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FRAGEN/196: Able to Love (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 138, 4/16

Able to Love

Menschen mit Behinderungen und Sexualität

von Leonie Munk


Über die letzten Jahrzehnte wurden sexuelle Rechte Teil der öffentlichen Debatte. Dennoch bleibt Sexualität im Zusammenhang mit Behinderung ein Tabuthema ohne öffentliches Bewusstsein. Anstatt grenzenlos und vereinigend zu sein, kann Liebe für Menschen mit Behinderungen ein isolierendes Erlebnis darstellen. Während Menschen mit Behinderungen oft niemanden kennen an den oder die sie sich wenden und Fragen stellen können, wissen nicht-Beeinträchtigte oft nicht wie sie sich gegenüber beeinträchtigten Menschen verhalten und mit ihnen kommunizieren können. Emily Rose Yates ist Rollstuhlnutzerin. In ihrer Tätigkeit als Sprecherin für Menschen mit Behinderungen und Gutachterin im Bereich der Barrierefreiheit ist sie auf der Mission den "Angst-Faktor" rund um Behinderung zu reduzieren und Integration in alle Aspekte des Lebens voranzutreiben. Leonie Munk hatte die Möglichkeit mit Emily über Behinderung im Zusammenhang mit Liebe und ihre Arbeit gegen Vorurteile zu sprechen.


Zu welchem Zeitpunkt hast du bemerkt, dass du "anders" bist und dass auch die Art und Weise wie du Beziehungen eingehst "anders" sein würde?

Emily Rose Yates (ERY): Im Alter von elf war ich überaus gebildet, beliebt in der Schule und wurde erfreulicherweise nie schikaniert. Zudem hatte ich ein gutes Verhältnis mit den Jungs in meiner Klasse. Sie haben sich gerne neben mich gesetzt, Mitschriften verglichen und wollten mit mir befreundet sein. Trotzdem ist es nie so weit gekommen, dass mich einer von ihnen als feste Freundin sehen wollte. Vielleicht weil ich ein burschikoses Mädchen war, blieb ich in der "friendzone". Ich habe das geliebt, denn es hat meine Zeit in der Schule wundervoll gemacht, aber mit 14 oder 15 Jahren schlich sich langsam Frustration ein. Ich habe bemerkt, dass ich in einem anderen Licht gesehen wurde.

Über manche Themen im Zusammenhang mit Behinderung - wie zum Beispiel Barrierefreiheit - wird gesprochen. Allerdings gibt es keine Konversation über Behinderung und Liebe. Warum?

ERY: Der Diskurs über Behinderung ist um zwei Gebiete arrangiert. Vereinfacht gesagt ist einer dieser Gebiete Barrierefreiheit, die sich mit physischer Zugänglichkeit von beispielsweise Rampen für Rollstuhlfahrer_innen, erreichbaren Parkplätzen, Blindenführhunden und ähnlichem beschäftigt. Der zweite Diskurs ist, was ich als soziale Barrierefreiheit bezeichnen würde. Dieses Gebiet umfasst Themen wie das Reden über Liebe und Behinderung oder über unsere Einstellungen gegenüber bzw. welche Begriffe wir verwenden um Menschen mit Behinderungen zu umschreiben. Viele Menschen sind zurückhaltend und machen sich Sorgen darüber, beleidigend oder bevormundend zu wirken. Dadurch wird schlussendlich gar nicht kommuniziert und die Situation ignoriert, weil man glaubt, das sei der höflichste Weg, obwohl das nicht immer der Fall ist! Ich glaube, das liegt teilweise daran, dass jene von uns mit Behinderungen nicht in der Öffentlichkeit und in den Medien präsent sind, wir nicht über unsere intimen Leben reden, und immer noch nicht als attraktive und sexuelle Wesen wahrgenommen werden. Und sogar darüber hinaus, auch nicht als Menschen die Träume haben, etwas erreichen oder erfolgreich sein können gesehen werden.

Du hast viel Zeit in Brasilien verbracht, ein Land das als eine aufstrebende nationale Ökonomie eingestuft wird. Überdies bist du auch durch die Vereinigten Staaten, Südafrika und Südostasien gereist. Wie unterscheidet sich der soziale und physische Zugang zwischen diesen anderen geographischen und sozio-ökonomischen Kontexten?

ERY: Im Allgemeinen sind "industrialisierte Staaten" sehr gut darin, physische Barrierefreiheit herzustellen. Der Vergleich dieser Situation mit beispielsweise Rio, zeigt gewaltige Unterschiede auf. Andererseits fühle ich mich in Rio wie die attraktivste Person der Welt, weil die soziale Barrierefreiheit großartig ist. Die Leute halten sich nicht so zurück, wie sie das in Europa machen. Wenn ich eine Straße überquere und mich abmühe, muss ich tatsächlich nicht länger als 20 Sekunden warten bis jemand kommt und mir hilft. Diese Barriere des Hinterfragens, ob man das Richtige macht bzw. ob was man tut angemessen oder bevormundend ist, existiert dort nicht. Das ist so einfach und erfrischend, wie es sein sollte und es ist fast so als hätten wir hier alles etwas verkompliziert.

Wie können Menschen mit Behinderungen dabei unterstützt werden, Selbstbewusstsein zu entwickeln und raus zu gehen, sich eine Beziehung aufzubauen, zu lieben und geliebt zu werden und diese soziale Barrierefreiheit zu erleben?

Bevor man jemanden als potentielle_n Partner_in sehen kann, muss man ihn oder sie als menschliches Wesen wahrnehmen. Potentielle Partner_innen in der Liebe müssen den schmalen Grad zwischen dem komfortablen Umgang mit der Behinderung und der übertriebenen Fokussierung auf die Behinderung als Mittelpunkt der Beziehung finden. Ich glaube diese Fähigkeit kann durch eine Bewusstseinsschulung im Umgang mit Menschen mit Behinderungen und durch direkte oder indirekte Erfahrungen mit jemand, der/die eine Behinderung hat, erreicht werden. Allerdings, wenn Menschen mit Behinderungen nicht an der Gesellschaft teilnehmen, wird das schwieriger. Es ist wirklich ein Teufelskreis. Um Interaktion zu ermöglichen muss es mehr Repräsentation von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Raum und in den Medien geben. Ich finde außerdem, dass es eine Pflicht für Menschen mit Behinderungen ist, ihre Beeinträchtigungen zu besprechen, weil andere nicht sofort alles über sie wissen können. Viele Menschen mit Behinderungen haben schlechte Erfahrungen und ihre Frustration hat sie zu sehr abgeschotteten Menschen gemacht. Aber wenn sie keine Atmosphäre des Bewusstseins schaffen und ein positives Bild rund um Behinderungen erzeugen, wer wird es sonst machen?

Die vor kurzem beschlossenen Ziele für nachhaltige Entwicklung erwähnen eigens Behinderungen in Bezug auf Gesundheit, Bildung und Urbanisierung. Wenn wir darüber sprechen, Bewusstsein zu bilden und Barrieren abzubauen, ist es dann deiner Meinung nach förderlich in internationalen Vereinbarungen so spezifisch auf Behinderungen hinzuweisen oder heben wir dadurch die Trennungslinien deutlicher heraus?

ERY: In einer idealen Welt wäre es das Wichtigste, Integration von allen, ungeachtet welches Alter, Gender, Sexualität, Hautfarbe, Grad an Beeinträchtigung oder Religion, zu ermöglichen. In der Realität ist der Grund dafür, warum Behinderung immer noch spezifisch genannt wird, dass die Gesellschaft immer ein neues angesagtes Thema zum Besprechen braucht. Wir kümmern uns um ein paar Probleme für eine bestimmte Zeit - sei es Gender, "Rasse", Sexualität oder Behinderung - und forcieren alle Ressourcen darauf Integration für die ausgewählte Gruppe zu bereiten. Momentan ist Behinderung dran. Es muss darüber gesprochen werden, weil die Dinge noch nicht so sind wie sie schon sein sollten. Ich empfinde es aber als problematisch, dass durch das Setzen von Zielen und die Versuche diese Vorsätze zu erreichen, der Fokus sich oft zu sehr auf diese Ziele bewegt, anstatt auf die Wichtigkeit der Reise dorthin.

Deine Arbeit erfordert Tapferkeit, Beharrlichkeit, Entschlossenheit und Selbstbewusstsein. Woher kommt deine Motivation?

ERY: Zu allererst habe ich das Gefühl, dazu verpflichtet zu sein, weil ich weiß, dass ich glücklicherweise eine laute Stimme innerhalb der Gemeinschaft habe. Ich bin dazu fähig Meinungen zu ändern und gehört zu werden. Es gibt keine bessere Motivation, als zu sehen, dass was du tust die Leben von Menschen, ihre Meinungen und Sichtweisen ändert.


Zur Interviewten: Emily Rose Yates ist eine Gutachterin für Barrierefreiheit, Reiseautorin und Fernsehmoderatorin, die vor kurzer Zeit einen Lonely Planet Reiseführer zum barrierefreien Rio de Janeiro verfasst hat, nachdem sie als Beraterin für die barrierefreie Intergration des städtischen U-Bahn-Transportsystems, MetroRio tätig war. Darüber hinaus arbeitet sie einerseits für Enhance the UK, eine Charityorganisation zur Bewusstseinsbildung im Bereich von Behinderungen, die sich für integrative Sexualerziehung einsetzt und andererseits an ihrer neuen BBC3 Dokumentation "Meet the Devotees", die sich mit den Tabus von Sexualität und Behinderung auseinandersetzt. Diesen Oktober begann Emily ein Doktoratsstudium in Women's Studies an der University of York. Sie hofft, auch als Rollstuhlnutzerin, jegliche Einschränkungen für die gesamte Gemeinschaft von Menschen mit Behinderungen abzubauen.


Interview von Leonie Munk. Dieser Artikel erschien erstmals auf Englisch in Digital Development Debates (www.digital-development-debates.org). Hier handelt es sich um eine leicht gekürzte Fassung.

Übersetzung aus dem Englischen: Verena Kowatsch

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 138, 4/2016, S. 15-16
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2017

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