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MEDIEN/216: 50 Jahre DER RING - Die Schatten der Vergangenheit (Der Ring)


DER RING
Zeitschrift der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel - Juli 2011

50 Jahre DER RING 1961-2011

Die Schatten der Vergangenheit

Von Silja Harrsen


Es ist 1991. Der Kalte Krieg ist vorbei. Die West- und Ostmächte reichen sich die Hände. Deutschland ist wieder vereint. Das weltpolitische Ereignis hat Auswirkungen auf Bethel. "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört", hat der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt nach dem Fall der Mauer gesagt. Und das gilt jetzt auch für die Hoffnungstaler Anstalten Lobetal in Brandenburg und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.


Vierzig Jahre waren die beiden Einrichtungen durch die innerdeutsche Grenze getrennt. Als DER RING im Februar 1991 den Aufsichtsratsvorsitzenden Wilfried Kisker zum Thema Einheit interviewt, kann dieser bereits gute Nachrichten verkünden. Er sei froh und glücklich darüber, dass Lobetal nun zum Verbund der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gehöre, sagt er. Aber: "Die Probleme der Wiedervereinigung im großen sind die Probleme Lobetals im kleinen. Daß auch in Lobetal Häuser auf Grundstücken gebaut sind, deren Eigentumsrechte nach unseren Vorstellungen ungeklärt sind, ist ein weiterer Umstand, und wir werden mit ihm leben müssen und ihn zu lösen versuchen", benennt Wilfried Kisker einen der vielen Stolpersteine auf dem Weg zur Einheit.

Das 86. Lobetaler Jahresfest im Juni desselben Jahres steht ebenfalls ganz im Zeichen des Zusammenwachsens. In seiner Festpredigt in der Lobetaler Waldkirche spricht Johannes Busch, Anstaltsleiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, auch Schmerzliches an. "Gerade hier im Osten merken die Menschen zurzeit, wie unbarmherzig man mit ihnen umgeht", verweist er auf das schwierige Verhältnis zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen. "Die einen spielen sich als Fachleute auf, geben vor, was richtig und falsch ist, und die anderen lassen sich das dann vielleicht auch ganz gerne gefallen." Dieser Weg sei falsch, wird der Anstaltsleiter im RING zitiert. "Wir brauchen die Kraft, einander zu achten und zu respektieren. Sie kann nur erwachsen aus der Barmherzigkeit Gottes."

Mehr als einmal gibt es im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Gründe, um Gottes Barmherzigkeit zu erbitten. Am 26. November 1992 treffen sich Mitarbeitende und andere erschütterte Bürgerinnen und Bürger spontan zum Friedensgebet in der Zionskirche in Bethel. Drei Tage zuvor verübten Neonazis Brandanschläge auf zwei Wohnhäuser in Mölln, in denen türkische Familien lebten. Drei Menschen sterben, neun werden verletzt. Unter der Überschrift "Friede auf Erden" schreibt Gernot Bock, Pfarrer der Zionsgemeinde, im Januar 1993 im RING: "Wir haben unsere Trauer, unsere Betroffenheit, unser Unverständnis, unsere Scham und vielleicht auch unseren Zorn zum Ausdruck gebracht. Was in Mölln geschehen ist, scheint uns unvorstellbar, gerade weil wir bis vor wenigen Monaten noch hofften, die Gespenster der Vergangenheit würden nicht mehr lebendig werden."

Um Vergangenheitsbewältigung geht es auch bei einer ganz besonderen Veranstaltung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Im Mai 1994 berichtet DER RING über den Besuch von Tadeusz Zaleski in der Kollegschule in Bethel. Tadeusz Zaleski, ein polnischer Intellektueller, war als junger Mann in die Fänge der Nationalsozialisten geraten und kam ins Konzentrationslager Auschwitz. "Durch die Verbindung seiner Schwester und seiner Freundin, die in Schindlers Emaillefabrik arbeiteten, ist er aus dem KZ herausgeholt worden und konnte überleben", so DER RING.

Der Zufall will es, dass der Besucher aus Polen genau zu dem Zeitpunkt einer Einladung nach Bethel nachkommt, als in den Kinos der Film "Schindlers Liste" läuft. So liegt es nahe, sich mit dem Augenzeugen gemeinsam den Film anzuschauen und im Anschluss daran zu diskutieren. Über die Bethel-Veranstaltung im Kino Capitol in Bielefeld berichtet DER RING unter der Überschrift "Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung": Schindlers Liste, ein amerikanischer Kinofilm, schaffe neues Bewusstsein für das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit. Der Film läuft seit zwei Monaten in Bielefeld, bei der Bethel-Veranstaltung ist das Kino ein weiteres Mal ausverkauft.


Verhörmethoden

In den 90er-jahren gibt es zwei Gesellschaften für Psychiatrie. Die eine hat ihren Sitz in Köln, die andere in Leipzig. Ende 1991 treffen sich der West- und der Ost-Fachverband zum ersten Mal. Die gemeinsame Mitgliederversammlung findet im Assapheum in Bethel statt, und DER RING ist mit dabei. Bei der Versammlung wird auch über das Staatssystem der DDR gesprochen. "Das Schlimmste war, dass sich der Sicherheitsapparat bei seinen Verhören Methoden aus der Psychiatrie bediente und so deren Auftrag brutal ins Gegenteil verkehrte", zitiert DER RING einen Teilnehmer. Der Historiker Armin Mittler aus Ost-Berlin warnt jedoch vor einer "Hexenjagd" auf Menschen mit Stasi-Vergangenheit, weil man bei der Beurteilung der Verhältnisse in der ehemaligen DDR niemals das repressive System der Stasi unterschätzen dürfe.

1992 bekommen die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ein Corporate Design und infolgedessen DER RING ein neues Aussehen. Zur Farbe Schwarz gesellt sich Blau - "schlüpferblau" - wie kritische Betrachter behaupten. Verantwortlich für das erste Corporate Design in der Geschichte Bethels zeichnet der Heidelberger Grafik-Designer und Typograf Erwin Poell. Im Interview erklärt er der RING-Leserschaft, warum ein einheitliches optische Erscheinungsbild für ein Unternehmen wichtig ist: "Zum einen soll durch die Vereinheitlichung der gestalterischen Mittel ein typisches Gesicht entstehen, das dem Empfänger die Zuordnung erleichtert und nach innen ein gewisses Wir-Gefühl pflegt." Zum anderen habe Corporate Design auch eine gesellschaftliche Komponente. In einer anonymen Massengesellschaft würden übergreifende Merkmale benötigt, die die Identifikation nach innen und die Kenntlichkeit nach außen förderten.

1995, im 35. Jahr des Erscheinens, erfährt DER RING ein weiteres Mal eine Überarbeitung. Das Magazin befreit sich vom A-5-Format und erhält die Maße, die bis heute gelten. Im Dezember 1995 ist zu lesen: "Auch wenn die Zeitung nicht am Kiosk in den Auslagen überzeugen muss, so sollte sie doch modern, mindestens aber zeitgemäß daherkommen."

Bethel ist modern. Auch deshalb, weil die Menschen modern denken. Pastor Johannes Busch schreibt im November 1993 in der Rubrik "Aus Bethel - Für Bethel" über die Gemeinschaft mit homosexuell lebenden Menschen: "Wir haben in der Gemeindevertretung der Zionsgemeinde und in der Pfarrkonferenz mit homosexuell begabten Menschen gesprochen. Wir haben begonnen, zu verstehen, wie es diesen Menschen in der Kirche und in der christlichen Gemeinde geht. Wir haben erfahren, dass sich Menschen, die die Schöpfergabe der Sexualität anders leben als die Mehrheit ihrer Mitmenschen, ausgeschlossen fühlen."

Erste Reaktionen auf den Artikel des Anstaltsleiters veröffentlicht DER RING im Januar 1994. Ein Leser empört sich: "Jesus Christus hat, was Sexualität betrifft, doch wohl klare Vorgaben gegeben: Begabung zur Ehe oder Bestimmung zur Nichtehe." In der darauf folgenden RING-Ausgabe wird Johannes Busch jedoch für seine mutigen Worte ausdrücklich gelobt: "Von homosexueller Begabung zu sprechen, fanden wir besonders bemerkenswert, da hier die Achtung der individuellen Menschenwürde zum Ausdruck kommt", so eine Leserreaktion.

In den Jahren von 1991 bis 1995 bekommen die Menschen in Bethel keinen Besuch vom Bundespräsidenten oder dem deutschen Kanzler, sondern von gekrönten Häuptern. Der japanische Tenno und seine Frau Michiko besuchen auf eigenen Wunsch Bethel im Sommer 1993. "Sie durchbrachen die strengen Protokollvorschriften und gingen auf die Bewohner unmittelbar zu", steht im RING. Es sei ein außergewöhnliches Fest in gelöster und fröhlicher Atmosphäre gewesen. Viele Menschen sind live dabei und werden Zeugen der herzlichen und unbefangenen Begegnungen zwischen Kaiserpaar und Bewohnern.

Auch etliche Medienvertreter sind gekommen, um über das Ereignis zu berichten. DER RING druckt in der Oktoberausgabe 1993 einige Zeitungskommentare ab, unter anderem auch den des Rheinischen Merkurs: "Staatsbesuche, oft belächelt, haben doch ihr Gutes: Sie lenken unser Augenmerk abseits festlicher Essen und höflicher Reden auf manches, was sonst versteckt wird." Und der Leiter des Dankorts, Pastor Walter Schroeder, bringt es auf den Punkt: "Bethel war in den Schlagzeilen, nicht als Sensation, sondern als Ort, in dem Menschlichkeit versucht wird. Ist das nichts?"


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Quelle:
DER RING, Juli 2011, S. 16-18
Monatszeitschrift für Mitarbeiter, Bewohner, Freunde
und Förderer der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Herausgeber: Pastor Ulrich Pohl in Zusammenarbeit mit der
Gesamtmitarbeitervertretung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Redaktion: Quellenhofweg 25, 33617 Bielefeld
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E-Mail: presse@bethel.de
Internet: www.bethel.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2011