Schattenblick →INFOPOOL →PANNWITZBLICK → PRESSE

PROJEKT/634: "Zum Glück geht es anders" - Von der Blauen Karawane zum Blauen Haus (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

"Zum Glück geht es anders"
Von der Blauen Karawane zum Blauen Haus

Von Andreas Kroneder


Im Jahre 2008 trat das als völkerrechtlicher Vertrag ratifizierte Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft. Dieser Vertrag, besser bekannt als UN-Behindertenrechtskonvention, vertritt insbesondere den Anspruch, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit besonderen Bedürfnissen besser zu gewährleisten. Auch wenn diese Konvention ein großer Schritt in Richtung einer toleranteren Gesellschaft mit ausreichend Platz für "Anders-Sein" ist, stellt sich natürlich die Frage der Umsetzbarkeit der dort verankerten Grundsätze im alltäglichen Miteinander. Vor allem der dort erwähnte und eher noch unbekannte Begriff der Inklusion schafft bei einer systematischen Umsetzung in der Praxis weitläufig Probleme.


Im "Wüstennarrenschiff" von Berlin nach Bremen

Dass das Konzept der Inklusion, als Wertschätzung der Vielfalt, in seiner praktischen Umsetzung aber kein eigentliches Problem darstellt, zeigt unter anderem eindrucksvoll die Blaue Karawane. Schon bei ihrer Gründung in Bremen im Jahre 1985 hat sie sich auf die Fahnen geschrieben, Psychiatrie-Erfahrene in die Gesellschaft zurückzuholen und die Öffentlichkeit für Andersartigkeiten zu sensibilisieren.

So zog sie dann auch im Jahre 2009 zum vierten Male unter dem Motto "Zum Glück geht es anders" vier Wochen lang auf der Wasserstraße von Berlin nach Bremen. Angeführt wurde die Blaue Karawane, die rund 100 Menschen umfasste, von einem auf dem "Wüstennarrenschiff" schwimmenden überlebensgroßen Kamel namens WÜNA.

Ähnlich wie heutzutage Intoleranz, bürokratische Hürden und gesellschaftliche Inflexibilität einige Menschen an den Rand und somit aus der Gesellschaft drängen, wurden mit dem Narrenschiff in früheren Zeiten unliebsame Menschen aus der Stadt und somit aus der Gesellschaft hinausgebracht. Das "Wüstennarrenschiff" und die gesamte Blaue Karawane hingegen versuchen genau das Gegenteil. Sie bringen Ausgegrenzte, wie Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Migranten und Migrantinnen, ältere Menschen, Outsider und Outsiderinnen, wieder zurück in die Gesellschaft. Die Blaue Karawane versuchte nicht nur durch ihr Auftreten als Karawane, sondern auch mit zahlreichen Vorträgen, öffentlichen Aktionen, kulturellen Veranstaltungen und vielen Begegnungen mit der Bevölkerung während der Reise auf Ausgrenzung, Diskriminierung und Sozialabbau aufmerksam zu machen und will zugleich neue Zukunftsperspektiven und kreative Ideen aufzeigen.

Nicht nur bei den Mitreisenden, sondern auch bei allen Beteiligten und beim gesamten Publikum löste dieses Beispiel, wie gelebte Inklusion aussehen kann, eine unglaubliche Faszination aus. Es zeigt, wie es möglich ist, dass jeder und jede, auch jene Menschen vom Rande der Gesellschaft, mitwirken, dass die gesamte Gesellschaft bunter, reicher und lebenswerter wird.

Diese Begeisterung und Faszination wurde von der Filmemacherin Anne Blumenthal festgehalten. Sie und ihr Filmteam begleiteten die Blaue Karawane auf ihrer Reise. So entstand die Dokumentation "Das Narrenschiff", die eindrucksvoll die Vielfalt der Begegnungen unterschiedlichster Akteure bezeugt. Der Film hatte am 7. September 2010 Premiere in Bremen und ist im Verleih erhältlich. Er zeigt unter anderem, wie die viele Arbeit, die während der gesamten Karawane anfiel, von allen bewältigt wurde und wie alle gemeinsam gemäß ihren Möglichkeiten zum Projekt mit voller Hingabe beitrugen.


Das Blaue Haus

Als die Karawane nach vier Wochen vorbeigezogen war, stellte sich die Frage: "Und das soll es jetzt gewesen sein?"

Dadurch motiviert wurde 2009 in Berlin der Verein 'Das Blaue Haus Berlin' ins Leben gerufen. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Zuhause in der Mitte der Gesellschaft für Menschen unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihren finanziellen Möglichkeiten, ihren Behinderungen, ihrem Alter und ihrer Gesundheit zu schaffen. Es soll so eine bunt gemischte Gruppe aus Menschen mit Behinderungen, Psychiatrie-Erfahrenen, Outsidern und so genannten Normalen entstehen. Das geplante Wohnprojekt soll für alle Arten des Wohnens Möglichkeiten zur Verfügung stellen. So sollen geeignete Räumlichkeiten beispielsweise für Wohngemeinschaften, Familien, Singlehaushalte und Paare entstehen. Ein Teil dieses Wohnraumes ist für psychisch erkrankte und Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen reserviert, die in die Gemeinschaft des Projektes inkludiert werden, aber auch größtmögliche Autonomie erhalten. Neben dem Wohnbereich wird es auch einen Arbeitsbereich geben. Hier soll beispielsweise ein Atelierhaus entstehen, das nicht nur Arbeitsräume für Bewohner und Bewohnerinnen anbietet. Auch Künstler, Kuratoren, Besucher und Interessierte können hier arbeiten oder den vorhandenen Rahmen als Treff- und Informationspunkt nutzen. Weiterhin könnten ein gastronomischer Betrieb, Handwerk, Beherbergung oder sonstige Arbeitsbereiche entstehen, je nach räumlichen, personellen und finanziellen Ressourcen. Durch die enge Zusammenarbeit mit Pinel gGmbH steht ein kompetenter und erfahrener Partner zur Seite. Es bestehen vielfältige Kontakte zu Künstlern und Künstlerinnen.

Auch wenn der Weg zum Blauen Haus ein oftmals steiniger ist, hat die Blaue Karawane gezeigt, dass es nicht nur möglich ist, solch ein Projekt zu starten und zu Ende zu bringen, sondern auch, dass ein Stück gelebte Inklusion, trotz aller bürokratischen und gesellschaftlichen Hürden, erreicht werden kann.

Das Blaue Haus ist nicht nur auf der Suche nach einem Ort oder Räumlichkeiten, um die oben genannten Vorhaben zu realisieren, sondern zudem offen für eine Zusammenarbeit mit bereits bestehenden Projekten und könnte so durch die offene Konzeption soziale und inklusive Impulse geben. Über Anregungen, Bemerkungen und Spenden sind wir stets dankbar und sehr erfreut.


Für weitere Informationen besuchen Sie bitte unsere Homepage www.blaueshausberlin.de

Andreas Kroneder ist Soziologe und ehrenamtlich engagiert beim Blauen Haus Berlin.
E-Mail-Kontakt: andreas.kroneder@gwx.net

Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit Ule Mägdefrau, Kulturreferent bei Pinel gGmbH.

Die DVD "Das Narrenschiff" kostet 15 Euro und ist erhältlich bei www.bluebell.de


*


Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 133 - Heft 3, Juli 2011, Seite 22 - 23
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp

Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2011