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FRAGEN/197: Filmemacher Jürgen J. Köster - »Es spielt keine Rolle, wer was hat oder nicht hat« (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 03/19, 2019
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

»Es spielt keine Rolle, wer was hat oder nicht hat«
Ein Gespräch mit dem inklusiven Filmemacher Jürgen J. Köster

von Marie Schmetz


SP: Ihr aktueller Film heißt »Mae goes away. Etwas Besseres als deinen Mann findest du überall«. Worum geht es?

Jürgen J. Köster: »Mae goes away« ist ein Roadmovie, in dem eine Frau mit dem Imbisswagen vor ihrem omnipotenten und äußerst hartnäckigen Mann und dessen ergebenem Assistenten Horst flüchtet. Unterwegs trifft Mae auf zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ihr während der Flucht zur Seite stehen. Das Ganze ist ein Spielfilmprojekt der Initiative zur sozialen Rehabilitation, das von der Aktion Mensch finanziell unterstützt und von uns, den »compagnons cooperative inklusiver film«, realisiert wurde.

SP: Die »compagnons cooperative inklusiver film« machen inklusive Filme, und zwar auf allen Ebenen der Produktion. Was bedeutet das?

J.K.: Das beginnt mit dem Schreiben des Drehbuches, anschließend führen die Autoren und Autorinnen mit mir gemeinsam das Casting durch. Dabei geht es um Positionen vor und hinter der Kamera. Die Mitwirkenden hinter der Kamera arbeiten mit der Produktionsleitung zusammen und wirken in der Drehphase z.B. als Kamera-, Licht- oder Regieassistenz oder im Bereich Fotografie, Organisation, Skript, Maske und Öffentlichkeitsarbeit mit. Auch die Präsentation in den Kinos wird immer gemeinsam durchgeführt. Entscheidend ist, dass alle Aufgaben auf die Fähigkeiten bzw. fachlichen und persönlichen Erfahrungen der Mitwirkenden zugeschnitten werden, also z.B. Vorerfahrungen mit der Kamera, Organisationstalent. Darüber hinaus bitten wir darum freiwillig zu äußern, auf welche Dinge wir zu achten haben. Die zentrale Fragestellung dabei ist immer: Was müssen wir tun, und was kannst du tun, damit du gut arbeiten kannst? Grundsätzlich bedeutet Inklusion, Strukturen, Inhalte und Methoden so anzupassen, dass alle Mitwirkenden sich emotional, intellektuell und sozial angesprochen fühlen.

SP: Was sind die besonderen Herausforderungen und Chancen, die diese Art des Filmemachens mit sich bringt?

J.K.: Neben den Herausforderungen und Chancen, die jeder Filmarbeit innewohnen, zeichnet sich meine Arbeit vor allem dadurch aus, dass ich mit besonders heterogenen und multikulturellen Gruppen zu tun habe. Einerseits gibt es die Regie und die professionellen Kameraleute, andererseits die Schauspieler und Schauspielerinnen mit und ohne psychische Erkrankung oder Behinderung. Anspruchsvoll dabei ist, die Mitwirkenden nicht chronisch zu über- oder zu unterfordern oder zu verwirren.

Fundamental für meine Filmarbeit sind einige Bausteine der EX-IN-Ausbildung: z.B. sich durch die Erfahrungen mit der Filmarbeit zu empowern, Recovery im Sinne von Wiedererstarken, Erfahrungswissen nutzen und Teilhabe auf Grundlage des fähigkeitsorientierten humanistischen Menschenbildes. Entscheidend ist, eine angstfreie, vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen.

Die Chancen unserer Arbeit liegen darin, dass alle Mitwirkenden am gesamten Prozess der Filmarbeit vom Drehbuch bis zur Präsentation teilhaben. Dabei erleben sie sich zugleich als Individuum und als Gruppe, und sie erkennen, dass sie etwas können und sie nicht über ihre Diagnose identifiziert werden. Außerdem merken sie, dass sie auch willkommen sind, wenn sie etwas nicht schaffen. Dabei verstehen wir uns nicht als therapeutisches Angebot, sondern legen Wert darauf, filmisch technisch und inhaltlich professionell zu arbeiten. Es wäre für die Beteiligten eher enttäuschend, wenn unsere Produktionen laienhaft rüberkommen würden.

SP: Wieso ist Ihnen persönlich der inklusive Ansatz wichtig?

J.K.: Ich arbeite seit 1989 im Bereich inklusiver Dokumentar- und Spielfilme, obwohl 1989 von Inklusion noch niemand gesprochen hat. Mich hat es immer schon gestört, wie Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung medial dargestellt werden. Das ist schon sehr bitter, wenn Medien es einfach nicht lassen können und zum Teil sehr stigmatisierend vorgehen - dies nicht unbedingt mit Absicht, aber sicherlich aus einer gewissen Oberflächlichkeit heraus. Für die Betroffenen ist es oft schwierig zu verstehen, was da passiert; einerseits haben sie ihre Erkrankung oder Behinderung, andererseits werden sie dafür auch noch durch Stigmatisierung bestraft. Umgekehrt sehe ich durch unsere Filmarbeit das Glück in den Augen der Menschen, die bei uns mitwirken.

Ein weiterer Antrieb ist die Erkenntnis, dass unsere Arbeit zur Genesung beitragen kann, weil positive Gefühle, z.B. ausgelöst durch die Bewältigung eines Konflikts im Team oder durch die Bearbeitung einer Szene, heilend wirken. Dabei erhöht sich häufig auch die Toleranz gegenüber der eigenen Krankheit oder Behinderung. Gleichzeitig verändern sich die Menschen ohne psychische Erkrankung und Behinderung ebenfalls, und durch die gemeinsame Arbeit entwickeln sich Beziehungen mit einer neuen Qualität, die sich nicht über die Erkrankung oder Behinderung definieren. Tatsächlich ist es so, dass es in der Gruppe schon nach kurzer Zeit überhaupt keine Rolle mehr spielt, wer was hat oder nicht hat.

SP: Ilse Eichenbrenner schreibt für unsere Rubrik »Im Kino«. Sie ist von einigen Ihrer Protagonisten total begeistert. Wo finden Sie Akteure mit einer so überzeugenden Präsenz, und wie halten Sie sie?

J.K.: So ein Kompliment freut mich und uns natürlich sehr. Die Proben sind ein Schwerpunkt unserer Arbeit. Ziel ist es, dass die Laienschauspieler die Rolle verinnerlichen, wobei wir die Rollen den Akteuren und Akteurinnen anpassen und umgekehrt. Das Wichtigste dabei ist, die Kamera komplett zu vergessen. Das geht nur, wenn die Akteure gut an die Kamera gewöhnt sind. Schon ein minimales Kokettieren mit der Kamera führt zu einer unauthentischen Spielweise. Ein weiterer Grund für die Qualität unserer Projekte ist vermutlich die intensive Arbeit an und mit der Rollenbiografie. Die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen bewerben sich immer wieder, weil der inklusive Kontext in dieser Hinsicht sehr reizvoll ist. So kommt es, dass sich regelmäßig ca. 150 Menschen mit und ohne Handicap für unsere Filmprojekte interessieren. Ich weise aber darauf hin, dass es auch möglich ist, sich bei anderen Filmproduktionen zu bewerben.

SP: Wie finanzieren Sie Ihre Projekte? Nutzen Sie Leistungen der beruflichen Eingliederung oder Eingliederungshilfe?

J.K.: Die Hürden für die Eingliederungshilfen sind für uns zu hoch, und wir fordern, dass es in Zukunft einfacher sein sollte, diese Unterstützung für unsere Projekte zu bekommen.

Ich arbeite seit Jahren sehr gut mit der Initiative zur sozialen Rehabilitation zusammen. Für die Spielfilmprojekte stellen wir gemeinsam Anträge bei der Aktion Mensch. Im Bereich der Filmförderungsgesellschaften haben wir hingegen kaum Chancen, das empfinden wir als äußerst diskriminierend. Die Dokumentarfilme wiederum wurden und werden, je nach Thema, von verschiedenen Förderungen unterstützt, z.B. durch Filmbüro Bremen oder die EU.

Außerdem finanzieren wir uns durch unsere Videopräsentationen für mittelständische und psychosoziale Einrichtungen. Darüber hinaus zeichnen wir Konzerte, Tagungen und Theaterstücke auf und führen Interviews durch. Manchmal machen wir auch Familienfilme, dokumentieren Hochzeiten oder Biografien.

Unser Ansatz, Filmkonzepte auf Grundlage des Erfahrungswissens der Kunden zu entwickeln, hilft uns dabei. Die Ergebnisse kommen jedenfalls gut an. Zudem haben wir einen inklusiven eintägigen Workshop zur Praxis der inklusiven Arbeit entwickelt.

SP: Sie sind Pädagoge. Wie sind Sie eigentlich zum Filmemachen gekommen?

J.K.: Im Rahmen meiner Ausbildung zum Pädagogen habe ich filmspezifische Seminare in Frankreich und Deutschland besucht. Als dann die psychiatrische Anstalt Blankenburg aufgelöst wurde, zogen die sogenannten Blankenburger nach Bremen zurück. Ich hatte die Aufgabe, mit ihnen ein Café aufzubauen. Doch die Neubremer entzogen sich durch Rückzug und fanden es schließlich viel besser, Filme zu machen. So entstand unser erster Film »Aufgetaut«.

Weil er sehr erfolgreich war, haben wir 1989 »Radio Parkstrasse« gegründet und unter diesem Namen Filmarbeit als Haupttätigkeit in einer Tagesstätte durchgeführt. Das Selbstbewusstsein der Mitwirkenden steigerte sich immens, da sie über diese Tätigkeit mehr und mehr gesellschaftlich eingebunden wurden und ihre Fähigkeiten darstellen konnten.

Um unsere inklusive Arbeit zu betonen und eine weitere Professionalisierung zu erreichen, haben wir 2011 die »compagnons cooperative inklusiver film« gegründet. Daraus ist auch unser Interviewmagazin »Bremen 2 Go« entstanden. Hier geht es darum, Menschen inner- und außerhalb von Bremen zu verschiedenen Themen zu interviewen. Hierdurch wollen wir erreichen, Isolation zu überwinden und politisch aktiv zu werden. Auch bei »Bremen 2 Go« ist die Redaktion inklusiv zusammengesetzt und bestimmt die Themen. Die Beiträge werden regelmäßig auf unserem YouTube-Kanal »compagnons-ifilm« veröffentlicht.

SP: Und wo kann man Ihre anderen Filme sehen?

J.K.: Unser zweiter inklusiver Spielfilm »Apostel und Partner« lief bundesweit in ca. zehn Kinos und wurde in ARD alpha und Weser TV ausgestrahlt. »Mae goes away«, unser aktueller Film, lief in mehreren Kinos, z.B. in Bremen und Berlin. Die Bewerbungen bei Fernsehsendern und weiteren Kinos laufen gerade. Außerdem zeigen wir die Filme in psychosozialen Einrichtungen und Kulturzentren.

Die Filme sind aber auch als DVD zu einem Preis von je 12 Euro erhältlich. Sie können via compagnons@gmx.de bestellt und per Nachnahme bezahlt werden. Ausschnitte unserer Produktionen können sich Interessierte auf unserer Website www.compagnons-film.com ansehen.

SP: Vielen Dank für das Interview!


Jürgen J. Köster

Projektkoordination und Regie
www.compagnons-film.com

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 165 - Heft 03/19, 2019, Seite 27 - 28
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2019

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