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KULTUR/148: Werkstatt-Galerie 37 - Skulpturen blind erschaffen (Selbsthilfe)


Selbsthilfe - 1/2013

Werkstatt-Galerie 37
Skulpturen blind erschaffen

Von Heike-Marei Heß



Mit der "Werkstatt-Galerie 37" unterhält die Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte seit 24 Jahren ein bundesweit einmaliges Angebot zur Freizeitgestaltung für Blinde und Sehbehinderte. Hier trifft sich Saban Tekin zweimal wöchentlich mit einer Gruppe von blinden und sehbehinderten Erwachsenen, die mit ihm dieselbe Leidenschaft teilen: Das Gestalten mit Speckstein.


"Stolz bin ich schon auf die Skulpturen, die ich hier gemacht habe". Begeistert führt Saban Tekin durch die "Werkstatt-Galerie 37" und stellt die von ihm geschaffenen Specksteinskulpturen - ein Haifisch, ein Igel, eine Katze und ein Moped - vor. Saban Tekin erblindete vor sieben Jahren. In der Stiftung lernte er im Rahmen einer blindentechnischen Grundausbildung auch die "Werkstatt-Galerie 37" und das Material Speckstein kennen. "Gestalten mit Speckstein ist jetzt, neben Hörbücher hören, mein liebstes Hobby".


Speckstein animiert zum Tasten

Unterstützt wird die Gruppe dabei von Heike-Marei Heß, seit 2005 Leiterin der Werkstatt-Galerie 37. "Die erste Unsicherheit ist schnell überwunden" erzählt sie. "Mit jedem Objekt - sei es ein kleiner Handschmeichler oder ein Kopf aus Speckstein - wachsen die Kenntnisse in der Handhabung von Material und Werkzeug und das Zutrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit". Der beste Brückenbauer ist dabei der Speckstein selbst. Seine sich glatt und seidig anfühlende Oberfläche animiert zum Tasten. Mit Feilen, Raspeln und Schnitzmessern lässt sich das Weichgestein leicht in die gewünschte Form bringen. Trotz seiner geringen Härte bleibt Speckstein beim Betasten formstabil - eine wichtige Voraussetzung für die blinden und sehbehinderten Künstler, die ihre Formvorstellung über den Tastsinn gewinnen.


Kreativität statt festem Kursprogramm

"Die Mitglieder der "Werkstatt-Galerie 37" folgen keinem festgelegten Kursprogramm. In der "offenen Werkstatt" sehe ich meine Aufgabe in der individuellen Beratung und Begleitung der einzelnen Teilnehmer" erläutert Frau Heß.

"Derzeit gestalte ich ein offenes Buch", stellt Saban Tekin seine aktuelle Arbeit vor. "Frau Heß hat mir eine rechteckige Grundform zugeschnitten. Auf den Flächen waren deutlich feine Rillen zu fühlen, die beim Sägen des Steines entstanden sind. Mit einer Feile habe ich zunächst die Oberflächen geglättet. Anhand tastbarer Hilfslinien - Rillen im Stein - habe ich dann die beiden Hälften des Buchblocks und den Buchdeckel herausgearbeitet. Die Oberseite und Unterseite des Buches werden jetzt noch glatt poliert. Dazu benutze ich Schleifschwämme in verschiedenen Körnungen, von grob über mittel zu sehr fein. Am Schluss wird der Stein mit Steinöl eingelassen und mit einem Tuch poliert. Die verschiedenen Farben kann ich natürlich nicht erkennen. Aber ich weiß, dass es schwarze, grüne, braune, weiße, gelbliche und sogar rosafarbene Specksteine mit unterschiedlichen Maserungen gibt. Heute beginne ich mit der Arbeit an einem Elefanten. Wir haben hier in der Werkstatt ein sehr gutes Modell aus Kunststoff, an dem man sich orientieren kann.


Zum Fühlen anregen

Sascha Hübner, ebenfalls langjähriges Mitglied der "Werkstatt-Galerie 37" arbeitet an einem weißen Speckstein, der zur Stabilisierung auf einem Sandsack liegt. Mit beiden Händen umfasst er die Enden einer großen Raspel und zieht sie langsam über die Oberfläche. Zwei Seiten des Steines sind mit einer gegenläufigen Struktur aus dünnen parallelen Rillen überzogen, eine Art Markenzeichen, an dem sich seine "Haptischen Erlebnisse" erkennen lassen. "Mir geht es darum, mit meinen Skulpturen Menschen zum Fühlen und Tasten anzuregen. Deswegen kombiniere ich unterschiedliche Materialien wie Holz, Speckstein, Kalkstein und Metall. In der Regel dürfen in Ausstellungen Skulpturen nicht berührt werden. Dank der UN-Behindertenrechtskonvention sind jetzt auch öffentliche Institutionen gehalten, für Menschen mit Behinderung barrierefreie Zugänge zu schaffen. Das gibt auch uns Blinden und Sehbehinderten die Möglichkeit, in Museen und Ausstellungen Kunstwerke zu erleben. Und für unsere hier ausgestellten Skulpturen gilt generell: Bitte berühren!"


Gestalten und Plaudern in lockerer Atmosphäre

"Ich habe seit meiner Kindheit gern gemalt und gezeichnet", erzählt Angelica Eby. "Mit meiner Sehbehinderung ist mir das leider nicht mehr möglich. Seit drei Jahren genieße ich die lockere Atmosphäre und die Gespräche mit den Anderen. Diesen Gipsabguss habe ich im letzten Jahr in der Restaurierungswerkstatt des Archäologischen Museums Frankfurt am Main hergestellt. Dargestellt ist die Gorgo Medusa, die jeden, der sie anblickt, zu Stein erstarren lässt. Das Original aus dem 6. Jahrhundert vor Christus wurde uns letztes Jahr im Rahmen einer Führung vorgestellt. Mitarbeiter des Museums haben Repliken des Originals erstellt, die wir mit Ton abgeformt und anschließend mit Gips ausgegossen haben. Nach dem Trocknen habe ich die Maske mit Aquarellfarben bemalt."


Blinde Künstler haben zumeist ein gutes Formgefühl

Große abstrakte Formen gestaltet Helene Wenzel aus Speckstein. Beim Betrachten und Ertasten der gewölbten Flächen und Kanten wird das ausgesprochen gute Formgefühl der blinden Künstlerin deutlich. Sehr reduziert sind maskenartige Gesichter in den Stein eingearbeitet, so zum Beispiel bei der Skulptur "Geist des Blattes". "Es ist immer wieder faszinierend, was aus einem rohen Stein alles entstehen kann. Ich liebe gerade diesen offenen, unbestimmten Gestaltungsprozess. Die Arbeit mit dem weichen, handfreundlichen Stein macht mir große Freude, sonst würde ich nicht schon 24 Jahre lang regelmäßig hierher kommen."


Ausstellung auf Kulturfestival

Die Skulpturen von Helene Wenzel, Sascha Hübner und weiteren Mitgliedern der "Werkstatt-Galerie 37" wurden im vergangenen Jahr auf dem Louis-Braille-Festival der Begegnung im Berliner Tempodrom ausgestellt. Der Schwerpunkt dieses großen Kulturfestivals lag 2012 auf der Präsentation künstlerischer Arbeiten blinder und sehbehinderter Kunstschaffender aus ganz Europa. "Auch unser Specksteinworkshop war den ganzen Tag über gut besucht" berichtet Angelica Eby. "Es war schön zu erleben, wie stolz die Besucher auf ihr erstes kleines Kunstwerk aus Speckstein waren". Wer das Gestalten mit Speckstein für sich als Hobby entdecken möchte, kann in der " Werkstatt-Galerie 37" an einem vierwöchigen kostenlosen "Schnupperangebot" teilnehmen. Die anschließende Mitgliedschaft in der "Werkstatt-Galerie 37" kostet 25 Euro monatlich zuzüglich der Materialkosten (Ermäßigung möglich). Das Angebot der "offenen Werkstatt" richtet sich an blinde und sehbehinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene ab acht Jahren sowie deren sehende Angehörige, Begleitpersonen und Freunde. Ein Einstieg ist jederzeit möglich. Vorkenntnisse sind keine erforderlich.


KONTAKT

Frankfurter Stiftung für Blinde und Sehbehinderte - Werkstatt-Galerie 37 - Heike-Marei Heß TeI.: 069 955124-0 hess@sbs-frankfurt.de www.sbs-frankfurt.de

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Quelle:
Selbsthilfe 1/2013, S. 26-27
Zeitschrift der BAG SELBSTHILFE e.V.
Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe
von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung
und ihren Angehörigen e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2013