welt der frau 11/2008 - Die österreichische Frauenzeitschrift
Kleine Märkte, große Chancen
Von Julia Kospach
Zwei Sozialprojekte in Oberösterreich verbinden bei ihren Einkaufsläden eine funktionierende Nahversorgung im ländlichen Raum mit Arbeit und Ausbildung von Menschen mit psychischen und physischen Handicaps. Der Erfolg ist verblüffend.
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Einen Tick anders
Die Minimärkte der pro mente im Salzkammergut
Aller Anfang ist schwer. Daran erinnert sich Helmut Steinkogler, Leiter des pro-mente-Projekts "Nahversorger-Minimarkt Salzkammergut", noch gut: "Als wir vor fünf Jahren den Minimarkt Bad Ischl aufgesperrt haben, sind Leute gekommen, die gefragt haben, ob das ansteckend sei und ob sie überhaupt weiter einkaufen kommen können." Helmut Steinkogler lacht. "Es ist spannend, wenn die Bevölkerung mit psychisch Kranken in Berührung kommt. Da gibt es viel Angst - auf beiden Seiten."
Inzwischen hat sich einiges geändert: Die Zahl der "Minimärkte Salzkammergut" ist auf vier angewachsen - Traunkirchen, Bad Ischl, Roith bei Ebensee, Steyrermühl - und Helmut Steinkogler kann voller Überzeugung sagen: "Das Gegenseitig-Brauchen ist der Erfolg des Projekts." Einerseits sind die Berührungsängste bei den KundInnen, die geblieben sind, schnell verschwunden. Andererseits sind die pro-mente-KlientInnen, die in den Minimärkten Lehrlingsausbildungen absolvieren, um dann an andere Arbeitsstellen vermittelt zu werden, hoch motiviert. Alle 18, die bisher hier gelernt haben, haben die Lehrabschlussprüfung geschafft. "Es ist etwas anderes, ob man irgendwo in einer geschützten Werkstatt töpfert oder ob man sich mit der Bevölkerung konfrontiert, arbeitet und gebraucht wird", sagt Helmut Steinkogler.
Zu diesen Erfolgen gesellt sich die Anerkennung: Heuer hat das Projekt den Anerkennungspreis der von der Wiener Unruhe-Privatstiftung vergebenen "SozialMarie 2008" erhalten, mit der innovative Sozialprojekte ausgezeichnet werden. Die Jury der "SozialMarie" würdigte die Minimärkte von pro mente Oberösterreich "als gelungene Kombination von Nahversorgung im ländlichen Raum und Entstigmatisierung von Menschen mit sozialen oder psychischen Handicaps".
Zeit für Neues
Innovationen entstehen nicht selten aus Bedürfnislagen. In diesem Fall war pro mente Oberösterreich auf der Suche nach Betätigungsfeldern für ihre Klientel, die sich aus Menschen mit verschiedenen und auch verschieden schweren psychischen Beeinträchtigungen zusammensetzt, und wusste gleichzeitig, dass in der Region Salzkammergut ein großer Bedarf an Nahversorgung besteht. Viele kleine, lokale Lebensmittelgeschäfte sperrten in den letzten Jahren als unrentabel zu. Stattdessen pendeln die Kunden mit dem Auto in die neu entstandenen Großsupermärkte und Einkaufszentren an den Peripherien. Wer kein Auto hat oder aufgrund von Alter oder Krankheit in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, tut sich schwer, die Besorgungen des täglichen Bedarfs zu machen.
Kein Laden für alle
Lokalaugenschein im pro-mente-Minimarkt in Bad Ischl, der in einer ehemaligen Konsum-Filiale in einer ruhigen Wohngegend am südlichen Ortsrand untergebracht ist. Wie in den anderen drei Minimärkten bekommen hier junge Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen eine Lehrlingsausbildung. Einige haben Depressionen, andere leiden unter einer Borderlinestörung oder einer Psychose, wieder andere haben oder hatten ein Suchtproblem. Zusätzlich beschäftigt der Lebensmittelmarkt kurzfristig Menschen aller Altersgruppen mit sozialpsychiatrischem Hintergrund und solche, die sich in einer schweren psychischen Lebenskrise an pro mente gewandt haben. Sie können einige Zeit hier mitarbeiten, um sich zu erholen und zu reintegrieren.
Pro mente hat die Filiale, die vor dem Aus stand, übergangslos vom Konsum übernommen - auch die Konsum-Filialleiterin Martina Kefer wechselte mit ins neue Projekt. "Der Minimarkt ist kein Supermarkt für alle", sagt sie, "viele, die früher beim Konsum eingekauft haben, kommen nicht mehr, weil es ihnen einfach zu langsam geht. Andere kommen gerade jetzt, weil sie das Projekt bewusst unterstützen." Eine Kundin erzählt: "Ich bin schon früher hier einkaufen gegangen. Ich komme her, wenn ich zwischendurch was brauche. Mir ist es wurscht, ob hier Behinderte oder Beeinträchtigte arbeiten. Ich hab selber einen behinderten Buben. Ein bissl langsamer geht halt alles, aber das ist okay."
Zeit für die Kunden
Tatsächlich gehen hier die Uhren etwas anders als in anderen Supermärkten - in mehrerer Hinsicht: Zum Beispiel gibt es eine aus Ziegeln gemauerte Bar mit Barhockern, wo man einen Kaffee trinken und plaudern kann. Viele KundInnen, vor allem die älteren, nehmen das gerne in Anspruch. Es ist gerade die Entschleunigung der Abläufe, die ihnen gefällt, das Plaudern, mit dem man die Zeit füllt, in der man ein wenig länger wartet als anderswo. An diesem Donnerstagvormittag sind drei Lehrlinge, zwei Zivildiener, drei Verkäuferinnen und Filialleiterin Martina Kefer da. Das ist viel für einen kleinen Supermarkt und übertrifft nicht selten die Zahl der Einkaufenden. "Das ist so bei uns", sagt Martina Kefer. Normalerweise ist auch noch jemand für die psychosoziale Betreuung der Lehrlinge da. "Die BetreuerInnen sind meistens am Vormittag da. Wenn einer von uns reden will, dann reden wir. Sonst arbeiten sie einfach mit uns mit", erzählt die 17-jährige Tanja Oberascher, die ihr erstes Lehrjahr hinter sich hat. Und Natascha Palfi, 21, berichtet vom Nachhilfeunterricht, den pro mente ihren Lehrlingen, die ja auch die Berufsschule besuchen, anbietet: "Wir haben Mathematik- und Englischstunden, die auch die BetreuerInnen machen."
Zustellservice kommt an
Ein Mann mit einem kleinen Buben, der im Einkaufswagerl sitzt, kommt herein. Lehrling Natascha lächelt und sagt zu ihm: "Hallo, Markus, wie geht's dir denn heute? Musst du fremdeln?" "Ja, fremdeln", sagt der Bub und alle lachen. Gelacht wird überhaupt viel. Der Großteil der KundInnen sind StammkundInnen, die meisten kommen aus der unmittelbaren Nachbarschaft, viele sind älter. Dreimal pro Woche bieten die Minimärkte auch ein Heimzustellservice an: Aber zur Überraschung aller sind es nicht die Alten, die es in Anspruch nehmen. Die kommen, solange sie nicht wirklich krank sind, selbst vorbei, weil das Einkaufen das eigentliche Ereignis für sie ist. "Wenn einer der Lehrlinge drei Wochen auf Urlaub ist, erkundigen sich die KundInnen, ob es ihm vielleicht nicht gut geht", erzählt Helmut Steinkogler.
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Chancen für Talente
Der Spar-Markt der Caritas Oberösterreich in St. Florian
Das ist eine Beobachtung, die auch Wolfgang Scheidl, Ausbildungsleiter der "Caritas für Menschen mit Behinderung Oberösterreich" in dem Spar-Markt gemacht hat, den die Caritas im Juni 2007 übernommen hat, um dort Jugendliche mit Beeinträchtigungen auszubilden. "Achtzig Prozent der Leute, die einkaufen kommen, kennen die Jugendlichen beim Namen, fragen nach ihnen, wenn sie nicht da sind, und haben ihre Lieblinge", erzählt Scheidl. "Die älteren Leute aus der Nachbarschaft kommen zu mir in die Feinkost, wo ich arbeite, und sagen: 'Du bist aber eine ganz Liebe'", erzählt die 18-jährige Yvonne Aigner lächelnd. Letzten November hat der Caritas-Spar eine Kundenbefragung gemacht. Das Ergebnis: 98 Prozent der Befragten fanden es toll, dass die Jugendlichen diese Chance auf eine Ausbildung bekommen. Und sie fanden, es gäbe keinen Supermarkt, in dem das Personal so freundlich sei. Solveig Just, 20, die seit Februar in der Lehre ist, sagt: "Wir helfen den Leuten beim Tragen oder wenn sie im Regal was brauchen." Aber auch Jugendliche wie Christoph Niederhumer, der aufgrund seiner autistischen Störung im Kundenkontakt nicht einsetzbar wäre, sind hier gut aufgehoben. Ausbildungsleiter Scheidl: "Als Regalbetreuer und bei der Inventur ist er unersetzlich. Da blüht er richtig auf. Er weiß von jedem Produkt, wo es steht, und er ordnet alles auf den Millimeter genau ein."
Gefragte Lehrlinge
Anders als im Salzkammergut werden in dem Caritas-Spar-Markt in St. Florian bei Linz in erster Linie Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen und kognitiven Störungen ausgebildet. Viele haben Lernstörungen, ein Mädchen ist gehörlos. Bereits nach einem Jahr zeichnet sich ab, dass auch dieses Anti-Stigma-Sozialprojekt ein großer Erfolg ist. "Die Lehrlinge, die wir hier ausbilden, reißen uns andere Spar-Märkte buchstäblich aus den Händen. Und die Lehrlinge selbst sind begeistert - mehr, als das sonst bei Lehrlingen üblich ist", sagt Wolfgang Scheidl. Nach dem Grund gefragt, meint er: "Sie haben genau überrissen, dass das ihre Chance ist. Deswegen war die Motivation der Jugendlichen von Anfang an unser geringstes Problem."
Information für die Kunden
Spar wollte seine Filiale, die unweit des berühmten Stiftes St. Florian liegt, schließen, weil woanders eine größere eröffnet wurde. Die Caritas übernahm die Filiale, wodurch der Standort erhalten blieb, übernahm auch eine Reihe von MitarbeiterInnen, verwaltet und finanziert sich selbst, wird aber von Spar mit seinen Produkten beliefert und bekommt für die Lehrlinge Förderungen von Land und Bundessozialamt. Am Eingang hängt ein Plakat, das den KundInnen mitteilt: "In diesem Spar-Markt erhalten Jugendliche mit Beeinträchtigung eine Ausbildung." Wolfgang Scheidl hat lange über diese Formulierung und die Frage, ob man den KundInnen einen Hinweis auf die Besonderheit dieses Supermarktes geben sollte, nachgedacht: "Wir wollten keine stigmatisierenden 'Achtung, hier arbeiten Behinderte!'-Schilder oder Ersuchen wie ,Bitte nehmen Sie Rücksicht!' Das hätte nur dazu geführt, dass die Leute schon mit bestimmten Erwartungshaltungen hineingehen."
Vorurteile sind ein komplexes Gefüge
Die erste Reaktion vieler KundInnen auf die Lehrlinge des Spar-Markts St. Florian war zum Beispiel ein verblüfftes "Das erkennt man ja nicht einmal!". Die Vorurteile merkt man - im Positiven wie im Negativen - auch an der Art der Kundenbeschwerden, erzählt Wolfgang Scheidl: "Wir kriegen wenig Beschwerden, aber wenn, dann wird ihnen sofort das Behindertenmascherl umgehängt. Entweder ist die Behinderung schuld, wenn die Wurst zu dick geschnitten worden ist, oder die Leute trauen sich aus falscher Rücksicht gar nichts sagen." Dadurch wird klar: Lernen tun hier nicht nur die Jugendlichen selbst, auch die KundInnen lernen etwas: über sich und ihre Vorurteile und vor allem, wie sie mit der Zeit vielleicht anders damit umgehen.
Dass die Arbeit im Caritas-Spar-Markt für die Jugendlichen selbst so reizvoll ist, hat mehrere Gründe. Zum einen genießen sie es tatsächlich zu arbeiten. Und zwar nicht in einer geschützten Werkstatt, sondern in einer realen Arbeitswelt, in der sie reale Anforderungen erfüllen müssen. Der Effekt ist mitunter erstaunlich: Die freundliche Yvonne Aigner erzählt, dass sie bisher in der Berufsschule nach Sonderschulkriterien geprüft wurde. Gestern hat sie erfahren, dass sie ab dem nächsten Schuljahr wegen ihrer guten Noten von der Teillehre in die normale Lehre übernommen wird. "Meine Mama hat sich voll gefreut, dass ich vom Sonderschulstoff weg bin. Früher hat es mir nicht so Spaß gemacht zu lernen. Jetzt lern' ich viel", sagt Yvonne. Die Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben.
Übung in Solidarität
Den Lehrlingen stehen Menschen mit besonderem Verständnis gegenüber - Menschen wie Filialleiterin Helga Stoppel: "Das Projekt hat mich begeistert. Deshalb hab ich ja gesagt." Die zuerst von der Caritas übernommene Spar-Filialleiterin war nach kurzer Zeit gegangen. Die Arbeit mit den Jugendlichen hatte sie überfordert und nicht interessiert. Helga Stoppel übernahm ihren Platz: "Da muss man mit Herz und Seele dabei sein. Es ist anstrengend und es braucht viel Geduld und Verständnis. Wenn man sich nicht mit dem Projekt identifiziert, ist man fehl am Platz."
Die Zusammenarbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen ist immer auch eine Übung in Solidarität, zu der man von sich aus bereit sein muss - das gilt auch für die KollegInnen, auf die die hier ausgebildeten Lehrlinge an ihren späteren Fix-Arbeitsplätzen in anderen Supermärkten treffen. Caritas-Ausbildungsleiter Wolfgang Scheidl ist überzeugt: "Wenn irgendwo ein Klima von 'Ich helf dir sicher nicht, mir hilft ja auch keiner' oder von 'Du kostest uns nur Zeit' herrscht, dann kann es nicht funktionieren."
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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 11/2008, Seite 14-17
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Februar 2009