Schattenblick → INFOPOOL → PANNWITZBLICK → PRESSE


PROJEKT/739: Alle Mann an Bord - niemanden außen vor lassen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Alle Mann an Bord - niemanden außen vor lassen

Von Anne Sprenger


Der mir vorgegebene Vortragstitel verleitet zu allerlei Metaphern. Doch ich bin nicht seefest, darum widerstehe ich der Versuchung, Bezeichnungen für ein Boot zu finden, das jene Männer und Frauen auf eine Reise mit unbestimmten Ziel mitnimmt, die den Weg an Bord alleine nicht finden. Ich halte mich an die Fakten und berichte Ihnen von Erfahrungen und Entwicklungen aus unserem Modellprojekt, das seinen Anfang im Jahr 2012 nahm.

Unsere Aufmerksamkeit richtete sich damals auf schwer chronisch erkrankte Menschen mit herausforderndem Verhalten und auf jene, die von gemeindepsychiatrischen Angeboten nicht erreicht werden, die in der Anonymität geschlossener Pflegeheime oder in der Obdachlosigkeit verschwinden, oft suizidal, ohne Hilfe, ohne Hoffnung. Heavy User, Systemsprenger, Komorbide, Drehtürpatienten, Wartefälle ... - wir kennen die nicht unbedingt wertschätzenden Zuschreibungen.

Vor dem Hintergrund der vom deutschen Parlament ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention, die allen behinderten Menschen umfassende Menschenrechte sowie eine freie und uneingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantiert und die Unterbringung behinderter Menschen aufgrund ihrer Behinderung in Artikel 14 verbietet, mutete der zunehmend lauter werdende Ruf nach dem Ausbau geschlossener Heimplätze seltsam anachronistisch an.

Trotz der Verbesserung und Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung auf Grundlage der Psychiatrie-Enquete verzeichnen wir seit Langem einen Anstieg der Zwangseinweisungen und betreuungsrechtlichen Unterbringungen. Verlässliche Aussagen zu Zahlen und dahinterliegenden Fakten liegen bis heute - aufgrund einer unsystematischen Datenerhebung - nicht vor. Auch im Rheinland wurden und werden schwer psychisch beeinträchtigte Menschen mangels Alternativen in geschlossene Abteilungen von Pflegeheimen verlegt.

Mit dem »Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen«, den Pflegestärkungsgesetzen 2 und 3, dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung und den weitreichenden Veränderungen des SGB IX, dem Bundesteilhabegesetz (BTHG), haben sich die Grundlagen unserer Arbeit verändert. Die Auswirkungen dieser Änderungen sind noch längst nicht in allen Fragen klar erkennbar. Klar ist aber, dass der Gesetzgeber mit dem BTHG das Ziel verfolgt, die gleichberechtigte und wirksame Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft weiterzuentwickeln. Ein zu unterstützendes Ziel! Klar ist auch, dass er einen anderen Behinderungsbegriff zur Grundlage macht. Menschen haben irreversible Einschränkungen ihrer Fähigkeiten, aber was sie an der Teilhabe hindert, sind die Barrieren, die die Gesellschaft errichtet. Diese Barrieren gilt es einzureißen und wegzuräumen, wie einst die Klinikmauern!

In den letzten drei Jahren konnten wir ein Modellprojekt verwirklichen, das sich an Menschen richtete, um deren Teilhabechancen es besonders schlecht steht, weil sie Teilhabe durch herausforderndes Verhalten, Rückzug oder Aggression scheinbar ablehnen. Oft sind diese Verhaltensweisen aber einer langen und zerstörerischen Psychiatriekarriere geschuldet oder Ausdruck der Erkrankung. In dem Projekt in einer rheinischen Kleinstadt mit knapp 60.000 Einwohnern haben wir den Versuch unternommen, auf individueller und struktureller Ebene Veränderungen für die Zielgruppe und mit der Zielgruppe zu erreichen.

Im Folgenden möchte ich Ihnen berichten, was unsere Annahmen und unsere Ziele waren, welche Erfahrungen wir bei der Umsetzung gemacht haben und was wir durch das Bundesteilhabegesetz in diesem Zusammenhang befürchten bzw. welche Chancen wir sehen.

Erfahrungen bei der Umsetzung des Modellprojektes

Wir kamen vor der Beantragung unseres Projektes zu folgenden Befunden:

  • Besonders schwer erreichbare Menschen sind oft komorbide erkrankt und pendeln zwischen Hilfesystemen der Obdachlosenhilfe, der Suchthilfe und gemeindepsychiatrischen Anbietern, bis sich schließlich niemand mehr zuständig fühlt.
  • Außerhalb der Hilfeplanung und der Hilfeplankonferenz findet im Rheinland eine gemeinsame systematische Fallsteuerung unter Beteiligung der Betroffenen und aller professionellen Akteure nicht statt.
  • Eine strukturierte Hilfeplanung oder gar die Aushandlung eines persönlichen Budgets ist bei besonders schwer erkrankten psychisch beeinträchtigten Menschen oft nicht möglich. Sie fallen aus dem System, bis andere über ihr Schicksal entscheiden.
  • Die Hilfesysteme pflegen keinen strukturierten Austausch.
  • Es mangelt an personellen Ressourcen, um Menschen mit einem kontinuierlichen Beziehungsangebot außerhalb der Fachleistungsstundensystematik zu unterstützen.
  • Menschen werden außerhalb der Fallsteuerung der Eingliederungshilfe und vorbei am gemeindenahen psychiatrischen Hilfesystem verlegt.
  • Es gibt in unserer Region kein strukturiertes Entlassungsmanagement der psychiatrischen Krankenhäuser.
  • Der Sozialraum erfährt wenig oder keine Unterstützung, um Menschen mit schwierigen Verhaltensweisen akzeptieren oder aushalten zu können.

Im Fokus des aus dieser Analyse entwickelten Projektes stand der Aufbau eines trägerübergreifenden, netzwerkorientierten Angebots in der Gemeinde, um passgenaue individuelle Lösungen für 15 Betroffene zu entwickeln, stationäre exterritoriale Unterbringungen gegen ihren Willen zu verhindern und Teilhabebarrieren zu verringern. Prozesse sozialer Desintegration sollten gestoppt werden.

Was konnten wir auf individueller Ebene erreichen?

Statt der anvisierten 15 wurden insgesamt 20 betroffene Menschen im Projektzeitraum betreut. Die Nachfrage war also größer als das Angebot. Zum Projektstart lebten zwölf Teilnehmende als Wartefälle in der Klinik oder in Obdachlosenunterkünften. Ein Einzug in ein sozialpsychiatrisches Wohnheim lag in weiter Ferne und entsprach nicht den Wünschen der Betroffenen. Zwei Betroffene verfügten noch über eigene Wohnungen, hielten sich als Drehtürpatienten aber überwiegend in der Klinik auf. Der Wohnungsverlust drohte. Vier Betroffene, darunter drei Patienten der forensischen Abteilung, standen vor der Verlegung in geschlossene Heime. Ein Betroffener entschied sich für ein Wohnheim. Jahrelange Obdachlosigkeit wurde so beendet. Zwei Klienten haben den Kontakt zurzeit unterbrochen. Ein Betroffener ist an einer Lungenerkrankung verstorben.

In allen Fällen hatten die gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuer, die Mitarbeiter der psychiatrischen Krankenhäuser, des Sozialpsychiatrischen Dienstes oder der örtlichen Sozialämter und Ordnungsbehörden unter massivem Druck gestanden, aus Kostengründen zeitnahe Lösungen zu präsentieren. Die betroffenen Menschen zeigten sich aufgrund ihrer massiven Symptomatik zunächst nicht kooperationsfähig und misstrauten den professionellen Helfern.

Als gemeindepsychiatrischer Träger hätten wir von ihrer Existenz vermutlich ohne das niederschwellige Modellprojekt gar nicht erfahren, weil andere Profis davon ausgingen, dass man ihnen außerhalb stationärer oder geschlossener Einrichtungen gar kein Angebot unterbreiten kann. Die Sicht der Betroffenen spielt dabei irgendwann keine Rolle mehr - vor allem dann, wenn sie sich nicht gut artikulieren können und Bemühungen um soziale Integration in der Vergangenheit mehrfach boykottiert haben.

Entscheidend für das Gelingen des Projektes war die schlichte Tatsache, dass wir durch die Projektmittel im Sozialpsychiatrischen Zentrum eine zusätzliche Personalstelle zur Verfügung hatten, die jenseits von Betreuungsanzeigen, Hilfeplänen und Fachleistungsstunden Zeit und Raum hatte, den Klientinnen und Klienten ein niederschwelliges und anforderungsfreies Kontakt- und Beziehungsangebot zu unterbreiten, deren Rhythmus und Intensität sie selber bestimmen konnten. Entscheidend war auch, dass wir zu Beginn der Projektphase zwei bezahlbare Häuser in einem zentral gelegenen und schönen Stadtteil anmieten konnten und so ad hoc Wohnraum zur Verfügung hatten.

In zwei Ruhe- und Orientierungshäusern leben insgesamt sieben Menschen. Für weitere sieben Klientinnen und Klienten konnten wir Wohnräume anmieten. Ein Bewohner hat das Haus gerade verlassen, um eine eigene Wohnung zu beziehen.

Im »Place To Be« stehen tagsüber durch den Projektleiter bzw. andere Mitarbeiter, deren Büroräume wir dort ebenfalls etabliert haben, immer Ansprechpartner zur Verfügung. Nachts und am Wochenende gibt es eine Rufbereitschaft.

Die existenzsichernden Leistungen werden zum Teil durch das Maßregelvollzugsgesetz, Grundsicherung, in einem Fall durch das Asylbewerberleistungsgesetz sichergestellt. Die Fachleistung wird grundsätzlich durch die Projektstelle erbracht, schrittweise haben wir dann auch in einzelnen Fällen zusätzlich Tandembetreuungen z. B. durch die Suchthilfe oder die Jugendhilfe eingesetzt und in einem vorsichtigen Prozess mit den Betroffenen Hilfepläne erarbeitet. Der Aufenthalt wird befristet für zunächst zwei Jahre angeboten, ist aber je nach individuellen Möglichkeiten verlängerbar. Das offen mit den Nutzern kommunizierte Ziel ist der Auszug und Übergang in die Regelversorgung.

Was haben wir im Sozialraum erreicht?

Wir haben an Inklusionstagen und Quartiersentwicklungsprojekten der Gemeinde teilgenommen, um die Teilhabebarrieren für psychisch erkrankte Menschen zu benennen: Ausgrenzung durch Armut, nicht bezahlbarer Wohnraum in den Städten und darum Ghettoisierung in problembeladenen Stadtrandlagen, Stigmatisierung, Barrieren beim Zugang zum öffentlichen Nahverkehr, der für viele trotz Sozialticket zu teuer ist, Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt.

Wichtig waren aber auch all die kleinen und großen Gesten nachbarschaftlicher Verbundenheit zu einem gemeindepsychiatrischen Träger, der seit 40 Jahren in der Kommune aktiv ist. Der Inhaber des Elektrobetriebes vor Ort, der uns die Häuser vermietet hat, weil man uns als Kunden und zuverlässigen Partner kennt, der Fahrradhändler, der kleine Reparaturen für einen Klienten günstiger durchführt, die Bedienung im Café, die einen Kaffee spendiert, die Nachbarn, die sich gegen ein kleines Entgelt bereit erklären, einen Klienten auch mal spätabends mit Zigaretten zu versorgen, damit er nicht überall klingelt.

Unsere Idee eines »Sozialraum-Solis«, 1 Euro pro Fachleistungsstunde, um nachbarschaftliche Hilfen einkaufen zu können und die Situation in belasteten Nachbarschaften zu entspannen, wurde vom Kostenträger leider nicht unterstützt, wäre aber eine hilfreiche Maßnahme, um inklusive Prozesse anzustoßen und zu entwickeln.

Was hat sich auf struktureller Ebene entwickelt?

Zu Beginn des Modellprojektes haben wir an zahlreichen Besprechungen und runden Tischen teilgenommen, um uns bekannt zu machen, und uns um Kooperationen mit dem gemeindepsychiatrischen Verbund, den gesetzlichen Betreuerinnen und Betreuern, der LVR-Klinik (Sozialdienst), den Obdachlosen- und Suchthilfesystemen und niedergelassenen Ärztinnen und Therapeutinnen bemüht. Wir haben eine offene, monatlich tagende Arbeitsgruppe »Schwierige Klienten« gegründet, an der sowohl Profis auch Angehörige und Betroffene teilnehmen. Diese AG ist ein Angebot an alle Akteure, die im Einzelfall »mit ihrem Latein am Ende sind«. Wir beraten dort gemeinsam, welche Interventionen oder Lösungsversuche hilfreich sein können.

Wir haben Einrichtungen der Altenhilfe beraten und mit der Jugendhilfe zusammengearbeitet, unsere internen Fortbildungsveranstaltungen für andere soziale Dienstleister aus der Jugend- und Obdachlosenhilfe geöffnet.

Was wir nicht erreicht haben, ist, eine systematische, strukturierte Zusammenarbeit der Hilfesysteme zu etablieren. Was im Einzelfall gut funktioniert, weil das entsprechende Interesse für individuelle Lösungen beim einzelnen Menschen vorhanden ist, ist noch lange nicht strukturell verankert.

Der Gesetzgeber hat dies offensichtlich erkannt und mit dem »Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung« einen Leistungsanspruch der Versicherten auf ein Versorgungsmanagement eingeführt, mit dem alle Leistungserbringer, also Vertragsärzte, Krankenhäuser, Rehabilitations- und Pflegeinrichtungen, verpflichtet werden, für eine sachgerechte Anschlussversorgung der Versicherten zu sorgen ( 11 Abs. 4 SGB V). Wir sehen hier eine große Chance einer nachhaltigen, strukturellen Verbesserung der Zusammenarbeit.

Wird mit dem BTHG nun alles besser?

Unser Projekt ist im August 2017 zu Ende gegangen. Seitdem das Bundesteilhabegesetz bzw. die Novellierung des SGB IX verabschiedet wurde, fragen wir uns, wie wir unser Projekt oder zumindest Teile davon in die Zukunft retten können und ob das Gesetz auch die Belange der schwer psychisch beeinträchtigten Menschen berücksichtigt und ihre Lebenslagen verbessern wird.

Zentral für die erfolgreiche Umsetzung unseres Projektes war die Tatsache, dass wir Leistungen ohne spezielles Antragsverfahren erbringen konnten. Die betroffenen Menschen profitierten in erster Linie davon, dass wir keine fachärztliche Stellungnahme, kein Bedarfsermittlungsinstrument brauchten und keine Anforderungen stellten, um ihnen ein Angebot zur Aufnahme einer heilsamen Beziehung und eines Wohnangebots zu machen. Deshalb konnten sie sich darauf einlassen und etwas für ihr Leben entwickeln.

Doch in 108 des BTHG gibt es auf den ersten Blick weiterhin keine Möglichkeit, ohne Antrag der Leistungsberechtigten Leistungen zu erhalten. Für nicht mitwirkungsfähige Menschen, die nicht selber aktiv für ihre Belange einstehen können, sich nicht um Beratung und Hilfe bemühen, sie sogar zunächst ablehnen, bliebe so nur der Weg über die gesetzliche Betreuung und die zur Beratung verpflichteten Leistungsträger.

Natürlich kann man sich fragen - und die Verbände der Betroffenen tun das auch -, ob es überhaupt vertretbar ist, Menschen, die keine Hilfe verlangen, sich in der Obdachlosigkeit eingerichtet haben oder eben ein sehr schräges Leben mit vielen Klinikeinweisungen führen, mit unseren Angeboten zwanghaft beglücken zu wollen? Von der »Krake Sozialpsychiatrie« ist die Rede.

Dagegen meinen wir, dass die psychische Erkrankung selbst, gepaart mit phasenweiser Antriebslosigkeit, sozialem Rückzug und Misstrauen eine Teilhabebarriere ist. Wenn Anträge nicht gestellt, die zustehenden notwendigen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, dreht sich die Spirale in die Armut und Chronifizierung der Erkrankung immer weiter.

Aber es gibt Hoffnung, denn in § 78 (Assistenzleistungen) BTHG, Satz 6, steht: »(6) Leistungen zur Erreichbarkeit einer Ansprechperson unabhängig von einer konkreten Inanspruchnahme werden erbracht, soweit dies nach den Besonderheiten des Einzelfalles erforderlich ist.«

Das ermöglicht die Implementation von notwendigen Bereitschaftsdiensten und Krisendiensten, die sowohl von den Betroffenen als auch den Angehörigenverbänden schon lange gefordert werden und die aufsuchende Hilfen für die Zielgruppe ermöglichen.

Wirksam für die betroffenen Menschen im Modellprojekt war auch, dass sie einen Ansprechpartner zur Verfügung hatten, der sie begleitete und in schlechten Phasen aushielt, ohne die Unterstützung jemals in Zweifel zu ziehen.

Sorge bereitet uns nun die vorgesehene Segmentierung des Leistungsgeschehens durch den in § 91 postulierten Gleichrang der Pflegeleistungen vor den Leistungen der Eingliederungshilfe. Doch die Abgrenzung der Leistungen ist gerade bei schwer beeinträchtigten Menschen schwierig.

Das BTHG zwingt die unterschiedlichen Leistungsträger sicher zu einer besseren Zusammenarbeit, aber es schafft die Versäulung der Sozialsysteme nicht ab.

Zurzeit ist in der Pflege sehr klar definiert, wer welche Leistung mit welcher Qualifikation erbringen darf. Und dabei handelt es sich um pflegerische Qualifikationen, die in der gemeindenahen Psychiatrie weder ausreichend noch flächendeckend vorhanden sind, oder um Hilfskräfte, die bei einem Zusammentreffen mit der beschriebenen Zielgruppe stark überfordert sein dürften.

Bei der Umsetzung des Gesetzes wird es also darauf hinauslaufen, Kooperationen mit Pflegediensten anzustreben oder selber einen Pflegedienst zu eröffnen, was nicht so einfach ist.

Für den Betroffenen bedeutet das, dass sich bei ihm unterschiedliche Menschen für unterschiedliche Leistungen die Klinke in die Hand geben.

Wenn demnächst Pflegeleistungen vom Pflegedienst, Reha-Leistungen vom Soziotherapeuten und Leistungen zur sozialen Teilhabe vom Sozialarbeiter erbracht werden, ist das fachlich hoch problematisch. Für die hier gemeinte Klientel wäre diese Entwicklung fatal, denn es braucht lange, bis vulnerable, enttäuschte und verstörte Menschen in der Lage sind, einem Menschen Vertrauen entgegenzubringen.

Ein weiterer Punkt ist die Aufteilung und Bewertung von Fachleistung und Hilfstätigkeiten in qualifizierte und nichtqualifizierte Assistenzleistungen. Ganz basale Tätigkeiten, wie die Begleitung zum Arzt oder Einkauf, können im psychiatrischen Kontext eine hoch therapeutische, qualifizierte Fachleistung sein.

Institutionalisierte Wohnangebote kann es in Zukunft in der Eingliederungshilfe nicht mehr geben. Die Trennung zwischen Fach- und existenzsichernder Leistung ab 2020 und die Abschaffung der Begrifflichkeiten »ambulant«, »teilstationär« und »stationär« führt zu einer Ambulantisierung des Leistungsgeschehens und zu einem »Wohnheim light« durch besondere Wohnformen.

§ 104 regelt nun neu, was wir als »Mehrkostenvorbehalt« aus der Sozialgesetzgebung kennen. Die Hürden, auf eine besondere, gemeinschaftliche Wohnform verwiesen zu werden, sind deutlich höher, als das bisher der Fall war, da der Wille der Betroffenen deutlicher in die Entscheidungsfindung einbezogen wird.

»Im Rahmen des in § 104 SGB IX normierten Wunsch- und Wahlrechts, ist Wohnformen außerhalb von besonderen Wohnformen (heute stationär) auf Wunsch des Leistungsberechtigten der Vorzug zu geben. Dies bedeutet unseres Erachtens, dass hinsichtlich des Wohnens in der eigenen Häuslichkeit außerhalb von besonderen Wohnformen kaum eingewandt werden kann, dass diese teurer sind als Unterstützungsangebote in besonderen Wohnformen. Die Leistungserbringer haben damit die Chance, innovative, quartiersnahe oder am Wohnort des Leistungsberechtigten organisierte Leistungsangebote zu schaffen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Leistungsberechtigte im Rahmen des Gesamtplanverfahrens von seinem Wunsch- und Wahlrecht entsprechend Gebrauch macht.« (1)

Doch psychische Erkrankungen verlaufen niemals linear. Sie sind geprägt durch Phasen der Entwicklung und des Gelingens, es kann aber auch wieder zu Rückfällen oder Verschlechterungen kommen. Im Hinblick auf Menschen mit komplexen psychischen Beeinträchtigungen ist das Erreichen der Ziele der Eingliederungshilfe: die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ein langfristiger und mühsamer Prozess, der manchmal eine lebenslange Unterstützung braucht.

Es wäre tragisch, wenn besonders beeinträchtigte Menschen aus diesen Gründen in Pflegeheime abgeschoben werden.

Fazit

Alle Mann an Bord - niemanden außen vor lassen? Das ist und bleibt ein langer Weg, zu dem wir als gemeindepsychiatrische Anbieter nur einen Beitrag leisten können.

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sind politisch nur ein Randthema. Das wird auch bei der Lektüre des BTHG deutlich. Aber es birgt auch Chancen! Es fordert einen Paradigmenwechsel, der sich in dem einfachen Satz zusammenfassen lässt: »Ich bin nicht behindert, meine Teilhabe wird behindert.«

Es ist an uns, mit den Betroffenen und ihren Angehörigen Teilhabebarrieren zu identifizieren, anzuprangern und beiseitezuräumen - für alle psychisch beeinträchtigten Menschen.

Zum Schluss kann ich der Versuchung doch nicht widerstehen, ein Zitat zum mir gestellten Thema zu präsentieren: »Ein Boot kommt nicht voran, wenn jeder auf seine Art rudert.«


Anne Sprenger, Diplom-Sozialpädagogin; Geschäftsführerin des Verbundes für psychosoziale Dienstleistungen gGmbH in Langenfeld, stellvertretende Vorsitzende der AGpR (Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie Rheinland)
E-Mail: anne.sprenger@vpd-mettmann.de


Hinweis

Der Beitrag ist die gekürzte Version des Vortrags »Alle Mann an Bord - niemanden außen vor lassen. Erfahrungen aus dem Langenfelder Modellprojekt. Was bedeutet das unter den Bedingungen des BTHG?« der Autorin auf der Tagung »'Teilhabe für alle!' - Übergänge gestalten. Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) und die 'Schwierigsten'« am 27. Juni in Köln.


Anmerkung

(1) Der Paritätische Gesamtverband, Rechtsanwaltkanzlei Hohage, Mey & Partner (2016) Übergänge gestalten - gewusst wie. Das neue Bundesteilhabegesetz. Handreichungen zur Umsetzung für Leistungserbringer - Schwerpunkt Wohnen,
https://paritaet-bw.de/verband/publikationen/veroeffentlichungen-broschueren/details/artikel/uebergaenge-gestalten-gewusst-wie.html,
letzter Zugriff am 11.8.2017


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Anne Sprenger während ihrer Präsentation auf der Tagung »Teilhabe für alle - Übergänge gestalten« am 27. Juni 2017 in Köln

*

Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 158 - Heft 4/17, Juli 2017, Seite 17 - 20
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/511 002, Fax: 0221/529 903
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.dgsp-ev.de
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang