkt Wahlrecht des Wohnortes (LHZ)


Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1 - März 2009

Nähe zur Familie ist wichtiger Grund
Positiver Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt/Main

Von Oliver Kestel


Erwachsene Menschen mit Behinderung sollen wählen können, wo sie wohnen möchten. Dieses Wahlrecht wurde jetzt durch ein Gericht gestärkt.


Eine Frau mit Behinderung lebte seit 1985 in einer Wohneinrichtung in Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Betreuungsbedarf wurde zum Teil auch von den Eltern gedeckt. Im Jahre 2005 entschlossen sich die Eltern, nach Frankfurt am Main umzuziehen. Sie wollten in der Nähe der Familie ihrer zweiten Tochter sein. Auch die Schwester mit Behinderung sollte auf die enge Familienanbindung nicht verzichten müssen. Glücklicherweise fand sich für sie ein Heimplatz in Frankfurt.

Dann die böse Überraschung: Der Sozialhilfeträger lehnte den Antrag auf Übernahme der Kosten des Heimes in Frankfurt ab mit der Begründung, dass diese Unterbringung in Frankfurt im Vergleich zur Wohneinrichtung in Mecklenburg-Vorpommern mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sei.

Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin nach erfolglosem Widerspruch Klage. Die Begründung dafür stützte sich wesentlich auf das Wunsch- und Wahlrecht sowie auf das Recht familiengerechter Hilfe (Bindung und Nähe zu den Eltern). Das Gericht entschied positiv (Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt: Az.: S 52 SO 397/07 ER).

In seiner Entscheidung führte es aus, dass nach den rechtlichen Vorgaben den Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen werden soll, soweit diese angemessen sind. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die ablehnende Entscheidung des Sozialhilfeträgers ermessensfehlerhaft war.

Eine rechnerische Gegenüberstellung der entstehenden Kosten bzw. Mehrkosten reiche als Entscheidungsgrundlage nicht aus. Selbst dann, wenn eine Unverhältnismäßigkeit der Kosten unterstellt würde, sei davon auszugehen, dass das Wohnen in Frankfurt aufgrund der engen Familienkontakte in wesentlich größerem Umfange bedarfsdeckend und angemessener sei als in Mecklenburg-Vorpommern. Denn bei der Beurteilung der Angemessenheit sei auch das gesamte betreuerische und sozio-kulturelle Umfeld im Hinblick auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu berücksichtigen.

Der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt ist aus Sicht von Menschen mit Behinderung, Eltern und Angehörigen gleich aus mehreren Gründen zu begrüßen. Das Gericht weist darauf hin, dass die Mehrkostenklausel nicht alleine mit einem rechnerischen Vergleich zweier Einrichtungen begründet werden darf, sondern dieser Vergleich im Einzelfall umfassender ausfallen muss. Deutlich wurde, dass - selbst wenn sich aus dem Kostenvergleich eine Unverhältnismäßigkeit ergeben sollte - der Sozialhilfeträger immer noch einen Ermessensspielraum hat.

Oliver Kestel ist Rechtsanwalt in Oberursel und Lehrbeauftragter.


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Quelle:
Lebenshilfe Zeitung, Nr. 1/2009, 30. Jg., März 2009, S. 8
Herausgeber: Bundesvereinigung Lebenshilfe
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2009