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MEDIZIN/167: Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung als Patienten (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 3/2009

EINBLICK
Menschen mit so genannter geistiger Behinderung als Patienten

Stiefkinder der Medizin


Werden Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung krank, erhalten sie häufig falsche oder gar keine Diagnosen. Ärzte deuten ihre Symptome oft nicht richtig - und manchen ist ihre Behandlung schlicht zu teuer.


"Immer öfter", sagt Corinna Hast, "gehen Menschen mit Behinderung nicht mehr zum Arzt, weil sie für Medikamente zuzahlen müssen. Sie haben auch Angst davor, dass sie nichts verstehen. Ärzte sollten sich besser auskennen und verständlicher mit uns sprechen." Corinna Hast gehört dem Rat behinderter Menschen der Bundesvereinigung Lebenshilfe an und teilt mit vielen anderen Betroffenen die Erfahrung, dass Ärzte sich nicht für sie zuständig fühlen oder über sie hinwegreden.

Als Patientengruppe sind geistig und mehrfach behinderte Menschen doppelt benachteiligt: Sie haben einen erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf, können ihn aufgrund ihrer Behinderung aber oft nicht durchsetzen. In Deutschland gibt es rund 400.000 Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, und wie die Durchschnittsbevölkerung werden auch sie immer älter. Nach der Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten erreicht in Deutschland nun überhaupt erstmals eine Generation von Behinderten das Rentenalter, und mit dem medizinischen Fortschritt steigt auch ihre Lebenserwartung. Noch vor 30 Jahren starben 75 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom vor der Pubertät, 90 Prozent erreichten nicht einmal das 25. Lebensjahr; heute werden die betroffenen Menschen bereits 60 Jahre und mehr - und ihre Lebenserwartung steigt jährlich um 1,7 Jahre. Das stellt neue Anforderungen an das medizinische System.

Zwar ist Behinderung keine Krankheit, doch es gibt ein erhöhtes Krankheitsrisiko, das entweder mit der Behinderung selbst oder mit den besonderen Lebensumständen dieser Personengruppe zusammenhängt. Ihr Recht auf medizinische Versorgung wäre sogar einklagbar, denn die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen, die 2009 auch in das deutsche Sozialrecht umgesetzt wurde, verlangt, dass Menschen mit Behinderung quantitativ und qualitativ die gleiche medizinische Versorgung zusteht wie allen anderen Patienten.

Die Realität sieht allerdings anders aus. Während Kinder und Jugendliche mit Behinderung in den 120 pädiatrischen Zentren in Deutschland noch relativ gut versorgt werden, beginnen die Probleme beim Übergang ins Erwachsenenalter. Dann fühlt sich niemand mehr zuständig.

Auf diese medizinischen Versorgungsdefizite von erwachsenen und älteren Menschen mit Behinderung richtete sich auch der Blick auf einer Tagung, die die Bundesvereinigung Lebenshilfe zusammen mit der BAG kürzlich in Potsdam unter dem Motto "Gesundheit fürs Leben" veranstaltete. Es fehle, so Verona Mau zum Auftakt, nicht nur an institutionellen Strukturen - also ausgewiesenen Zentren, die auf die Belange von Behinderten spezialisiert sind -, sondern in der Regelversorgung herrsche auch ein erschreckendes Unwissen, verbunden mit einer ausgeprägten Interesselosigkeit. Niedergelassene Ärzte oder Klinikkollegen seien auf diese Patientengruppe und ihre besonderen Bedürfnisse nicht vorbereitet, es mangle an Kenntnissen über deren spezielle Krankheiten und Lebensumstände.

Schwierigkeiten im kommunikativen Umgang mit behinderten Menschen und der ohnehin chronische Zeitmangel in den Arztpraxen führen dazu, dass es Menschen mit Behinderung schwer haben, medizinische Ansprechpartner zu finden. Am besten fühle sie sich bei ihrem Neurologen verstanden, teilt Corinna Hast ihre Erfahrung mit, die von Anderen bestätigt wird. (...)

"Es gibt immer wieder Fehldiagnosen", fasst die Ärztin Jeanne Nicklas-Faust von der Lebenshilfe ihre Erfahrungen zusammen, "weil die Anamnese nicht ordentlich funktioniert und weil es an Wissen mangelt. Wir kennen Fälle, wo Menschen zu Tode abmagern und nicht erkannt wird, dass sie sich aufgrund ihrer Magen-Darm-Erkrankung gegen die Nahrungsaufnahme wehren, weil sie Schmerzen haben oder das Essen die Speiseröhre nicht mehr passieren kann. Das kann sogar lebensgefährlich werden." 42 Prozent der Gesundheitsprobleme von schwer Behinderten, so Jörg Augustin, würden gar nicht festgestellt, und wenn eine Diagnose gestellt werde, bleibe die Krankheit in der Hälfte der Fälle unbehandelt.

Tatjana Voß vom Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge in Berlin (KEH), berichtet, dass bei fast zwei Drittel aller behinderten Patienten, die in der psychiatrischen Abteilung ankommen, eine oder mehrere somatische Nebendiagnosen gestellt werden, am häufigsten Epilepsie und Magen-Darm-Erkrankungen. Oft werden diese Patienten im Vorfeld pharmakologisch behandelt, weil die Ärzte unsicher sind und eher eine psychische Krankheit unterstellen statt nach körperlichen Ursachen einer Verhaltensauffälligkeit zu fahnden. Diese Unsicherheit ist verbreitet und darauf zurückzuführen, dass Ärzte während des Studiums und danach kaum auf behinderte Patienten vorbereitet werden. (...)

Im Nachbarland Niederlande ist man weiter: In Rotterdam gibt es den weltweit ersten Lehrstuhl für die medizinischen Belange von geistig Behinderten. Und im Nachbarland gibt es auch rund 150 Fachärzte für die Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung. Aber auch die traditionell starke Rolle des Hausarztes und seine Vernetzung mit Fachärzten ermöglicht dort eine bessere Versorgung dieser Patientengruppe. Um den in Deutschland herrschenden Missstand zu überbrücken, bietet die BAG ein Fortbildungscurriculum an, das unabhängig von den zuständigen Landesärztekammern die Qualifizierung der Mediziner vorantreibt. Dort können Ärzte zum Beispiel lernen, dass Patienten, die sich verbal nicht oder nur vermittelt äußern können, auf Schmerzen anders reagieren. (...)

Des kommunikativen Nachholbedarfs von Ärzten im Umgang mit Behinderten hat sich mittlerweile die Sonderpädagogik in Deutschland angenommen. Im Frühjahr veranstaltete die in München ansässige "Stiftung Leben pur" eine Fachtagung, in der es auch darum ging, aus der Körpersprache von Menschen mit Behinderung Rückschlüsse auf deren Gesundheitszustand zu ziehen. Susanne Wachsmuth befasst sich seit vielen Jahren mit den spezifischen körperlichen Äußerungsformen: Visuelle Probleme oder Lähmungen beeinträchtigen den Blickkontakt und zwingen die Kinder dazu, eine Zeichensprache zu entwickeln, die oft nicht einmal die Bezugspersonen ohne weiteres verstehen. Gerade weil Eltern das Symbolsystem ihrer behinderten Angehörigen in der Regel am besten verstehen, reagieren sie aufgeschreckt, wenn das Kind sich plötzlich anders verhält - es nicht mehr lallt, kein Interesse an der Umwelt zeigt oder sich selbst verletzt - und sie die Zeichen nicht deuten können. Eltern, skizziert Bärbel Popp, Mutter einer schwer behinderten Tochter, ihre Rolle, seien immer auch die Ko-Partner im medizinischen System. "Wir sind es, die 'übersetzen' und eine adäquate Behandlung einfordern, wenn stillschweigend die Frage im Raum steht: 'Lohnt sich das überhaupt?'"

"Menschen mit schwerer Behinderung sind aufwändige Patienten", stellt Jeanne Nicklas-Faust fest, "für die es nicht mehr Geld gibt und die deshalb gezielt ausgegrenzt werden. Wir wissen von Praxen und Kliniken, die diese Patienten rauszuekeln versuchen, und viele Krankenkassen nehmen Menschen mit Behinderung nicht gerne auf."

Den erhöhten Zeitaufwand zu beziffern, sei schwierig, sagt Verona Mau von der BAG, und hänge unter anderem vom Mischverhältnis behinderter und nicht behinderter Patienten, die in einer Praxis betreut werden, ab. Spezialisiert sich ein niedergelassener Arzt ausschließlich auf Patienten mit Behinderung, kann er nicht, wie sonst vielfach üblich, 1.000 Fälle im Quartal versorgen, sondern je nach Facharztrichtung nur 250 bis 350. Eben dies müsste sich in den Vergütungsstrukturen widerspiegeln.

Die Bundesregierung sieht, wie sich aus der Antwort auf eine "Kleine Anfrage" der FDP-Fraktion 2008 ersehen lässt, indes keinen akuten Handlungsbedarf: "Der Bundesregierung liegen keine Daten vor, die eine umfassende Beschreibung der gesundheitlichen Situation von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ermöglichen", heißt es dort. Schwierigkeiten im Rahmen der ambulanten ärztlichen Versorgung seien nicht bekannt. Wie sollten Erkenntnisse auch gewonnen werden, wenn entsprechende Forschungen gar nicht in Auftrag gegeben werden?

Immerhin hält der Präsident der Bundesärztekammer die medizinische Versorgung von Menschen mit schweren körperlichen und psychischen Behinderungen "für unzulänglich und bedenklich" und der Deutsche Ärztetag hat sich für den Ausbau spezialisierter Zentren und die bessere Honorierung der Versorgung von behinderten Menschen ausgesprochen. Die Landesärztekammern sollen bewegt werden, die Aus- und Weiterbildung auf diesen Bereich auszuweiten. (...)

Die Chancen dafür stehen in einer Zeit, in der Ärztechef Hoppe vor kurzem eine Rationierungsdebatte losgetreten hat, allerdings nicht besonders günstig. Die unausgesprochene Frage "Lohnt sich das?" könnte auch in Bezug auf Menschen mit Behinderung lauter werden. Die augenfällige Diskrepanz zwischen verbrieften Rechten von Behinderten und ihrer realen Situation löst Nicklas-Faust so auf: "Die UN-Konvention formuliert die Rechte für Menschen mit Behinderung so, dass sie auch für Menschen ohne Behinderung gültig sind. Es wird davon ausgegangen, dass Letztere ihre Rechte durchsetzen. Diese Möglichkeit hat unsere Personengruppe aber nicht, und es könnte sein, dass sie im Rahmen der Normalisierung eher in die Ecke gedrängt wird als zu Zeiten, als sie zwar keine Rechte hatte, aber immerhin umfassende Fürsorge. Eine Nebenwirkung der Inklusionsdebatte könnte sein, dass die speziellen Bedürfnisse von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung vernachlässigt werden." (...)


Der Fall von Herrn A.

Der 37-jährige Herr A. mit Down-Syndrom, wird wegen monatelang anhaltender Appetitstörung, Gewichtsabnahme und Antriebslosigkeit in die psychiatrische Abteilung des Königin-Elisabeth-Herzberge Krankenhaus in Berlin-Lichtenberg eingewiesen. Er leidet seit zwei Jahren an einer urologisch diagnostizierten, angeblich harmlosen Hydrozele (Hodenschwellung). Bei der Computertomografie werden ein rechtsseitiger Hodentumor, Metastasen in den Lymphknoten, außerdem Thrombosen in den Beinvenen und eine beidseitige Lungenembolie festgestellt. Nach Abwägung der schlechten Prognose verzichten die Ärzte auf eine weitergehende Therapie. Der Patient wird entlassen und stirbt drei Monate später.


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Quelle:
Selbsthilfe 3/2009, S. 32-33
Zeitschrift der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
Herausgeber: BAG Selbsthilfe
Kirchfeldstr. 149, 40215 Düsseldorf
Tel.: 0211/31 00 6-0, Fax: 0211/31 00 6-48
E-Mail: info@bag-selbsthilfe.de
Internet: www.bag-selbsthilfe.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2009